26.06.2002
Protokoll Europarat
In der Rede wird auf einen Artikel des Luxemburgischen Ministerpräsidenten bezug genommen:
Artikel Jucker in der FAZ
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Kommentare in der FAZ
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Europäische Integration
GROSS (Schweiz). - Meine Damen und Herren! Ich möchte dort weiterdenken, wo Frank Judd aufgehört hat. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass sich die europäische Integration in einer eigenartigen Situation befindet; man könnte von einem Paradoxon oder von einer Ambivalenz sprechen. Einerseits war sie noch nie so erfolgreich und noch nie so attraktiv für andere Staaten, andererseits war sie aber bei den Bürgern noch nie so nicht verankert wie heute. Es gibt eine Entfernung, eine Distanz vieler EU-Bürgerinnen und -Bürger zu Europa, die uns intensiv beschäftigen muss. Viele haben den Eindruck, dass dort, wo die Macht ist, die Demokratie noch nicht ist und dort, wo Demokratie sein sollte, die Macht nicht mehr ist.
Wenn wir das verstehen möchten, dann helfen uns die unausgeschöpften Potentiale der Geschichte des Europarates. Den Pionieren des Europarates ist es nicht so gelungen, wie sie wollten, aber sie wollten, um das Nötigste in der Politik, nämlich die Freiheit, die soziale Gerechtigkeit und den Ausgleich mit der Natur zu gewährleisten, etwas tun. Sie waren sich dessen bewusst, dass sie Souveränität auf die transnationale Ebene transferieren mussten und diese demokratisch und föderal verfasst sein muss.
Des Weiteren wollten sie mit allen Mitteln verhindern, dass Europa gespalten wird, dass es ungleiche Lebenschancen gibt zwischen jenem Teil, der auf Jalta auf der einen Seite der Barrikaden landete, und jenem, der auf der anderen Seite war. Diese beiden großen Ziele sind bis heute nicht eingelöst. 45 Jahre lang konnte man es nicht tun, seit zehn Jahren könnte man es. Das ist dringend nötig geworden, weil uns die Globalisierung noch mehr zeigt, wie relativ unsere demokratischen nationalen Möglichkeiten sind. Wir haben es noch nicht geschafft.
Die EU symbolisiert die dringende Integration und der Europarat symbolisiert die notwendige Reichweite und den Anspruch, ein gespaltenes Europa zu verhindern. Nun kann man auf diese Situation unterschiedlich reagieren: Man kann fragen, was in den nächsten zehn Jahren sein wird und wie die beiden Institutionen gemeinsam so zusammenwirken können, dass sie diesem Anspruch genügen. Man muss aber heute - und das hat eben bisher niemand getan - auch zeigen, wie diese beiden ursprünglichen Ansprüche des Europarates in den nächsten 30, 40 Jahren zusammengeführt werden können, denn kein Staat kann mehr die Demokratie national verteidigen und kein Staat kann glücklich sein, wenn Europa nicht insgesamt integriert wird. Es gibt keinen Grund, irgend jemanden nicht dabei zu haben, der dabei sein möchte.
Diese langfristige Option, diese langfristige Vision und den Weg dahin müssen wir zusätzlich zum Bericht von Herrn van der Linden, dem ich danke, auch gehen. Deshalb hoffe ich, dass diese zusätzliche Perspektive durch den Bericht von Herrn Pangalos und den Bericht von Herrn Prisacaru im September dazukommen wird. Der EU-Konvent ist heute in genau dieser Identitätskrise. Er hat sich noch nicht gefunden, er weiß noch nicht, was er tun soll. Große Visionen gehen weit auseinander und hier könnten wir einen Beitrag für die nächsten 20, 30, 40 Jahre leisten, der an das anknüpft, was unsere Stärke ausmachte, unsere Geschichte ausmachte, was bisher immer noch nicht eingelöst wurde.
