22.10.2001
NZZ - Seite 7

Europa: Eine Verfassung würde
die Demokratie in Europa stärken


Ende September hat in Otzenhausen im Saarland ein Zyklus zu Geschichte und Zukunft der Idee einer europäischen Verfassung begonnen. Er wird von der Internationalen Föderation der Europahäuser und staatsbürgerlichen Organisationen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz organisiert. Es geht um die Frage nach den Zielen einer Verfassung. Ende November wird es in Lyon um deren Schlüsselemente gehen, und Mitte April in Lenzburg wird danach gefragt, inwiefern die schweizerische Verfassungsgeschichte Anregungen für die Zukunft Europas bietet. Der folgende Text ist eine der Grundlagen für den Zyklus.

Die Diskussion um eine föderalistische europäische Verfassung ist nicht neu. Sie stand an der Wiege der europäischen Integration in der Mitte der 1940er Jahre. Die Pioniere des vereinten Europas konnten sich dieses anders als föderalistisch und demokratisch verfasst gar nicht vorstellen. Dass es anders kam, spricht nicht gegen den Wert einer europäischen Verfassung und auch nicht gegen die unschätzbare Leistung, ohne sie Europa politisch vereint zu haben. Doch dass die europäische Verfassung in den 1950er und 1960er Jahren nicht verwirklichbar war, bedeutet nicht, dass sie im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht notwendig und nicht möglich wäre. Der vorliegende Text versucht einerseits die verschütteten Wurzeln der Diskussion einer europäischen Verfassung freizulegen, ihre Bedeutung für die Zukunft Europas wie auch die der Demokratie zusammenzufassen, einige der in diesem Zusammenhang wichtigsten Missverständnisse zu klären und schliesslich vor allem auf die Bedeutung einer demokratischen Verfassungsgebung einzugehen. Eine neue Verfassung hätte ein neues Europa zu ermöglichen, das transparenter, zugänglicher, offener und gestaltungskräftiger ist, das bei den Europäern mehr Legitimität genösse und in ihrem Interesse handlungsfähiger würde.

Die historischen Wurzeln

Die historischen Wurzeln des Projektes für eine europäische Verfassung und weshalb es vor 50 Jahren scheiterte: Ideen und Überlegungen zur konkreten Utopie der politischen Integration Europas sind bereits im 18. Jahrhundert zu finden und sind seither immer wieder aufgenommen worden. An der Wiege des politischen Projektes der europäischen Integration stand die Erfahrung des Zusammenbruchs der Demokratien und der totalen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges bei sozialistischen, sozialdemokratischen, christlichdemokratischen und liberalen Antifaschisten vor allem in Italien, Frankreich und den Benelux-Staaten. Diese entwarfen noch in den Gefängnissen oder in der Verbannung die Manifeste, Entwürfe und Dispositionen für eine Vereinigung Europas nach dem Krieg, welche den verzweifelten und erschütterten Menschen eine Perspektive für eine andere und bessere Nachkriegsordnung vermitteln und sie dafür gewinnen sollte.

Nach dem Krieg wurden sofort entsprechende Organisationen gegründet, die neuen demokratischen Parteien machten sich diese Projekte zu eigen, und an europäischen Konferenzen versuchten Parlamentarier, Wissenschafter und Publizisten aus den meisten europäischen Staaten, diese Vorstellungen zu verwirklichen. Der Grundtenor der meisten dieser Texte, Resolutionen und eigentlichen Verfassungsentwürfe war: Nur gemeinsam können wir in Zukunft gewährleisten, was wir alle alleine und teilweise gegeneinander im Jahrzehnt zuvor verloren haben. Der Staat als Vater des Krieges muss überwunden, der Kapitalismus gezähmt und eine neue europäische politische Ebene geschaffen werden, auf der im Interesse aller gemeinsam garantiert werden soll, was keiner allein mehr erreichen kann: Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Die politische Form, welche die europäische Integration annehmen soll, war den meisten klar: Ein neuer Typ eines europäischen, demokratisch verfassten und föderalistischen Bundesstaates sollte geschaffen werden, getragen vom Willen der politischen Mehrheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten.

