27.01.2001
Neue Zürcher Zeitung
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Kann sich der Europarat die Aufnahme Aserbeidschans leisten?
Ein kritischer Disput mit dem Schweizer Nationalrat Andreas Gross
Am 25. Januar ist die transkaukasische Republik Aserbeidschan zusammen mit Armenien in den Strassburger Europarat - zuständig für die Förderung von Demokratie und Menschenrechten - aufgenommen worden. Andreas Gross ist Direktor des Wissenschaftlichen Instituts für direkte Demokratie in Zürich und ist als sozialistischer Abgeordneter seit 1995 Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Er hat im November in offizieller Funktion die Parlamentswahlen in Aserbeidschan beobachtet, bei denen schwere Wahlfälschungen festgestellt wurden. Die Fragen an Andreas Gross stellte in Strassburg der NZZ-Mitarbeiter Hartmut Hausmann.
Die ursprünglich für den 9. November erwogene gemeinsame Aufnahme Aserbeidschans und Armeniens in den Europarat ist wegen der massiven Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen in Aserbeidschan am 5. November verschoben worden. Jetzt wurden die beiden Länder nur sieben Wochen später doch aufgenommen. Hat der Europarat mit dieser kurzen Schamfrist seine frühere Bedingung, nur funktionsfähige Demokratien aufzunehmen, endgültig aufgegeben?
Was ist eine funktionierende Demokratie? Im Vergleich mit allem, was Aserbeidschan jemals hatte, ist das Land heute eher eine funktionierende Demokratie als irgendwann in den letzten hundert Jahren. Und in dem Sinne kann ich sogar den aserbeidschanischen Präsidenten Alijew positiv zitieren, der zur Situation seines Landes sagte, dass die Demokratie immer einen Anfang habe, aber nie ein Ende. Wir befinden uns also in einem Prozess. Auch in Frankreich, Deutschland oder der Schweiz gibt es nicht perfekte, sondern nur unvollendete Demokratien, und der Sinn unserer Arbeit ist es, die Unvollkommenheit abzubauen.
Natürlich steckt die Demokratie in Aserbeidschan in ihren absoluten Anfängen, sie kann uns in keinerlei Weise zufrieden stellen, aber, und das ist für mich ganz im Unterschied zur Haltung der Staatsführung in der Ukraine entscheidend gewesen: Der Präsident Aserbeidschans hat in fünf Gesprächen von insgesamt sieben Stunden seinen Willen überzeugend vermitteln können, diesen Prozess voranzubringen. Und wenn das spürbar deutlich wird, verdienen die Länder unsere Unterstützung.
Wahlmanipulationen von unten
Sie selbst hatten als Leiter der Wahlbeobachterdelegation des Europarats im November von «den schlimmsten Vorkommnissen, gemessen an den bisherigen Wahlbeobachtungen», gesprochen und kamen damals zu dem Schluss, das Ergebnis habe bereits vorher festgestanden. Die Nachwahl, die ja erneut von ähnlichen Manipulationsversuchen gekennzeichnet war, kann doch die Farce nicht wettmachen.
Ich stehe zu der Aussage nach der ersten Wahl. Ich war seit 1994 in sieben Ländern bei dreizehn Wahlgängen dabei, und dies waren tatsächlich die schlimmsten Wahlfälschungen. Ich selbst habe eine Stunde vor Öffnung des Wahllokals in einem Safe 150 schon ausgefüllte, gestempelte und signierte Wahlzettel für die Regierungspartei gefunden, und den ganzen Sonntag kamen dann nur etwa 350 Bürger in dieses Wahllokal. Das heisst, es war offensichtlich schon klar, wie es ausgehen sollte. Doch der Grund für die Manipulationen waren nicht die Anordnungen der Führungsspitze, sondern der vorauseilende Gehorsam von einer mittleren und unteren Schicht von Verwaltungs- beziehungsweise Parteifunktionären, die wie in der Vergangenheit handelten und keine Vorstellung haben von einer demokratischen Kultur und nicht verstanden haben, was der neue Weg Aserbeidschans und der Wille der Verantwortlichen ist.
Selbst wenn dieser Gedanke akzeptiert wird, ist die Nachsichtigkeit in diesem Fall nicht beispielsweise gegenüber Polen ungerecht, das vor seiner Aufnahme vor etwa zehn Jahren erst noch eine zweite Parlamentswahl durchführen musste, obwohl die erste mit Sicherheit eher demokratischen Anforderungen genügte als die in Aserbeidschan?
