14.08.1999
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Direkte Demokratie in Gliedstaaten der USA In der Geschichte der Demokratie in den USA und der Schweiz haben
sich immer wieder Reformbewegungen im einen Land von Erfahrungen des
anderen inspirieren lassen. Während die Idee des Referendums aus
den USA über Frankreich die Demokratiebewegungen in den
fortschrittlichsten Schweizer Kantonen im 19. Jahrhundert zweimal
beflügelte, orientierten sich vor 100 Jahren die Demokratiereformer
in den westlichen Gliedstaaten der USA vor allem an den
schweizerischen Erfahrungen mit der Volksinitiative und dem
Referendum. Im Januar 1894 lag im Briefkasten der Redaktion der
Zürcher «Arbeiterstimme» ein Brief aus Portland, Oregon. Darin
berichtet der ausgewanderte Schweizer Bosshard, es sei «im Staate
Oregon, an der Küste des Stillen Ozeans, eine starke Volksbewegung
im Gange zur Einführung des Initiativ- und Referendumsrechtes in
der Verfassung dieses US-Bundesstaates», und bittet um
Erfahrungsberichte der Zürcher Demokraten, die 25 Jahre zuvor eine
ähnliche Verfassungsrevision durchgesetzt hatten. Gerne kam der
Redaktor in Zürich dem Gesuch aus der Ferne um intellektuellen
Beistand nach, nicht ohne seine Freude mit seinen Lesern zu teilen
und den Satz ins Blatt zu rücken: «Es erfüllt uns mit Stolz und
Freude, zu sehen, wie die herrliche Idee der direkten Gesetzgebung
durch das Volk die Welt erobert.»
Globalisierte Politik vor 100 Jahren
Wir wissen nicht, was der Ex-Schweizer, Neoamerikaner und «Arbeiterpolitiker»
Bosshard mit seinen Unterlagen aus Zürich in Oregon schliesslich
bewerkstelligen konnte. Verbürgt ist hingegen, dass Tausende von
Amerikanern sich Anfang der 1890er Jahre für die schweizerischen
Erfahrungen mit der Direkten Demokratie interessierten und sich mit
ihnen eingehend auseinandersetzten. Da nicht alle wie Bosshard über
persönliche Kontakte zur Schweiz verfügten, taten sie es vor
allem über kleine, aber sehr populäre Bücher und Schriften. Eines
der damals populärsten Bücher zur Demokratiereform war dasjenige
des New Yorker Journalisten, Sozialreformers und Radikaldemokraten
John W. Sullivan. Sullivan war Ende der 1880er Jahre extra in die
Schweiz gereist und hatte auch in Zürich einige Monate «recherchiert»,
bevor er 1889 und 1890 eine Serie von Artikeln publizierte, die 1893
gesammelt im Büchlein «Direct Legislation by the Citizenship
through the Initiative und Referendum» erschienen. Sullivan
informierte sich in Zürich vor allem beim sozialdemokratischen
Pionier und Veteranen der hiesigen Demokratiebewegung von 1867 bis
1869, Karl Bürkli (1825-1901). Der Beleg: Wer heute in der Zürcher
Zentralbibliothek Sullivans Schrift begehrt, bekommt aus der alten
Bibliothek Bürklis und des Schweizerischen Arbeitersekretariats,
dessen erster Sekretär der «politische Schüler» Bürklis,
Nationalrat Herman Greulich (1842-1925), war, das Exemplar, das
Sullivan Bürkli geschenkt und mit Dank für die fruchtbaren
Gespräche gewidmet hat.
