25. Juli 2006
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Brüssel nach Hause holen und Brüssel besser machen
Andreas Gross, Nationalrat und Abgeordneter der Schweiz beim Europarat plädiert für ein institutionell säkulares Europa und für eine pluralistische Kultur der Religionen. Die Rolle der Kirchen liege vor allem an deren Basis – in der Unterstützung von Reflexion und zivilisiertem Dissens über das zukünftige Europa. Im Gespräch mit Elisabeth Ehrensperger führt Gross aus, weshalb er das Lobbying der Kirchen in Brüssel oder Strassburg für entbehrlich hält.
Andreas Gross, geb. 1952 in Kobe, Japan, ist Bürger von Zurzach (AG), Politikwissenschafter, Lehrbeauftragter im In- und Ausland, und Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie (ADD) in St-Ursanne. Er war Gründungsmitglied der GSoA (Gruppe für eine Schweiz ohne Armee) und von Eurotopia, der Bürgerinitiative für eine europäische Verfassung. Gross ist seit 1991 Nationalrat und derzeit Präsident der Staatspolitischen Kommission. Seit Januar 1995 ist er ein sehr aktiver Abgeordneter der Schweiz in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strassburg, und zum Spezialist für die neuen Demokratien sowie den Süd- und Nordkaukasus geworden. Das alles schlägt sich auf seiner reichhaltigen Homepage nieder.
Das Interview führte Elisabeth Ehrensperger.
Herr Gross, was ist Europa für Sie? Eine Werte-, eine Wirtschafts- oder eine politische Gemeinschaft?
Europa ist ganz eindeutig eine Wertegemeinschaft. Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft machen Europa aus – und dies auf dem Fundament des Pluralismus. Die pluralistische Begründung von Werten liegt im Wesen Europas, ebenso wie die Pluralität der Religionen. Dazu gehört eine strikte Trennung zwischen Staat und Religion. Religion ist Privatsache: Die religiöse Haltung eines jeden Individuums ist zu respektieren, und ein Individuum muss seine religiöse Haltung nicht begründen, sondern darf sie einfach haben. Der Kritik auszusetzen sind hingegen die Religionen an sich – insofern sie alle auch Ideologien sind.
An welchen Wertmassstäben, wenn nicht an jenen des christlichen Abendlandes, müsste sich eine europäische Verfassung orientieren?
An den genannten Werten, die teilweise, aber nicht ausschliesslich auch christlich begründbar und eine Folge des Einflusses christlichen Denkens sind. Europa fusst aber nicht exklusiv auf christlichen Fundamenten. Es lebt vom religiösen Pluralismus und unterschiedlichen Einflüssen von Christentum, Judentum und Islam – um nur die grössten Religionsgemeinschaften zu nennen. Aus diesen Überlegungen wehre ich mich auch gegen die Aufnahme eines Gottesbezugs in eine europäische Verfassung. Ein solcher wäre anmassend und würde der notwendigen Demut widersprechen. Wir alle können uns darum bemühen, dem Anspruch Gottes zu entsprechen, Gott zu instrumentalisieren steht uns nicht zu. Wir können danach streben, ihm gerecht zu werden; ob wir es schaffen, muss offen bleiben. Zudem impliziert ein verfassungsrechtlich verbriefter Gottesbezug immer den Ausschluss anderer Glaubensgemeinschaften. Und an Erfahrungen solcher Ausschlüsse mangelt es in Europa kaum – Auschwitz muss uns hier als entscheidendes Lehrstück dienen.
Die Wirkungsgeschichte des Protestantismus wird gerne als eine Stärkung der Demokratie im Sinne Calvins Subsidiaritätsprinzip gesehen.. Für wie bedeutend halten Sie den Zusammenhang zwischen (direkter) Demokratie, Föderalismus, Menschenrechten und Protestantismus?