Daran können wir anknüpfen und ich hoffe, dass wir das zusätzlich zum Bericht von Herrn van der Linden im September mit den beiden anderen Berichten leisten können. - Vielen Dank. (Beifall)
DER PRÄSIDENT. - Danke, Mister Gross. (Der Präsident setzt seine Ausführungen in englischer Sprache fort)
SCHLOTEN (Bundesrepublik Deutschland). - Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht des Kollegen van der Linden ist ein wichtiger Beitrag zur Neuordnung und Kooperation europäischer Institutionen. Er nimmt dabei die Diskussion des europäischen Gipfels von Laeken auf, auf dem wieder begonnen wurde, über den Beitritt der Europäischen Union zur Menschenrechtskonvention nachzudenken, auf dem aber wie in Ihrem Bericht, lieber Kollege van der Linden, auch angemahnt wurde, das Ziel der Schaffung einer kohärenten europäischen Rechtsordnung im Auge zu behalten. Erst dann, lieber Kollege Atkinson, würde ich von einem europäischen Haus sprechen. Der Europarat ist zwar ein wichtiges Dach, aber noch kein europäisches Haus. Einer der entscheidenden Anstösse, die René van der Linden gegeben hat, ist, darüber nachzudenken, wie die Finalität der europäischen Integration aussehen soll. Ich glaube, Andreas Gross hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass hier noch etwas getan werden müsse.
Ganz wichtig erscheint mir die Forderung, dass die engere Zusammenarbeit der Parlamentarier von Europarat und Europäischem Parlament zukünftig institutionalisiert werden muss, zum Beispiel in Minderheitenfragen, bei der EU-Erweiterung, beim Grenzregime und in der Kaliningrad-Frage. Hier sollten der Europarat und das Europäische Parlament zu gemeinsamen Lösungen kommen. Das Nebeneinander europäischer Organisationen muss zu einem klaren, überschaubaren und kohärenten System ineinander greifender Institutionen werden. Wir brauchen eine abgestimmte Menschenrechts- und Minderheitenpolitik, Konfliktprävention und Stabilitätsexport auch über Europa hinaus.
Was heißt es nun, über Kooperation, Arbeitsteilung und Finalität nachzudenken? - Ich möchte einige Beispiele nennen. Die meisten unserer Bürger wissen zwischen Europarat und Europäische Union nicht zu unterscheiden, geschweige denn, dass sie etwas über die OSZE, die Parlamentarische Versammlung des Europarats oder über die Parlamentarische Versammlung der NATO wissen. Wenn wir die vielen europäischen Institutionen betrachten und daran denken, dass sich die NATO nach Osten hin relativ rasch erweitert, dass Russland eine enge Kooperation mit der NATO eingeht und dass die neuen Mitgliedstaaten, aber auch Russland Mitglieder der PV der NATO sind, dann müssen wir uns fragen: Was soll in Zukunft aus der Parlamentarischen Versammlung der OSZE werden? Sollte alles so bleiben wie bisher oder sollte sie möglicherweise mit unserer Versammlung zusammengelegt werden? Darüber nachdenken darf man ja wohl.
Ich sehe überhaupt keine Gefahr für unsere Versammlung. Wir haben unsere festen Aufgaben. Das wird noch sehr lange so bleiben. Aber wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, wie die eben erwähnten Institutionen zukünftig so ineinander greifen können, dass das europäische Haus gebaut werden kann und dass wir alle einmal in guter demokratischer Nachbarschaft in verschiedenen Wohnungen, aber unter einem Dach eines europäischen Hauses mit einem klaren rechtsstaatlichen Gefüge miteinander leben können. - Vielen Dank.
HORNHUES (Bundesrepublik Deutschland). - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es heute mit einem Thema zu tun, das an sich schöner nicht sein kann.
Punkt eins. Vor rund 25 Jahren habe ich der Parlamentarischen Versammlung schon einmal angehört. Damals, in dem schönen kleinen Kreis, hätte ich mir nie träumen lassen, dass wir diese Probleme einmal in einer solch fantastisch großen Runde europäischer Demokratien zu erörtern haben. Dies ist weder Last noch Belastung, sondern eine unglaublich große Freude. Es erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit, dass wir das erleben können.