Instrument für die Allgemeininteressen
Weshalb gab es aber überhaupt dieses Interesse an einer Demokratiereform in den westlichen Staaten der USA? Weshalb bemühten sich vor 100 Jahren so viele Amerikaner im Rahmen des eher ländlichen «Populist-movement» der 1890er und des eher städtisch-intellektuellen «Progressive-movement» nach der Jahrhundertwende um die Erweiterung und Ergänzung der repräsentativen, indirekten Demokratie? Weshalb gelang es ihnen, von 1898 (South Dakota) bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1918, Massachusetts und Washington) in insgesamt 19 überwiegend westlichen US-Gliedstaaten die Volksrechte (Initiative, Referendum und das Recht zur Abwahl gewählter Mandatare) durchzusetzen? Seither haben nur fünf weitere US-Staaten die direkte Demokratie eingeführt, entsprechende Bemühungen für entsprechende nationale Verfassungsrevisionen blieben bis heute erfolglos. J. N. Teal, Journalist in Oregon, dem dritten US-Gliedstaat, der die Volksrechte in seiner Verfassung verankerte, erklärte die entsprechenden sozialen und politischen Hintergründe im Rückblick folgendermassen: «Es war fast überall im Land das gleiche: Die Menschen spürten, dass die Politik immer abgehobener funktionierte, und sie wollten mehr direkten Einfluss, sowohl was die Ausarbeitung der Gesetze betrifft als auch deren Durchsetzung. Noch entscheidender mag die Erfahrung gewesen sein, dass die Parlamente offensichtlich nicht in der Lage waren, dem Willen der Menschen nach Gesetzen zu entsprechen, die Allgemeininteressen auch gegen mächtige Unternehmungen durchsetzen konnten. Verfilzte Parlamente unter, der Kontrolle dieser Unternehmungen waren eher die Regel als die Ausnahme, und die Bürger hatten die willfährige Gesetzgebung nach deren Wünschen satt. Regierung und Parlamente waren für mächtige Sonderinteressen zugänglicher als für öffentliche und allgemeine Interessen. So verlangten die Menschen nach Instrumenten, welche dies ändern könnten und ihren Wünschen Nachdruck und Gehör verschaffen würden.» Ähnliche Motive in Oregon und Zürich Besonders bemerkenswert an dieser Begründung aus Oregon ist ihre Ähnlichkeit mit der Art, wie die Demokraten im Kanton Zürich ihre mächtige Volksbewegung erklärten, die zwischen 1867 und 1869 den Liberalen um den Bank- und Eisenbahnpionier Alfred Escher die letzte Totalrevision der Kantonsverfassung abtrotzte und die damals direkteste Demokratieform der Welt durchsetzte. Karl Bürkli hatte zum Auftakt dieser Volksbewegung, am 15. Dezember 1867, die Notwendigkeit der direkten Demokratie wie folgt begründet: «Das System hat schon lange unsere Regierung nur den Schul- oder Paradeschritt, bei dem man nicht vorwärts kommt, machen lassen. (...) Unter System verstehe ich den verderblichen Einfluss der Interessenwirtschaft, voran die Nordostbahn als Hauptquartier, die Kreditanstalt, viele grosse Industrielle ... Das System, wie die Cholera, ist nicht mit den Händen zu greifen, aber man spürt es in allen Gliedern ... Jetzt kann die aufstrebende Geldaristokratie nur dann in Schranken gehalten werden, wenn man den Schwerpunkt der Gesetzgebung weiter hinaus, ins ganze Volk, verlegt; denn die paar hundert Kantonsräte, das heisst die Repräsentativdemokratie, sind nicht mächtig genug, der Korruption zu widerstehen.» Nachdem die neuen Volksrechte 1902 einmal beschlossen worden waren, machten die Bürger in Oregon davon viel regeren Gebrauch als in der Schweiz: Bis 1910 wurden in Oregon 64 Vorlagen angenommen und 33 verworfen, in der Schweiz wurde von 1891 bis 1910 nur über je zehn Initiativ- und Referendumsvorlagen befunden. Mittel gegen die Oligarchie Eine der ersten Konsequenzen der Einführung der Volksrechte war für einen der Hauptverantwortlichen für die Demokratiereform in Oregon, W.S.U'Ren, im Parlament sofort zu erkennen: «Die Zahl der bezahlten Lobbyisten, welche die Parlamentarier belagerten, nahm schlagartig ab, ebenso die Vorwürfe, Gesetzesänderungen seien im Parlament nur Geldzahlungen interessierter Kreise wegen erfolgt. Es wurde von allen eingestanden, dass solche korrupten Vorgänge deswegen nicht mehr erfolgten, weil diese Leute der Überzeugung waren, dass gegen derart zustandegekommene Gesetze sofort das Referendum ergriffen würde.» Und der Wissenschafter Allen H. Eaton bilanziert die ersten Erfahrungen mit dem «Oregon System», wie die direkte Demokratie