Mai 2001
Tages-Anzeiger

Tribüne

Europa: Nur mit der EU ist die Freiheit zu retten

Die «Idee Schweiz» und die «Idee Europa» sind weder überholt noch widersprechen sie sich, vielmehr müssten sie fusioniert werden: der politischen Freiheit zuliebe.

Vergangenen Herbst meinte der freisinnige Appenzeller Ständerat Hans-Rudolf Merz an einer Europatagung in Basel, die Europäische Union (EU) sei ein «offener Prozess» und die Schweiz ein «fertiges Produkt» und deswegen sei es für beide unmöglich, zueinander zu finden.

Nach der Abfuhr für die Volksinitiative «Ja zu Europa» entwickelt nun der grüne Zürcher Kantonsrat Daniel Vischer (TA-Tribüne vom 26. März) die These, dass sowohl «die Idee Schweiz» als auch «die Idee Europa» verblassen würden. Dabei identifiziert Vischer die Idee Schweiz als nationalkonservative Nostalgie für 1291 und die Idee Europa einerseits als sozialdemokratisch und anderseits, aus schweizerischer Perspektive, verbunden mit dem Bemühen um die Überwindung eines Landigeistes. Vischers Fazit lautet, die Idee Europa überschätze die «Steuerungsfähigkeit von Politik», welche «zum Glück» weit schwächer (geworden) sei.

Wem nützt eine schwache Politik?

Zu wessen «Glück», gilt es sofort nachzufragen. Kann es Grüne und Linke, für die eine nachhaltigere und weniger Unrecht und Ungerechtigkeit schaffende Gesellschaftsentwicklung wohl die Kerne ihrer jeweiligen, einander bedingenden politischen Selbstverständnisse sind, wirklich glücklich machen, wenn die unsichtbare, niemandem gehörende, niemandem verantwortliche und von niemandem zur Verantwortung ziehbare Hand des transnationalen Marktes immer gestaltungsmächtiger und die Politik immer schwächer wird?

Wobei Politik hier nichts mit der Intransparenz irgendwelcher Kungelrunden in verrauchten Hinterzimmern oder staatlicher Reglemente zu tun hat. Politik bedeutet die Summe aller Anstrengungen freier Bürgerinnen und Bürger, ihre Freiheit zu nutzen. Und Freiheit ist nicht das Vorrecht Privilegierter, ihre Privilegien zu verteidigen, oder die Wahl zwischen Pepsi-Cola oder Coca-Cola. Vielmehr meint Freiheit das Recht, die Möglichkeit und die Fähigkeit einer und eines jeden, unabhängig von Herkunft, Vermögen oder Stellung gleichberechtigt mit ähnlich Gesinnten zusammen die gemeinsamen Lebensgrundlagen zu gestalten. Damit aus Konflikten, den natürlichen Kindern der Freiheit, keine Gewalt wird, gibt es die fein gegliederten Institutionen und Verfahren der direkten und indirekten Demokratie.

Wenn nun der Gebrauch der Maxime Idee Schweiz jenseits von Mythos oder Ideologie Sinn machen soll, dann im Sinne der republikanischen Freiheitsidee der Radikalen und ihrer gelungenen liberalen Revolution von 1848: Bürger ganz verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Sprache, Kultur und Lebenswirklichkeiten sollen sich wirtschaftlich und politisch so organisieren und diese Organisation (Verfassung) so leben, dass sie alle frei werden und sein können. Wobei sich einige unter ihnen bewusst waren, dass dies nicht ein für alle Mal gelingen könnte, sondern einer permanenten Anstrengung, eines nie endenden demokratischen Lernprozesses bedürfte. Die Schweiz als Prozess also und niemals als Produkt.