Punkt zwei. Wir müssen schauen, wie wir die Dinge im Rahmen dieses freudigen Zustandes so gut wie möglich gestalten. Ich muss dem Kollegen van der Linden herzlich für seinen weiterführenden Bericht, der uns bei der zukünftigen Gestaltung weiterhelfen wird, danken.
Wenn ich meine Kollegen im Deutschen Bundestag auf das Stichwort "Europa" anspreche, denken diese - das muss ich leider gestehen - nie an mich, in meiner Eigenschaft als Mitglied der deutschen Delegation des Europarates, sondern immer sofort an das EU-Europa. Ich muss allerdings ebenfalls gestehen, dass auch in Russland, wenn bei einem Besuch dort das Stichwort "Europa" fällt, niemand - nicht einmal trotz der Probleme in Tschetschenien - an den Europarat, sondern jeder an die Europäische Union denkt.
Die EU ist also ein Phänomen mit einem besonders gewaltigen Eigengewicht. Das hängt mit dem Willen der dort Beteiligten zusammen, sich viel weiter zu integrieren und staatliche Souveränitäten zugunsten eines gemeinsamen Körpers, den man noch nicht näher beschreiben kann, weil die Finalität noch nicht ganz klar ist, einzuschränken. Eine gemeinsame Währung und das Schengener Abkommen schaffen zum einen Probleme, eröffnen zum anderen aber auch gewaltige Perspektiven für eine gute und glücklichere Zukunft.
Wie sieht also das Problem aus, das ich versuche, meinen Kollegen klarzumachen? Ich sage ihnen: Liebe Freunde, weil wir das EU-Europa für so gewichtig erachten und es als unser großes und zentrales Anliegen ansehen, darf es sich nicht - quasi nebenher - neu einteilen, und zwar in Mitgliedstaaten, in Länder, die Mitgliedstaaten werden wollen und in Länder, die keine Mitgliedstaaten sein wollen oder können. Ein solches Europa würde neue Probleme und Risiken mit sich bringen. Weil dies für uns alle in Europa nicht gut wäre, lautet mein Plädoyer an meine eigenen Kollegen, dass wir eine gesamteuropäische Perspektive brauchen. Der zentrale Ort dafür ist für mich die Parlamentarische Versammlung des Europarates.
Eine Vertretung des Europäischen Parlaments gehört in diesen Europarat zwingend hinein, so, wie in den Rat selbst eine Vertretung der EU-Kommission hineingehört. Ich glaube, es ist notwendig, richtig und wichtig, dass wir klarmachen, dass die EU zu uns gehört. Sie ist kein Gegner oder Ähnliches, sondern sie ist Teil von uns; sie ist aus diesem Raum heraus entstanden. Wir haben nur vergessen, sie beizeiten nahe genug bei uns zu halten. Dieser Fehler muss behoben werden.
Wie kann man das erreichen? Erstens, in dem wir das aufgreifen, was René van der Linden gesagt hat. Wir müssen unseren Kollegen zu Hause sagen, worum es geht und was Sache ist. Unseren Regierungen müssen wir klarmachen, was sie tun sollten. Zweitens müssen wir das Büro bitten, allen nationalen Delegationen einen konkreten Vorschlag mitzugeben, den sie umsetzen können. In diesem muss enthalten sein, welche Beschlüsse zu fassen sind, damit wir, soweit das geht, unsere Regierungen via der nationalen Parlamente zwingen können, dafür zu sorgen, dass das, was ich gerade gesagt habe, Wirklichkeit werden kann.
Wenn das erreicht wird, werden sich sowohl die EU als auch das Dach darüber, nämlich der Europarat, in einer positiven Weiterentwicklung befinden. Diese werden eine wichtige und, so glaube ich, beinahe ewige Zukunft haben. - Danke schön. (Beifall)
Van der LINDEN (Niederlande). - Da nun der Premierminister von Luxemburg hier ist, möchte ich noch einmal erwähnen, dass wir als Europarat in der Konvention gerne über die Zukunft von Europa sprechen und dass die Zukunft Europas mehr ist als die Zukunft der Europäischen Union, wie wichtig die Europäische Union auch ist. - Ich danke schön. (Beifall)
GROSS (Schweiz). - Herr Präsident! Herr Premierminister! Ich beziehe mich auf einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom letzten August, darin haben Sie sich zur Überraschung Vieler gegen eine europäische Verfassung ausgesprochen.
