22.04.2002

Bund, Ausgabe-Nr. 92, Ressort Schweiz

Ein radikales Blatt Papier
aus der Eidgenossenschaft


EU-Verfassung / Die Schweiz nimmt an der Arbeit für einen EU-«Verfassungsvertrag» nicht einmal als Beobachterin teil, obwohl die Schaffung des Bundesstaates der Absicht des EU-Konvents ähnelt. Nun liegt eine «Erklärung von Lenzburg» vor, welche die eidgenössische Erfahrung auf ihre europäische Tauglichkeit hin abklopft. Die daraus abgeleiteten Forderungen sind radikal.

Von Johnann Aeschlimann, Lenzburg

In Brüssel werde das «strategische Ziel» eines Schweizer EU-Beitritts schon lange nicht mehr ernst genommen, sagt Andreas Gross, SP-Nationalrat aus Zürich und Demokratietheoretiker am «Atelier für Direkte Demokratie» in St-Ursanne. Würde sie es, dann wäre die Schweiz am EU-Konvent vertreten, der bis Ende 2003 Vorschläge für einen «Verfassungsvertrag» der Union ausarbeiten soll, meinte Gross. Schliesslich seien dort alle «ernsthaften» Beitrittskandidaten in irgendeiner Form zugelassen. Schweizerische Wünsche nach einem Beobachter-Status prallten ab.

Dabei weiss Europa seit den plumpen Ratschlägen des damaligen Bundespräsidenten Adolf Ogi, wie sehr die Entwicklung der Eidgenossenschaft vom «Staatenbund» zum «Bundesstaat» der heutigen europäischen Herausforderung ähnelt. Die Europäische Union ist derzeit nicht nur dabei, ein Dutzend Staaten in Süd- und Osteuropa einzugliedern, sondern sie will oder muss gleichzeitig ins Klare kommen, wie viel «Bundesstaat» und wie viel «Staatenbund» sie sein will. Deshalb der Konvent, der jetzt als Erstes eine breite, kontinentweite Vernehmlassung durchführt.

Dass dort die Stimme der Schweiz fehlt, sei bedauerlich, fand Arno Krause, der deutsche Vorsitzende der «Internationalen Föderation der Europa-Häuser», einer Institution, die den Europa-Gedanken in 32 Staaten hegt, pflegt und zu verbreiten sucht. Gemeinsam mit Jacques-André Tschoumy vom Transjurassischen Europa-Haus in Neuenburg gab Krause den Anstoss zu einer Konferenz, welche die schweizerische Erfahrung in Integration, Föderalismus und Bundesstaat mit der heutigen europäischen Aufgabe abgleichen sollte. Angezapft wurde dazu das Establishment der Schweizerischen Nichtregierungsorganisationen, so das «Netzwerk Müllerhaus» in Lenzburg und das vom alt Bundesrat Arnold Koller präsidierte «Forum Helveticum». Andreas Gross wirkte als Berater und Stichwortgeber im Hintergrund.

«Quelle von Anregungen»

Am Wochenende ist auf Schloss Lenzburg das Ergebnis offenbart worden. Nach Vorberatungen in Deutschland und Frankreich haben etwa hundert Teilnehmer neben Europa-Aktivisten wie Krause einige Akademiker, einige Altpolitiker (Ernst Mühlemann), einige Jungpolitiker (Thomas Fuchs, SVP) einstimmig eine «Erklärung von Lenzburg» verabschiedet, welche die schweizerische Verfassungsgeschichte als «Quelle von vielen Anregungen empfiehlt».

Das Ergebnis der Beratungen ist radikal. «Das Europa der Verträge hat ausgedient», teilen die Lenzburger mit. «An dessen Stelle muss ein föderalistisches Europa auf der Grundlage einer Verfassung treten». Der Erklärungstext fordert eine «europäische Regierung», ein Zweikammer-System und die Verankerung des Prinzips der «Volkssouveränität auf allen politischen Ebenen» (siehe unten). Herausgestrichen wurde der Ratschlag, eine «Pioniergruppe» aus einigen Ländern möge vorangehen, wenn die EU als Ganzes sich nicht auf eine Verfassung zu einigen vermöge. Das ist die eine Position in der heftig umstrittenen Debatte um das so genannte «Kerneuropa».

«Gelungene Integration»

Zahlreich waren die Parallelen, die zwischen dem in Laeken (Belgien) angestossenen EU-Prozess und der Schweizer Geschichte gezogen wurden. Genannt wurden die Unübersichtlichkeit der alten Ordnung, die Verlockungen einer Vereinheitlichung des Binnenmarkts, die Schaffung einer gemeinsamen Währung, die Bedingung gemeinsamer Grundwerte. Die Schweiz sei «der paradigmatische Fall einer gelungenen Integration», erklärte alt Bundesrat Arnold Koller. Andreas Gross meinte, die Eidgenossenschaft habe vor hundertfünfzig und mehr Jahren «alte, stolze Staaten» zu integrieren gehabt wie heute die EU. Dazu sei eine «Rücksichtnahme in der Integration» erforderlich, welche am besten die direkte Demokratie leiste, «die feinste Form von Integration von Vielfalt». Die direkte Demokratie zwinge in der Schweiz dazu, beständig «über die Differenz zu diskutieren», sagte Gross. «Deshalb bleibt man letztlich zusammen.»

