Frühjahr 2002
Vortrag

Ohne Europa kann die Schweiz
nicht die Schweiz bleiben


Auf Einladung von Botschafter Michael Ambühl hielt Nationalrat Andreas Gross Ende Januar an der Universität Zürich einen Vortrag zur Notwendigkeit und den Chancen einer europäischen Verfassung aus der Sicht eines Radikaldemokraten und europäischen Schweizers. Der Vortrag stiess auf grosses Interesse, weshalb wir Nationalrat Gross baten, die wichtigsten Thesen für unser Bulletin zusammenzufassen.

1.
Der Ständerat von Appenzell-Ausserrhoden, Hans-Rudolf Merz, hielt mir in einer Kontroverse über die Zukunft der Schweiz und der Europäischen Union (EU) vor anderthalb Jahren in Basel die These entgegen, wonach «die EU ein offener Prozess und die Schweiz ein fertiges Produkt» sei und deshalb Mühe hätten, zusammen zu kommen.

Meiner Ansicht verkennt Ständerat Merz mit dieser Position sowohl die Geschichte als auch das Wesen und die Zukunft sowohl der Schweiz als auch der EU. Als Gegenthese und Grundlage zu diesem Vortrag: «Sowohl die Schweiz als auch die Europäische Union sind offene Prozesse und unfertige Produkte. Um ihre jeweiligen Errungenschaften auch in Zukunft weiterentwickeln zu können, sind sie aufeinander angewiesen».

Trotz dieser Gemeinsamkeit sind sie in dreierlei Hinsicht ungleich: sie stammen aus zwei verschiedenen Jahrhunderten, haben ganz unterschiedliche Wurzeln, verschiedene Dimensionen und zwei entgegengesetzte Probleme, würden aber das eben angebrochene dritte Jahrhundert dann am besten überleben, wenn sie in ihre jeweiligen Prozesse des anderen Produkt, dessen Kernerrungenschaft sozusagen, zu integrieren verstehen. Damit stehen beide wiederum vor einer ganz grossen gemeinsamen Herausforderung, die sie beide nur mit einem spezifischen kollektiven Lernprozess bewältigen und so einander aber auch (wieder) finden könnten. Weshalb?

II.
Sowohl die Schweiz als auch die EU sind Pioniere ihrer Zeit(en) und in ihren zentralen Errungenschaften.

Die liberale Revolution von 1848 - nach 1789 und 1830 der dritte europäische demokratische Aufbruch - gelang einzig in der Schweiz. Freilich auch deswegen, weil in vielen anderen europäischen Hauptstädten die revolutionären Aufständischen die lokalen konservativen Herrschaften derart beschäftigten, dass diese nicht mehr im Stande waren, den bedrängten Konservativen in der Schweiz beizustehen und den liberalen Bundesstaat zu verhindern.

Die Schweiz wurde zum Pionier des allgemeinen Männerwahlrechtes und der repräsentativen Demokratie. Sie fand in ihrer Mehrheit deren liberale Form («Alles für das Volk!») zu dünn und erweiterte diese dank demokratischen Bewegungen von 1862 bis 1891 um die Volksrechte zur Direkten Demokratie («Alles mit, durch und für das Volk!»). Deren republikanisches Politikverständnis prägt seither die politische Kultur der Schweiz, ihr Demokratie- und Freiheitsverständnis und zwingt sie zum einem permanenten Reflexions- und Selbstverständigungsprozess, der offen ist für jede Reformidee, die sich mit 100'000 Unterschriften zu legitimieren versteht: Die Schweiz wird so von ihrem System her gezwungen, sich politisch als offenen, nie ganz fertigen Prozess zu verstehen.

Die Direkte Demokratie rettete der Schweiz ihre historische und gerade auch nach Europa offene Offenheit, die ihre Gründerzeit von 1833 bis 1871 kennzeichnete, gleichsam über das 20.Jahrhundert hinweg, in dem sich die schweizerische Gesellschaft vor allem auf Grund der Art, wie sie den zweiten Weltkrieg vermeintlich unversehrt zu überstehen vermochte, bis zu Beginn der 1990er Jahre verschloss. Während die Mehrheit der Schweizer glaubte die Erfahrung gemacht zu haben, alleine überlebt und damit auch in Zukunft alles am besten alleine machen zu können, machten die viel direkter von den Kriegskatastrophen betroffenen Europäer die gegenteilige Erfahrung und zogen daraus eine ganz andere Konsequenz: Um in Zukunft das Wichtigste - Frieden, Freiheit, soziales Wohlergehen - nicht mehr zu verlieren, müsse man sich über alle kulturellen Unterschiede hinaus zusammenfinden und gemeinsam versuchen, was offensichtlich keiner mehr alleine erreichen kann.

Auf dieser kollektiven mentalen Grundlage gelang den Westeuropäern in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts die bisher erfolgreichste transnationale lntegrationsleistung der Geschichte der Neuzeit. Nirgendwo sonst haben so viele Staaten so viel Souveränität in einer wirtschaftlich und friedenspolitisch so erfolgreichen Art an einer supranationale Institution delegiert wie die EU. Wo seit 300 Jahre etwa alle 30 Jahre die wichtigsten Mächte kriegerisch auf einander los gingen, gehen sie heute etwas so friedlich miteinander um wie die schweizerischen Kantone.

III.
Die Globalisierung, die politische Grundierung der letzten Jahrhundertwende und der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, stellt die beiden Pioniere aus den beiden vergangenen Jahrhunderten vor die Herausforderung, voneinander so zu lernen, dass sie ihre Errungenschaften zusammenführen können: Die Schweiz muss merken, dass sie ohne deren Transnationalisierung ihre Demokratie und damit ihre politische Freiheit nicht retten kann. Denn wenn sich diese auf den Nationalstaat beschränken, werden sie in den nächsten Jahrzehnten mit diesem erodieren. Die EU hat bereits gemerkt, dass sie die lntegrationsleistung nur stärken und wo notwendig (im sicherheits-, wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich) im Hinblick auf die Überwindung der kriegsbedingten Spaltung Europas und der Integration des historisch benachteiligten anderen Teils Europas stärken kann, wenn sie deren demokratisches Fundament stärkt. Deshalb plädieren seit wenigen Jahren so viele Europäer für eine europäische Verfassung, die 1991 - 2009 transnational schaffen will, was der Schweiz 1830 - 1848 gleichsam transkantonal gelang. Die Chancen dazu sind intakt.

Die mentale Herausforderung, vor der sich die EU und die Schweiz in den kommenden Jahren sehen, ist ähnlicher als sich beide bewusst sind: Denn eine erfolgreiche Erfahrung zu reformieren ist einfacher als aus Niederlagen zu lernen: Die Schweiz ist daran zu lernen, dass sie nur gemeinsam mit anderen weiter entwickeln kann, was sie bisher alleine schaffte; die EU weiss, dass sie nur mit dem direkten Einbezug der Bürgerinnen und Bürger bewahren kann, was Wirtschaft und Exekutiven bisher fast alleine schafften. Denn die Demokratie ist auf Europa genau so angewiesen, wie Europa auf die Demokratie. Die föderalistische europäische Verfassung wird sie zusammenbringen. So könnte die Schweiz ab etwa 2012 zum Appenzell einer demokratisch verfassten Europäischen Union werden und weiterhin glücklich sein.

Andreas Gross

 

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