Erste Frage: Sind Sie noch immer dieser Meinung? Und zweite Frage: Wenn ja, wurden Sie dabei nicht als Vertreter eines kleinen Staates zu sehr von der Hoffnung getrieben, das Vetorecht behalten zu können, obwohl Sie als Europäer doch wissen, dass das Vetorecht mit der zukünftigen Gestaltung der EU nicht mehr kompatibel ist?
DER PRÄSIDENT. - Please, Mr. Juncker.
JUNCKER (Luxemburg). - Herr Präsident! Ich bin überrascht über das, was ich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" im August gesagt haben soll. Genau das habe ich nicht geschrieben. Ich habe mich in diesem Beitrag, wenn ich mich recht entsinne, dafür ausgesprochen, dass es, falls es keine Einigung zum gesamten Themenkomplex europäische Verfassung geben sollte, wenigstens einige minimale Verfassungsartikel geben sollte, die jeder in seiner nationalen Verfassung einführen sollte, sodass wir gleichlautende Verfassungstexte in allen Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hätten. Sonst bin ich der Auffassung, dass wir eine europäische Verfassung brauchen.
Mein Hinweis in der FAZ vom August letzten Jahres war eigentlich nur für die gedacht, die nicht dieser Auffassung sind, sollte eine Piste legen, die jenen entgegenkommen könnte, die nicht prinzipiell für eine europäische Verfassung wären und die dann den Umweg über gleichlautende Verfassungsbestimmungen, die in allen nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union festzulegen wären, nehmen könnten.
Ich bin, was die Vetofrage anlangt, heiter und gelassen. Es gibt einige Bereiche, wo es ohne jeden Zweifel von Nutzen ist, wenn wir am Prinzip der Einstimmigkeit festhalten, aber auch viele andere Bereiche, wo es sinnvoller wäre, wenn wir über den Weg der Mehrheitsentscheidungen zu Beschlussfassungen kämen. Und für jene Bereiche, wo das Einstimmigkeitsprinzip noch besteht, bin ich der Auffassung, dass man das Einstimmigkeitsprinzip durch die Mehrheitsentscheidung ersetzen könnte, wenn wir uns im Vorfeld eines derartigen Vorganges darauf geeinigt hätten, welche Politik wir dann in diesen Bereichen verfolgen.
In Europa, in der Europäischen Union, ich präzisiere das, redet man sehr oft über Wege der Entscheidungsfindung, über institutionelle Reformen, man redet nicht genug über Politik und wundert sich dann, dass die Menschen nicht verstehen, was wir eigentlich in der Europäischen Union tun.
Ich bin sehr dafür, dass wir mit Mehrheit einen Mindestsockel an europäischen Arbeitnehmerrechten schaffen. Ich bin sehr dafür, dass wir auch in Fragen der Koordinierung wie der Harmonisierung der Steuerpolitik zu Entscheidungen auf der Grundlage von Mehrheitsbeschlüssen kommen. Ich wüsste nur gerne, welche Politik wir, wenn wir diese instrumentalen Umgestaltungen vorgenommen haben, zur Anwendung bringen.
Die Menschen interessiert nicht, wer entscheidet, sondern die Menschen interessiert sehr, worüber entschieden wird. Wir sollten lernen, dass es den Bürgern in Europa auf die politische Substanz ankommt und nicht auf die Sitzordnung in den Sitzungsräumen. (Beifall)
DER PRÄSIDENT. - Thank you. - Herr Gross, eine Zusatzfrage?
GROSS (Schweiz). - Ich möchte dem Premierminister nur sagen, dass ich noch nie so froh war, dass man ihn falsch verstanden hat.
JUNCKER (Luxemburg). - Herr Präsident! Ich war noch nie so betrübt darüber, dass man mich falsch gelesen hat. (Heiterkeit)
Andreas Gross
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