Die beschränkte Reichweite nationaler Entscheidungen in Europa unterstrich in Lenzburg der deutsche CDU-Politiker Wolfgang Schäuble. National lasse sich nur noch 60 Prozent der politischen Entscheide fällen, sagte er. Deshalb müsse die europäische Ebene der Entscheidfindung transparenter, effizienter und demokratischer geordnet werden. Die im schweizerischen oder amerikanischen Föderalismus geltende Gleichwertigkeit der Gliedstaaten ungeachtet ihrer Grösse hält Koller in der EU nicht mehr für verankerbar. Dazu seien die unterschiedlichen Gewichte zu gross. Angesichts solcher Schwierigkeiten gab Koller den europäischen Verfassungsvätern einen schlitzohrigen Rat: «Entwerft eine föderalistische Verfassung der Sache nach, aber vermeidet tunlichst den Begriff.»

«Problemlösungsfähigkeit»

Franz von Däniken, Staatssekretär im Aussenministerium, war der Einzige, der die Vorstellung von der Schweiz als «Europa en miniature» relativierte. Er kontrastierte die «wachsende Föderalismusrhetorik» in der Schweiz mit dem realen Verlust von Entscheidungsbefugnissen der Kantone und dem Trend zum gemeinsamen, koordinierten Gesetzesvollzug zwischen Bund und Kantonen. Von Däniken stellte die für die erweiterte EU zentrale Frage nach der «Problemlösungsfähigkeit» des föderalistischen Gebildes Schweiz. Solche Kompromisse zu finden falle der EU immer schwerer. «Eine Konsensdemokratie wie die Schweiz als Inspirationsquelle scheint mit schwer vorstellbar», sagte von Däniken. «Das Referendum oder die direkte Demokratie wirken in der sich immer noch integrierenden EU nicht konsensfördernd.»

Bilaterale: (Noch) kein Schweizer Alleingang

jae. Am Rande der Lenzburger Tagung hat EDA-Staatssekretär Franz von Däniken bestätigt, dass die neuen bilateralen Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz an einem heiklen Punkt angelangt sind und einer politischen Lagebeurteilung im Bundesrat bedürfen.
Dieser muss entscheiden, ob und wie weit die Schweiz Lockerungen des Bankgeheimnisses in Kauf nehmen will, um mit Brüssel zu vertraglichen Einigungen zu kommen. Gemäss von Däniken erstreckt sich diese Prüfung nur auf das Gebiet der indirekten Steuern, über das im festgefahrenen Dossier «Betrugsbekämpfung» verhandelt wird. Lockerungen des Bankgeheimnisses werden von der EU allerdings auch im Bereich der direkten Steuern verlangt, so bei der Zinsbesteuerung von EU-Bürgern und bei der Amts- und Rechtshilfe in Steuerhinterziehungsfällen.
Von Däniken stellte in Frage, ob die Schweiz es sich leisten könne, auf eine vertragliche Einigung bei der gemeinsamen Bekämpfung von Zoll- und Abgabenbetrug zu verzichten. Das Finanzdepartement hatte nach der erfolglosen sechsten Verhandlungsrunde angekündigt, die Schweiz wolle nun prüfen, ob die «konkreten Probleme» mit Schmuggel und Betrug «auf anderem Weg als über ein Abkommen mit der EU» aus der Welt zu schaffen seien. Das könnte geschehen, indem die Schweiz die der EU angebotenen Massnahmen (Beispiel: Vereinfachung der Einsprachemöglichkeiten, Erleichterungen bei der Amts- und Rechtshilfe) durch eigene Gesetzgebung in Kraft setzt. Nach Angaben des Schweizer Verhandlungsleiters, Oberzolldirektor Rudolf Dietrich, wären damit alle bekannten Fälle von Zoll- und Abgabenbetrug zulasten der EU lösbar.
Dass der Bundesrat diese Fragen bereits an seiner nächsten Sitzung am Mittwoch aufgreift, gilt als unwahrscheinlich, da Finanzminister Villiger und Wirtschaftsminister Couchepin derzeit an der Frühjahrstagung von IWF/Weltbank in Washington weilen. Bürgerliche Politiker haben sich in der Sonntagspresse bereits vehement gegen Lockerungen des Bankgeheimnisses gewendet. Sie argwöhnen, dass ein Nachgeben bei den indirekten Steuern die Türe für weitere EU-Forderungen öffnen könnte, und sie machen geltend, dass die zweite Runde der bilateralen Verhandlungen von kleinerer Bedeutung sei als die ersten, am kommenden 1. Juni in Kraft tretenden Verträge.

Andreas Gross

 

Nach oben

Text 1
Text 2
Text 3

 

Zurück zur Artikelübersicht