Die Schweiz als Vorbild

Wenn das Reden von der Idee Europa Sinn machen soll, dann im Sinne der Erkenntnis der linken, liberalen und christdemokratischen Antifaschisten und Europapioniere, die in den Gefängnissen oder der Emigration noch vor dem Ende des Weltkrieges sich bewusst wurden, dass nachher nur noch gemeinsam allen möglich sein würde, was vorher jedem das Wichtigste war, aber jeder nur alleine für sich glaubte verwirklichen zu können: Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Ihr auf einer föderalistischen Verfassung fundiertes europäisches Integrationsprojekt - die belgischen Antifaschisten orientierten es gar an der Schweizer Bundesverfassung von 1848 - scheiterte schon Ende der 1940er-Jahre am Kalten Krieg, dem Verlust der europäischen Handlungsfreiheit und dem selbst nach zwei Katastrophen immer noch zu hegemonialen nationalistischen Denken vieler anderer Politiker. Die EWG, die EG und schliesslich die EU versuchten seither mehr exekutiv als demokratisch, mehr zentralistisch als föderalistisch und mehr ökonomisch als politisch von der Europaidee zu retten, was zu retten war.

Verfassungsdiskussion ist angelaufen

Heute, zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges, nach der zehnjährigen Erfahrung einer wirtschafts- und technologiezentrierten Globalisierung sowie der zunehmenden Entmachtung einer ausschliesslich national verfassten Freiheit merken nun immer mehr Schweizer, dass auch sie alleine nicht mehr das ihnen Wichtigste verwirklichen können - zu lange galt hier die Verlängerung der Erfahrung des einsamen nationalen Überlebens der grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts als ewig gültige Maxime. Die Demokratie und Freiheit brauchen also die transnationale europäische Verfassung, wenn sie nicht zum Privileg privilegierter Kapitaleigner und Wirtschaftsmanager verkommen sollen.

Und immer mehr Europäer merken, dass Europa mehr Demokratie, mehr Föderalismus und eine Verfassung braucht, wenn es sich von seinen Bürgerinnen und Bürgern nicht ganz entfremden soll. Der deutsche Bundespräsident Johannes Rau verfeinerte in diesem Sinne letzte Woche vor dem EU-Parlament, was sein Aussenminister bereits vor einem Jahr erfolgreich anzuschieben verstand: Bis ins Jahr 2004 soll eine europäische Verfassungsdiskussion walten, die gemäss Rau ein föderales System aufbaut, die Balance zwischen Gemeinschaft und Mitgliedsländern hält und die EU demokratisch besser legitimiert. Wie könnte man die Fusion der «Freiheitsidee Schweiz» und der «Gemeinschaftsidee Europa» besser umschreiben?

Die Frankfurter Rundschau kommentierte letzten Donnerstag Raus Vorlage mit den beiden Sätzen: «Ideen, die vor Jahresfrist noch zu politischen Eruptionen und zu erbitterten Kämpfen geführt hätten, gelten heute als fast allseits akzeptiertes Gemeingut. Die Einsicht, dass die Gemeinschaft sich tiefere und demokratischere Strukturen geben muss, hat sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in den Köpfen der politisch Verantwortlichen etabliert.»

Es gibt kein eurokompatibleres Land

Auch die Schweizerinnen und Schweizer werden dies noch merken. Und dann werden sie auch sehen, dass sie das, was ihnen wichtig ist, die Rettung ihrer politischen Freiheit vor deren unfreundlicher Übernahme durch den Markt, nur mit den sich ebenfalls wandelnden Europäern verwirklichen können.

Denn es stimmt: Es gibt kaum ein Land in Europa, dessen Bürgerinnen und Bürger es so eurokompatibel organisiert haben wie die Schweiz. Deshalb vermissen viele Europäer die Schweizer, weil sie deren politische Erfahrungen nicht missen wollen. Wenn nur die Schweizerinnen und Schweizer auch politisch von den Europäern dies und noch etwas mehr erfahren, dann werden sie merken, dass beider Ideen als Entwürfe und Prozesse nicht nur nicht «verblassen» (Vischer) und auch nie «fertig» (Merz) sind, sondern viel voneinander lernen und miteinander stärker werden können - nicht auf Kosten anderer, sondern zum Nutzen der meisten.

Andreas Gross ist Politikwissenschafter und Zürcher SP-Nationalrat. Er vertritt das schweizerische Parlament seit sechs Jahren im Europarat und ist Mitbegründer von eurotopia, der BürgerInneninitative für eine europäische föderalistische Verfassung, welche im Juni in Rostock ihren 10. Geburtstag feiern wird.

Andreas Gross

 

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