Bei einem nur formalen Vergleich mag das zutreffen. Wir müssen bei der Entscheidung, Aserbeidschan jetzt zusammen mit Armenien aufzunehmen, aber auch das Umfeld sehen, das dort immer noch vorhandene riesige Kriegspotenzial. Die Verhinderung eines Krieges, die Verhinderung von Tausenden von Toten ist eine so entscheidende Möglichkeit, da müssen wir uns auf einen ganz schwierigen Prozess einlassen. Aber auch was die Wahlen betrifft: Die Tatsache, dass dort doch etwas Besseres möglich ist, wurde zunächst durch das Eingeständnis der obersten Wahlleitung bewiesen, dass massiv manipuliert worden sei, und dass man erstmals in einem postkommunistischen Staat bereit war, überhaupt eine Nachwahl in einigen Wahlkreisen vorzunehmen.
Kein absolutes Gütesiegel
Aber bei der Nachwahl gab es doch erneut grosse Unregelmässigkeiten.
Das Problem beim zweiten Mal war, neben einzelnen Wiederholungen von allerdings weniger umfangreichen Wahlfälschungen, die eigentliche Wahlbeteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Und da hat man Methoden angewandt, die uns seit dem 20. Jahrhundert auch bekannt sind, dass man Betriebe und Busse mobilisiert hat und die Bürger vielleicht auch noch für ein einfaches Mittagessen an die Wahlurnen geschleppt hat. Das kenne ich ja noch aus der Arbeiterbewegung in Deutschland oder der Schweiz. Dahinter aber steckte eben auch der Wille, es besser zu machen. Ich habe deshalb nach dem zweiten Wahlgang festgestellt: Wenn man will, dann kann man auch, aber es wollen eben immer noch zu wenig.
Wenn der politische Wille der Führung, etwas besser zu machen, wirklich da gewesen wäre, warum hat man dann nicht die ganze Wahl wiederholt, anstatt nur in 11 von 99 Wahlkreisen eine Nachwahl vorzunehmen? Das waren gerade nur so viele Wahlkreise, dass die im November erreichte Zweidrittelmehrheit, die den Machterhalt des Familienclans Alijew gewährleistet, nicht gefährdet wird. Somit war die Nachwahl doch eine Farce.
Eine Farce war es nicht. Allerdings gebe ich zu, anstatt 11 hätte man auch 30 oder 50 nehmen können. Wir hatten bei der Wahl im November 10 Prozent der Wahllokale beobachtet, und in diesen 10 Prozent haben wir in 80 Prozent Wahlmanipulationen festgestellt. Das heisst, die 11 Wahlkreise sind willkürlich festgesetzt worden. Vor allem ist die proportionale Seite der Wahl nicht wiederholt worden. Über die Liste wird ein Viertel der Abgeordneten gewählt. Wir hatten vor Weihnachten für eine Wiederholung auch dieser Listenwahl gekämpft, und es war auch für mich eine grosse Enttäuschung, dass man hier so wenig Flexibilität gezeigt hat.
Aber ich kann nur immer wieder auf die Grundsatzentscheidung zu Beginn der neunziger Jahre hinweisen: Die Mitgliedschaft im Europarat ist nicht ein absolutes Gütesiegel für demokratische Perfektion. Fünfzig Jahre totalitäres Regime in Ländern, die nie eine Demokratie hatten, nicht einmal in der Zwischenkriegszeit, da ist der Prozess eben noch ganz am Anfang. Auf der anderen Seite haben wir alle ein so enormes Interesse daran, dass dieser Prozess gelingt, dass es meiner Meinung nach unverantwortlich wäre, darauf zu warten, bis diese Länder einen Standard erreicht haben, der mit unserem vergleichbar ist. Wenn die Länder diese Normen schon alle erfüllen würden, die manche als Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Europarat fordern, dann würden sie uns gar nicht mehr brauchen, dann würde auch der Europarat vielleicht nicht mehr gebraucht.
Ist eine solche Balance zwischen Mindestanforderungen, erhofften Zielsetzungen und strategischen Überlegungen denn überhaupt tragfähig und nach aussen zu vermitteln?
Ich halte die Entscheidung für richtig, die Länder in den Europarat zu integrieren, wenn sie ernsthaft den Willen zeigen, den weiten Weg der Demokratisierung gemeinsam mit uns zu gehen. Das andere ist eine schulmeisterliche Konzeption, die uns vielleicht ein gutes Gewissen vermittelt, die zum einen aber die eigentliche Verpflichtung der Gründer des politischen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ausser acht lässt, die Spaltung Europas zu verhindern oder sie zu überwinden.
Zum anderen gilt es, nicht nur den Frieden in Europa, sondern auch die Lebenschancen auszugleichen. Ich will nur daran erinnern, dass die Lebenserwartung in den ärmsten Ländern Europas, in Rumänien, Russland, der Ukraine oder in Moldawien um dreissig Jahre geringer ist als bei uns. Und das ist eine unglaubliche Gewalt, die man den Kindern, die zufällig dort geboren werden, antut. Da müssen wir eine weniger puristische Konzeption von unserer Arbeit haben.