Demokratisierungsbedarf

Vor allem die französischen Politiker Monet und Schuman, selber Anfang der vierziger Jahre durchaus Befürworter des Verfassungsprojektes, sahen dessen Scheitern schon relativ früh voraus und waren darum bemüht, ein bescheideneres Integrationsprojekt zu retten, das mehr gouvernemental als verfassungspolitisch, stärker ökonomiezentriert als umfassend politisch war. Sie schufen in diesem Sinne Anfang der fünfziger Jahre die Voraussetzungen für die Montanunion zwischen Deutschland und Frankreich, die wirtschaftliche und aussenpolitische Interessen zu verknüpfen verstand. Diese Union für Kohle und Stahl war in ihrer Konzeption bis heute der Kern der 1957 nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der späteren EG und heutigen EU. Interessant ist es, die Gründe zu diskutieren, weshalb das ursprüngliche Projekt einer europäischen Verfassung Ende der vierziger Jahre keine politischen Chancen hatte. Ich möchte vor allem drei Begründungen zur Diskussion stellen:

Erstens war Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges und zu Beginn des Kalten Krieges nicht ausreichend eigenständig. Die grossen Sieger waren die USA und die UdSSR, und sie hatten aus unterschiedlichen Gründen kein Interesse an einem starken Europa. Zweitens hatten das Denken und die Hegemonie des politischen Denkens in nationalen, vielleicht sogar nationalistischen Zusammenhängen den Weltkrieg weit mehr überlebt, als dies den Europa-Pionieren möglicherweise bewusst gewesen ist. Ihren den Nationalstaat transzendierenden Perspektiven fehlte die politische Basis in den einzelnen Ländern.

Dazu mag drittens auch beigetragen haben, dass die europäische Idee vor dem Krieg eher als etwas Elitäres vertreten worden war, in Zirkeln, ohne grosse Basis, auf der sie dann nach der verheerenden Kriegserfahrung hätte neu gefestigt werden können. Möglich, dass der Kalte Krieg mit seiner antagonistischen Konkurrenz der beiden grossen Staaten das nationalistische Denken und die klassische nationale Interessenpolitik regenerierte, dass sich also die Zusammenhänge zwischen der ersten und der zweiten Begründung gegenseitig verstärkten und einer neuen politischen Form noch keine Chance einräumten.

Für ein nüchternes Verständnis

Zu betonen ist schliesslich, dass das Europa der Europa-Pioniere der vierziger Jahre das «grosse Europa» war, sich also nicht auf Westeuropa beschränkte, sondern Staaten wie Polen, die Tschechoslowakei oder Ungarn mit einbezog. Die kommunistische Machtübernahme in diesen Staaten und deren Unterwerfung unter die sowjetischen Interessen und damit die Spaltung Europas machten diese Perspektive zunichte. Auch in dieser Beziehung erstickte der Kalte Krieg den Keim eines neuen, demokratisch verfassten Europas, der sich in den 1940er Jahren entwickelte und an den nach dem Ende des Kalten Krieges hätte angeknüpft werden müssen - wäre er nicht nur derart in Vergessenheit geraten, sondern von der normativen Kraft der faktischen Integration gleichsam fast aus der Welt des Möglichen gerückt worden.

Immer wieder stösst die Diskussion um eine europäische Verfassung auf ähnliche Schwierigkeiten und argumentative Blockaden, die auf konzeptionelle Defizite und unzureichende Verständigungsanstrengungen hinweisen: Die unterschiedlichen Verfassungstraditionen in den einzelnen Ländern lassen viele vor dem Begriff der Verfassung generell zurückscheuen. In einigen Erfahrungszusammenhängen ist die Verfassung fast zu heilig (Schweden, Frankreich), in anderen beinahe zu profan (Österreich); oft scheint sie das Eigene allzu symbolkräftig zu relativieren. Ich vertrete ein gleichsam nüchternes Verfassungsverständnis:

In einer Verfassung verständigen sich die Bürgerinnen und Bürger über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausübung, Verteilung legitimer politischer Macht; ohne (zumindest) deren mehrheitliche Zustimmung tritt keine Verfassung in Kraft, schon gar keine europäische.

