01.09.2002

Basler Zeitung

Demokratie auf dem Holzweg -
das Beispiel Aserbaidschan


Volksabstimmungen können auch zur Farce werden und die demokratischen Rechte des Volkes verkleinern. Dies zeigt ein Verfassungsreferendum, über das die Bevölkerung in Aserbaidschan am letzten Wochenende entscheiden musste. Nationalrat Andreas Gross, der die Abstimmung vor Ort beobachtete, berichtet exklusiv in der BaZ, was schief lief.

Der Gastautor Andreas Gross ist Zürcher SP-Nationalrat und Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie in St. Ursanne. Zudem ist Gross Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und gehört dem für Aserbaidschan zuständigen Monitoring-Team an. Als solcher beobachtete er am vergangenen Wochenende als einziger Westeuropäer das Verfassungsreferendum in Aserbaidschan.

In Baku, der Hauptstadt des südkaukasischen Ölstaates Aserbaidschan, wurde im Sommer dieses Jahres wieder einmal illustriert, wie in einer noch wenig stabilisierten Demokratie direktdemokratische Elemente pervertiert werden können: In der Hand von autoritären Regimes können aus Volksrechten Möglichkeiten werden, welche die demokratischen Rechte des Volkes mindern statt mehren.

Entscheidend für die Frage, ob und wie dies möglich ist, sind allerdings die nicht nur in Aserbaidschan äusserst prekären Bedingungen des politischen Umfelds wie die demokratische Kultur, die Stärke und Klugheit der oppositionellen Parteien sowie die Unabhängigkeit und Qualität der Medien. Wichtig ist auch der Respekt vor der Meinungsäusserungs- und Organisationsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger und die Entwicklung von deren politischer Urteilsfähigkeit. Umso bedeutsamer ist es, die seit dem Ende des sowjetischen Regimes 1991 und dem Einstieg in einen Demokratisierungsprozess möglich gewordenen Wahlen und Abstimmungen so zu gestalten, dass sie diesen Prozess voranbringen.

Das so genannte Referendum vom 24. August in Aserbaidschan könnte als Schulbeispiel in die Geschichte der Demokratisierungsversuche eingehen, wie man es nicht machen darf. Es begann damit, dass Präsident Haidar Alijew am 22. Juni von sich aus, ohne dafür vom Parlament oder einer qualifizierten Minderheit von Stimmberechtigten beauftragt worden zu sein, per Dekret entschied, dass am 24. August, also schon 63 Tage später, über nicht weniger als 39 Verfassungsänderungen abgestimmt werden soll. Vorgesehen hatte er ursprünglich nur eine einzige Ja-Nein-Stimmabgabemöglichkeit zu allen 39 Revisionsgegenständen.

Unübliches Quorum verlangt

Internationale Organisationen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Europarat monierten sofort die unzureichende Zweimonatsfrist und regten die Verschiebung des Abstimmungstermins an. Daran gab es freilich nichts zu rütteln. Wenigstens konnte das Parlament an einer Sondersitzung noch die Referendumsvorlagen diskutieren. Zugeständnisse machte der Präsident nur in Bezug auf ein differenzierteres Abstimmungsverfahren: Die 39 Revisionsgegenstände wurden in acht Abstimmungspakete aufgeteilt, zu denen die Stimmberechtigten sich gesondert äussern konnten. Die Aufteilung der 39 Verfassungsänderungen in acht Pakete ist eine politisch äusserst heikle Aufgabe, mit der in Baku nicht wie üblich das Parlament, sondern die zentrale Wahlbehörde beauftragt worden ist.

In jeder Hinsicht fatal wirkte sich allerdings vor und während dem Abstimmungstag in Baku das in liberalen Demokratien unübliche Abstimmungsquorum von 50 Prozent aus. Das bedeutet, dass das Referendum nur dann gültig ist, wenn mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten daran teilnehmen. Im 20. Jahrhundert gibt es viele Beispiele, wie schwerwiegend sich ein solches Mehrheitserfordernis auswirken kann. So stellten in der Weimarer Republik zu Beginn der 1920er Jahre obrigkeitsfreundliche Gutsherren den Stimmberechtigten Bierzelte in den Weg zur Urne, in denen sie kostenlos bewirtet und so veranlasst wurden, die Urne gar nicht mehr erreichen und so einer Volksinitiative zur Enteignung der Fürsten nicht mehr zustimmen konnten. Bei einem Abstimmungsquorum von 50 Prozent gehen nur jene Stimmberechtigten an die Urnen, welche einer Vorlage zustimmen wollen (oder sollen); denn für die Gegner ist es meist einfacher, die Stimmberechtigten von dem Urnengang abzuhalten statt sie von einer bestimmten politischen Position überzeugen zu müssen.