Wenn aber die massiven Wahlfälschungen, wie sie von Ihrer Delegation und der OSZE festgestellt wurden, drei Tage später im Communiqué über die Beratungen des Ministerkomitees, also der 41 Aussenminister, überhaupt nicht erwähnt werden, sind dann die gemeinsamen Werte, mit denen der Europarat einmal angetreten ist, für die Öffentlichkeit überhaupt noch erkennbar?
Damit ich nicht falsch verstanden werde, die Werte sind für mich immer noch entscheidend und sollen keinesfalls in Frage gestellt werden. Die grosse Frage ist aber, wie man ihrer Erfüllung näher kommt. Ich hatte das für einen Parlamentarier seltene Privileg, unmittelbar nach meiner Rückkehr aus Baku dem Ministerkomitee zu berichten. Das Ministerkomitee insgesamt, aber besonders Vertreter wie der niederländische Minister haben sich die Frage wirklich nicht leicht gemacht, ob Aserbeidschan aufgenommen werden sollte. Auch wenn das im Communiqué unverständlicherweise zu wenig zum Ausdruck kommt, die Minister haben noch einmal die ganze Bandbreite, darunter auch die Tatsache diskutiert, dass es offenbar politische Gefangene gibt, wobei wir uns über die Rechtmässigkeit ihrer Inhaftierung nicht sicher sind. So ist die grosse Zeitspanne zwischen dem Beschluss der Versammlung vom vergangenen Jahr, Aserbeidschan aufzunehmen, und seiner Umsetzung durch die Minister auch als Zeichen des Ringens um den richtigen Weg zu sehen.
Den Willen zum Wandel fördern
Das Argument, auf die rechtsstaatliche und demokratische Entwicklung eines Landes besser einwirken zu können, wenn es Mitglied ist, hat in einigen kleineren Staaten sicherlich positive Resultate gebracht, kann aber doch spätestens seit der Aufnahme Russlands und dessen Vorgehen in Tschetschenien nicht mehr ernsthaft eingesetzt werden. Was könnte Bakus Bereitschaft zu weiteren Reformanstrengungen jetzt noch inspirieren, nachdem die massiven Wahlmanipulationen durch die Mitgliedschaft belohnt worden sind?
Von Honorieren von Wahlfälschungen kann gar keine Rede sein. Wir haben trotz den Manipulationen den wirklichen Willen zum Wandel festgestellt, den wir stärken und unterstützen möchten. Und nun geht es darum, die Reformen mit eingehender Beratung, Begleitung und Zuarbeit durch die Fachleute im Europarat voranzubringen. Denn neben der Frage der Wahlen ist auch das ganze Justizwesen neu zu organisieren und die Rechtsstaatlichkeit überhaupt sicherzustellen. Aber auch dass Andersdenkende wichtig sind in einer Demokratie, das ist weder der Regierung noch der Opposition richtig klar. So verdient die offizielle Opposition meines Erachtens keinesfalls mehr demokratischen Kredit.
Sie sind also überzeugt, dass sich der Europarat die Aufnahme der Kaukasusrepubliken leisten kann, ohne selbst Schaden zu nehmen?
Sich leisten können hat ja im Deutschen einen doppelten Sinn, gleichsam einen materiellen und einen immateriellen. Für mich bedeutet die Bereitschaft, diese Länder aufzunehmen, die Manifestation unseres Willens, mit ihnen gemeinsam den Prozess zu beschleunigen. Und das grosse Paradox des Europarates liegt nicht im fernen Osten, sondern in der Bereitschaft vor allem der grossen Mitgliedstaaten im Europarat, diesen mit den entsprechenden Ressourcen auszustatten, weil nicht nur Russland, sondern viele andere Länder auch ein starkes Gefahrenpotenzial in sich bergen. Um diese Gefahren zu reduzieren, könnte man mit wenig Geld viel mehr ausrichten als mit den teuren Aktionen, die jetzt nach der Eskalation der Gewalt etwa auf dem Balkan finanziert werden müssen.
Der Präsident unserer Versammlung, der ja nun wirklich kein Linker ist, sondern ein behäbiger liberaler Lord aus Schottland, hat eine massive Klage gegen London und Paris - wo sinnigerweise zwei sozialdemokratische Regierungen amtieren - erhoben, weil diese nicht nur nicht mehr bezahlen möchten, sondern über jedes neue Mitglied schon deshalb froh sind, weil dadurch ihr finanzieller Anteil verringert wird. In der Schweiz habe ich schon versucht, diesen Kreislauf zu durchbrechen.
Die Frage, ob Russlands Aufnahme zum Beispiel richtig war, können wir vielleicht erst in zwanzig Jahren beantworten. Jetzt wird immer kritisiert, es habe sich nichts oder kaum etwas gebessert. Wir vergessen in der Analyse aber immer, dass es noch schlechter werden könnte, wenn Russland sich abwenden würde von uns und mit China einen antiwestlichen Block bildete oder mit Iran eine Koalition einginge. Das wären Optionen, die durch intensive Zusammenarbeit zu verhindern sind.
Andreas Gross
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