April 2002

Protokoll Europarat

Moldavien: Grosse Probleme kleiner Staaten /
kleine Probleme grosser Staaten


GROSS (Schweiz).- Danke, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren, wir haben die Gewohnheit, immer wieder über kleine Probleme in grossen Staaten zu diskutieren. Heute aber haben wir die einzigartige Gelegenheit, die grössten Probleme unseres Kontinents in einem kleinen Staat wie in einer Lupe ganz deutlich zu erkennen, wenn wir uns bemühen. Zum Beispiel wird uns, den Vertretern der alten Mitgliedstaaten des Europarates, immer wieder vorgeworfen, wir würden die neuen gar nicht verstehen. Dieses Nichtverständnis bezieht sich auf das Gleichgewicht eines Dreiecks zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung, der Mentalität der Menschen und der Entwicklung der Demokratie. Wenn sich dieses Dreieck nicht in einem Gleichgewicht entwickelt, gibt es immer wieder Gewalt. Die Notwendigkeit dieses Dreiecks und dieses Gleichgewichts kann man im Positiven wie im Negativen sehen.

Es gibt eine grosse Errungenschaft der ersten zehn Jahre Demokratie in Moldawien, die bisher viel zu wenig unterstrichen worden ist: Im Unterschied zu anderen Staaten konnte Moldawien die Wende zu einem autoritären System verhindern. Das war auch Ausdruck der Stärke der ersten Parlamente und der Mithilfe des Europarates; da denke ich auch und vor allem an unseren alten Kollegen Solinari.

Auf der anderen Seite haben die ersten Träger der Demokratie die tägliche Not der Menschen, die existenziellen Sorgen der Menschen ignoriert. Deshalb sind die Leute in den ersten zehn Jahren der Demokratie ärmer geworden, und das hat die Demokratie diskreditiert. Nur so kann man es erklären, dass eine kommunistische Partei in ordentlichen Wahlen, in absolut ordentlichen Wahlen vor einem Jahr die absolute Mehrheit im Parlament bekommen hat.

Diese absolute Mehrheit hatte - das war Ausdruck der Mentalität - bestimmte Gewohnheiten, mit ihrer Macht umzugehen: Es hat keine Rücksichtnahme auf die unterlegenen Minderheiten gegeben. Deshalb gab es aus der Bevölkerung riesige Proteste gegen die übereilte und unsensible Art des Vorgehens in Bezug auf die Sprache und die Geschichte.

Diese Proteste wiederum und diese grosse Bewegung verkennen aber die Legitimation des jetzigen Parlaments und des jetzigen Präsidenten, und sie verkennt, dass sie selber Verfassungsrechte hätte, die legitim - so zum Beispiel Art. 141, was der Berichterstatter dankenswerterweise als GrassrootReferendum bezeichnet - in einem ordentlichen demokratischen Sinne eine Herausforderung der parlamentarischen Regierungsmacht darstellen würden. Die Regierungsmacht wiederum verkennt, dass Demonstrationen das Normalste in einer Demokratie sind.

Gleichzeitig verlangen wir von diesem Land - und es ist unsere Aufgabe, darüber besser nachzudenken - dass 75 Prozent des Bruttosozialprodukts in die Schuldentilgung gehen. Wenn sich aber die Leute elend und verlassen und auch noch in einer ganz schlechten ökonomischen Situation sehen, dann kann Demokratie nicht wachsen. Es kann dann auch das gegenseitige Verständnis der Opposition für die Regierung und deren Legitimität sowie der Regierung für die Legitimität des Widerstandes in Form gewaltfreier Demonstrationen der Opposition nicht wachsen.

Deshalb müssen wir an der Etablierung des angesprochenen Dreiecks arbeiten. In diesem Sinne unterstütze ich die ausgezeichneten Vorschläge der Berichterstatter. Ich finde, wir sollten einen Diskurs entwickeln, der Moldawien wirtschaftlich hilft, der der Regierung zeigt, dass die Opposition ihre Rechte wahrnehmen darf, der aber auch der Opposition zeigt, dass sie mit Gewalt die Regierung nicht stürzen kann.
(Beifall)

Andreas Gross

 

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