Eine föderalistische Verfassung stärkt die Dezentralität der Macht, bremst das Zentrum und den Zentralismus und kennt Mechanismen, welche die Autonomie und die Partizipation der Glieder (in unserem Fall der Mitgliedstaaten) stärken. Föderalismus wird hier also aus der deutschen Tradition verstanden und nicht aus der US-amerikanischen, welche den Begriff allerdings bis heute in Grossbritannien und den nordischen Ländern prägt. Wer Bereiche der staatlichen Eigenständigkeit schützen und bewahren will, dem dient der Föderalismus. In diesem Sinn verhinderte gerade eine föderalistische europäische Verfassung den europäischen «Superstaat», vor allem dann, wenn bewusst ein neuer Typ von Föderalismus gewagt würde. Dieser hätte die bisherigen entsprechenden staatlichen Erfahrungen der Schweiz, der USA, Kanadas, Südafrikas, Deutschlands, Österreichs aufzunehmen und weiterzuentwickeln.

Kulturelle, historische und sprachliche Ungleichheiten sind kein Hindernis für das Zusammenkommen und den Aufbau einer gemeinsamen Demokratie und legitimen politischen Macht. Eine föderalistische Verfassung ermöglicht Integration ohne Uniformisierung oder Gleichmachung. In dieser Beziehung müssen zentralistische, gleichförmige Staaten bereit sein, ihre Erfahrungen aufzubrechen und Neues anzugehen. Es gibt keine Demokratie ohne diskursive Öffentlichkeiten. Doch ohne Demokratie entstehen auch selten Öffentlichkeiten. Die politische Öffentlichkeit ist eher eine Folge und weniger eine Voraussetzung der Demokratie. Zudem gibt es bereits eine europäische Oeffentlichkeit, allerdings teilweise in anderer Form als die gewohnten nationalen Öffentlichkeiten. Eine Demokratisierung der EU wird aber die Herausbildung neuer politischer europäischer Öffentlichkeiten fördern, mehren und stärken.

Die «optimale Grösse» der Demokratie ist eine kulturelle und historische und keineswegs eine geographisch-numerische Kategorie. Für egoistische, ungebildete, selbstbezogene, kommunikationsunfähige, autochthone Menschen mag die demokratische Gestaltung schon eines Dorfes oder einer Stadt eine Überforderung sein; offene, kommunikative, gebildete, informierte, mobile und um Verständigung bemühte Bürgerinnen und Bürger können heute auch das grosse Europa demokratisch gestalten und auch auf dieser Ebene Demokratie leben, vor allem dann, wenn sie auf Gemeinde-, Provinz- und staatlicher Ebene damit gute Erfahrungen gemacht haben, Selbstbewusstsein und entsprechende kommunikative Fähigkeiten erworben haben und politisches Know-how haben.

Es ist kein Zufall, dass 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Sowjetsystems, an verschiedenen Orten Europas die alte, an wenigen Orten nie ganz versiegte Verfassungsdiskussion wieder aufgenommen worden ist. Bei den im Folgenden genannten Gründen sind die Wechselwirkungen nicht zu unterschätzen:

- Die neuen Demokratien von jenseits des Eisernen Vorhanges erinnerten die «alten» Demokratien daran, dass die europäische Integration kein westeuropäisches Projekt war, sondern ursprünglich ganz Europa hätte umfassen wollen und sollen. Die Überwindung der Spaltung Europas wurde zur neuen grossen Aufgabe der Europäischen Gemeinschaften ähnlich wie 40 Jahre zuvor die Versöhnung Frankreichs und Deutschlands.