Dominierend in Europa ist nicht Calvins Subsidiaritätsbegriff, sondern der katholische. Und da geht es eben vom Zentrum aus, statt umgekehrt. Deshalb ziehe ich den Föderalismusbegriff vor. Darunter verstehe ich grundsätzlich, dass die Peripherie sagt, was das Zentrum tun soll; Subsidiarität im Katholizismus hingegen bedeutet, dass das Zentrum sagt, was die Peripherie tun soll. Europa muss somit zuallererst föderalistisch aufgebaut werden, nicht subsidiär im falschen Sinn. Ein Label hingegen, das festlegt, in wessen historischer Tradition Europa steht, halte ich für unnötig bzw. für gefährlich, weil es, wie gesagt, Ausschlüsse suggeriert. Die Integration Europas muss vielmehr über die permanente Diskussion, und Partizipation realisiert werden – mit pluralistischer Begründung.
Letzten Oktober kam eine Delegation des Rates SEK mit Ihnen und weiteren Schweizer Parlamentariern in Strassburg zusammen. Dabei wurde unter anderem festgestellt, dass der Europarat die Kirchen nicht brauche – ja, sie gar oftmals als Verhinderer und Verursacher von Problemen wahrnehme. Die Ausrichtung des Europarats, so wurde seitens der Parlamentarier betont, sei dezidiert säkularer Natur. Welche Funktion kommt nun also den Religionsgemeinschaften im heutigen Europa zu? Und welche Rolle könnten dabei die Kirchen spielen?
Das sind viele Fragen und wenig Raum zur Beantwortung. Die Kirchen sollten Orte der Diskussion und Reflexion, der Bildung und Begegnung sein. Sie haben die Aufgabe, überkommene Mentalitäten zu überprüfen. In der Schweiz müssen die Kirchen die Relativität des Nationalstaates verständlich machen. Die Schweiz überschätzt sich immer noch – ist sich der schwindenden Souveränität nicht bewusst, die transnational neu konstituiert werden muss. Auf europäischer Ebene müssen die Schweizer Kirchen an der Frage mitarbeiten, welches Europa wir aufbauen wollen. Es soll dies ein Europa sein, das sich an der Menschenwürde orientiert – am Menschen als Subjekt, folglich an Demokratie und an Partizipation. Die Kirchen können diesbezüglich ihre Gemeinden zu Diskussionen an ihrer Basis anregen. So besehen kommt den Kirchen eine grossartige Aufgabe zu. Diese auf eine institutionalisierte Vertretung und Lobbying in Brüssel oder Strassburg zu reduzieren, wäre schade. Lobbying hat viel mit Marketing zu tun und ist oft das Gegenteil von Demokratie. Die Kirchen müssen Brüssel nach hause holen, um zu helfen, Brüssel besser zu machen.
Geht mit dem Stichwort Fundamentalismus auch eine desintegrative Tendenz von den Religionsgemeinschaften aus?
Selbstverständlich. Doch Fundamentalismus gibt es in allen Religionen und Ideologien. Sein Erfolg hat immer soziale Hintergründe und ist Folge der Instrumentalisierung durch Macht. Nihilismus und Zynismus sind zudem Vater und Mutter des Fundamentalismus – letzterer wird überhaupt erst möglich durch die normative Entleerung einer Gesellschaft. Sie alle verzichten auf Kommunikation, Selbstreflexion und zivilisierten Dissens. Meines Erachtens liegt dabei das Problem beim Machtopportunismus zahlreicher Regierungen. Sie haben die Demokratie als Aufgabe und Projekt aufgegeben. Das ist in den EU-Institutionen in Brüssel nicht anders als bei vielen einzelnen Staaten der Union – und ausserhalb von ihr. Freiheit wird oft als Konsumprodukt missverstanden und Demokratie auf die alle vier Jahre wiederkehrende Wahl zwischen Pepsi und Cola reduziert. Das ist der grassierende, zynische Neo-Elitismus. Ein wirklich republikanisches Demokratieverständnis ist zu einer seltenen Perle geworden und macht partiell noch die Stärke eines Teils der Schweiz aus. Demokratie war schon immer eine Utopie, und unsere Annäherung an sie ist das Ziel. Heute bewegen wir uns von diesem Ziel weg. Dagegen sollten auch die Kirchen kämpfen.
Andreas Gross
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