Der Boss kontrolliert

Diese historische Erfahrung hat sich im August in Baku vollauf bestätigt. Die aserischen Oppositionsparteien beschränkten sich auf Boykottaufrufe und Boykottdemonstrationen. Und der Präsident und die Regierung, beziehungsweise die von ihnen geprägte Mehrheitspartei, übten auf die Stimmberechtigten massiven Druck aus, weil sie fürchteten, das Quorum zu verpassen. Das Ergebnis dieser doppelt fatalen Verführung von Mehrheitspartei und Opposition wurde in Aserbaidschan vor allem am Samstagabend und während der Auszählung der Stimmzettel in der Nacht auf den Sonntag augenfällig: Staatsangestellte berichteten von Telefonanrufen, mit denen sie zum Urnengang aufgefordert wurden; sie sollten ihre Registrierungsnummer, die sie nur im Urnenlokal erfahren können, am nächsten Arbeitstag dem Chef mitteilen, anderenfalls sie mit Nachteilen zu rechnen hätten. Öffentliche Angestellte mussten sich bereit erklären, sich mit Bussen in mehrere Stimmlokale chauffieren zu lassen und mehrfach auch für Bürger zu stimmen, die in den Stimmregistern geführt werden obwohl sie seit Jahren tot sind oder landesabwesend.

Zahlreiche Ungereimtheiten

Als ich gegen den Willen des Vorsitzenden des örtlichen Abstimmungsbüros kurz vor der Schliessung der Urnen um 22 Uhr die Unterschriften in den Stimmregistern studieren wollte, erkannte ich zahlreiche äusserst ähnliche oder ganz gleiche Schriftzüge. Als die nicht ordentlich versiegelten Urnen nach dem Ende der Abstimmung zur Auszählung auf einem grossen Tisch ausgeleert wurden, waren einige dicke, verführerisch dicht und ähnlich gefalzte Zettelpakete zu erkennen. Als Beobachter, der nicht in den Zettelhaufen greifen durfte, konnte man aber nichts beweisen, weil die ebenfalls nicht freien Stimmenzähler die Zettel sofort packten und entfalteten. Kein Wunder, sprachen sich laut Angaben der aserbaidschanischen Wahlkommission landesweit schliesslich über 95 Prozent für alle Verfassungsänderungen aus, und dies bei einer Stimmbeteiligung von gegen 90 Prozent.

Nach Mitternacht sprach mich einer der wenigen Abstimmungsbeobachter einer Oppositionspartei an und bezeugte glaubhaft, dass ihm gegen Abend der Chef des Abstimmungsbüros eine beträchtliche Geldsumme angeboten hätte, wenn er bereit wäre, seine persönliche Zählung, wie viele Bürger sich im Lokal Nummer 38 von Sumgait an der Abstimmung beteiligt hätten, nach oben zu korrigieren und damit den &öaquo;offiziellen» Angaben anzugleichen oder mir später wenigstens nichts über die Diskrepanz sagen würde. Ebenso aufschlussreich ist aber auch die qualitative Analyse der in der Nachbarurne im Kulturhaus von Sumgait abgegebenen 848 gültigen Stimmzettel. Dies entspricht einer Abstimmungsbeteiligung von über 80 Prozent: 755 Stimmberechtigte warfen dort Zettel ein, auf denen alle acht Revisionspakete durchwegs bejaht wurden, bei 30 Zetteln (Boykottstrategie der Opposition!) waren überall die Nein-Kästchen angekreuzt, und nur 63 Bürgerinnen und Bürger hatten differenziert abgestimmt, also einige der acht Vorlagen befürwortet, andere abgelehnt.

Dass mit diesen knapp acht Prozent der Bürgerschaft dieses Sumgaiter Bezirks auch in Aserbaidschan eine echte Demokratie aufgebaut werden kann, zeigt sich daran, welche Vorlagen von diesen unterstützt und welche abgelehnt worden sind: So befürworteten sie die Vorlagen, welche ihnen ermöglichen, beim Verfassungsgericht jederzeit Urteile von regionalen Instanzen anzufechten; andererseits wurde die Abschaffung des Proporzelementes im Wahlverfahren zum nationalen Parlament abgelehnt. Zudem äusserten sich diese Bürger auch kritisch gegenüber dem Präsidenten: Sie lehnten die Verfassungsänderung ab, wonach der Präsident im Krankheitsfall die Amtsgeschäfte auf den von ihm abhängigen Premierminister übertragen kann. Von einer Beschränkung auf eine einfache Mehrheit bei der Präsidentenwahl (bisher: Zweidrittelmehrheit) wollten sie ebenfalls nichts wissen.

Bärendienst für die Demokratie

Fazit nach dem «Referendum» in Aserbaidschan: Die Stimmung ist noch aufgewühlter, die Opposition fühlt sich betrogen, die Regierung hat an Legitimität ein weiteres Mal verloren und die Auseinandersetzung ist noch rabiater geworden. Der Demokratie und den Erfordernissen einer demokratischen Machtausübung ebenso wie einer demokratischen Machterringung wurde ein Bärendienst erwiesen.

Andreas Gross

 

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