- Das Ende der Blockkonfrontation liess ältere westeuropäische Demokratien, welche sich als neutral oder blockfrei verstanden, diese Distanz zur europäischen Integration verlieren, die Aufnahme von Finnland, Österreich und Schweden bahnte sich an und wurde vollzogen.

- Der Erfolg der europäischen Integration und vor allem ihre wirtschaftliche Leistungskraft entwickelten eine ungeheure Anziehungskraft für alle neuen Demokratien bis hin zur Ukraine, zu Moldawien oder Albanien, neuen Staaten ohne Demokratieerfahrungen.

- Der Erfolg der bisherigen europäischen Integration hatte einen Transfer von nationaler Souveränität an die EU ohne ausreichende demokratische und parlamentarische Grundlage zur Folge. Die entsprechenden Probleme zeigten sich erstmals mit aller Deutlichkeit in den Schwierigkeiten der Ratifikation der Maastrichter Verträge in Dänemark und in Frankreich. Es zeigte sich, dass auch die europäische Integration neuer Legitimation stiftender Quellen bedarf; die über die Leistungen hinausgingen und die Parlamente, das europäische wie die nationalen, ebenso wie die Bürgerschaften besser teilhaben liessen.

- Dieser zusätzliche Demokratisierungsbedarf verstärkte sich durch den vom Ende des Kalten Kriegs und von der Wiedervereinigung Deutschlands ausgelösten Schritt zur wirtschaftlichen Integration, den die Schaffung der Währungsunion und des Euro bringt. Der leistungsspezifische Erfolg der funktionalistischen Integrationsform (ökonomiezentriert und exekutivdominiert) hatte gleichsam seine politische Integrationskraft erschöpft. Dieses politische Defizit erfordert politische und demokratische Erweiterungen. Europa selber benötigt mehr Demokratie.

- Doch die Demokratie braucht auch mehr Europa. Denn die wirtschaftliche Integration erfuhr in den 1990er Jahren auch dank den neuen Technologien einen neuen globalen Schub, welcher die Gestaltungsmacht der einzelnen Staaten, mithin deren vorerst nur dort verankerte Demokratie, weiter erodieren liess. Diesem strukturellen Demokratie-Bedarf steht allerdings in den alten Demokratien eine eigenartige Banalisierung der Demokratie entgegen: Bürgerinnen und Bürger werden zunehmend als Konsumentinnen und Konsumenten der Politik gesehen und auf sie reduziert. Immer weniger, dafür freilich immer heftiger erinnern und reklamieren sie das republikanische Demokratie- und Politikverständnis. Gemäss diesem sind Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie die massgebenden Akteure, Freiheit ist kein Konsumartikel, sondern entspringt dem Recht, der Fähigkeit und dem Willen, mit anderen zusammen auf die gemeinsamen Lebensgrundlagen einzuwirken.

Diese und weitere Faktoren (Schaffung der Europäischen Grundrechtscharta in einem neuen «Konvent-Modell», das Unter einem starken Vorsitz die Kommission, den Ministerrat, das EU-Parlament und die nationalen Parlamente wie die beiden Gerichtshöfe in Strassburg und Luxemburg zusammenführte) haben das Europäische Parlament einerseits und den deutschen Aussenminister andererseits im Frühjahr 2000 veranlasst, die Debatte um eine europäische Verfassung neu zu lancieren. Seither ist diese Diskussion nicht mehr erlahmt, und in zahlreichen massgebenden Beiträgen spricht einiges dafür, dass das Fenster, das in Nizza im Hinblick auf die Neufundierung der Integration im Jahre 2004 geöffnet wurde, sowie das derzeitige Engagement der belgischen Präsidentschaft der Verfassungsdiskussion eine zusätzliche Bedeutung zukommen lassen, sie möglicherweise sogar institutionalisieren werden.

* Der Autor ist Politikwissenschafter in Marburg und Speyer. Er lebt in Zürich und ist Abgeordneter zum schweizerischen Nationalrat und zum Europarat. Kontaktadresse für den Zyklus: Netzwerk Müllerhaus, Bleicherrain 7, 5600 Lenzburg.

Andreas Gross

 

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