einige Zeit hiess, zehn Jahre nach deren Einführung: «Das allgemeine Interesse des Bürgers an der Politik ist gewachsen. Viele Vereine setzen sich jetzt sorgfältig mit den Volksrechten auseinander. Die Presse berichtet viel intensiver über gute Ideen im Interesse aller. Es ist eindeutig auch ein höheres Verantwortungsbewusstsein vieler für die politischen Entscheidungen festzustellen.» Zwei Schwachpunkte der direkten Demokratie sieht Eaton schon 1912 aber auch: «Das Volk nimmt auch Gesetze an, die nicht in seinem Interesse sind und nicht seinen Überzeugungen entsprechen. Es liess sich von Männern verführen, denen es zu sehr vertraute. Teilweise fiel die direkte Demokratie auch in die Hand von Männern, die unehrlich sind und für Geld die Güte der direkten Demokratie missbrauchen.» «Populistische Perversion» Bis heute wird in Oregon die direkte Demokratie in den USA am intensivsten genutzt. Oregon am nächsten kommt Kalifornien, der grösste Gliedstaat der USA und ebenfalls am Pazifik gelegen. Hier ist nun allerdings eine Entwicklung im Gang, die einige Experten von einem «populistischen Paradox» oder gar einer «populistischen Perversion» sprechen lässt: Das Geld, mächtige Wirtschaftsinteressen und ein eigentlicher «direktdemokratisch-industrieller Komplex» - als solchen versteht der langjährige Redaktor der Hauptstadtzeitung, des «Sacramento-Bee», Peter Schrag, all die Umfragetechnologen, Medienberater, bezahlten Unterschriftensammler und PR-Beratungsfirmen, die heute im wesentlichen für «Volksinitiativen» verantwortlich sind - haben sich auch der immer intensiver praktizierten direkten Demokratie bemächtigt und dabei die anderen Organe der Demokratie, Regierung und Parlament, nach Ansicht Schrags massiv geschwächt. Während in Kalifornien zwischen 1911 und 1978 42 Volksinitiativen von den Stimmberechtigten angenommen wurden, waren es seither, in nur einem Drittel der Zeit, bereits wieder so viele. In der Schweiz ist der Gebrauch der Volksinitiative ähnlich intensiver geworden: Von 1978 bis 1998 sind dreimal so viele Volksbegehren eingereicht worden wie während der vorangegangenen 80 Jahre. Allerdings ist deren direkte Erfolgsquote etwa viermal kleiner als in Kalifornien; die Teilerfolgschancen sind freilich ähnlich. Doch ist das schweizerische Modell der direkten Demokatie heute auf viel mehr Kommunikation, Kooperation und Interaktion zwischen aktiver Bürgerschaft, interessierten Organisationen, Parteien, Parlament, Verwaltung und Regierung angelegt als in Kalifornien, wo die Konfrontation von mächtigen Interessengruppen mit dem Parlament und die antagonistischen Momente der Auseinandersetzung ausgeprägter sind. Reformbestrebungen übers Kreuz Im Lichte neuester Volksbegehren von weit rechts, welche in der
Schweiz genau diejenigen Verfahrenselemente, welche für die
kommunikative Kooperation in der direkten Demokratie wesentlich sind,
nämlich die Zeit, den Einbezug von Bundesrat und Bundesversammlung,
die Einheit von Form und Materie sowie die Gültigkeitserfordernisse
und das Gegenvorschlagsrecht, in Frage stellen beziehungsweise
abschaffen wollen, ist nun bemerkenswert, was eine prominente
Reformkommission vor wenigen Jahren in Kalifornien zur Verbesserung
der dortigen direkten Demokratie vorschlug: Das Parlament sei im
Vorfeld der Abstimmung zur Stellungnahme zur Volksinitiative
einzuladen, die Initiativtexte seien kürzer und präziser
abzufassen, es sei der Auseinandersetzung mit den Initianten mehr
Zeit einzuräumen, Fairnessregeln seien einzuführen, und die
Fristen, innerhalb deren die Unterschriften zusammenzukommen haben,
seien zu verlängern. In Kalifornien und Oregon wird also heute als
Mittel gegen die Oligarchisierung der direkten Demokratie die
Einführung jener Verfahrenselemente diskutiert, welche in der
Schweiz von nationalkonservativer und geldmächtiger Seite in Frage
gestellt werden. Es sind jene Eigenschaften, welche die öffentliche
Debatte zivilisieren, die entscheidenden Auseinandersetzungen
zwischen den staatlichen Organen und den aktiven Stimmberechtigten
erst richtig ermöglichen und dadurch die kommunikative Basis der
direkten Demokratie so ausgestalten, dass der gesellschaftliche
Lernprozess wirklich möglich wird, der beidseits des Atlantiks
immer wieder als wesentlichste Leistung der Volksrechte hervorgehoben wird.
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