Januar/April 1995
DAZ, Zürich

Notizen aus Strassburg

Seit Januar 1995 delegiert mich der Nationalrat nach Strassburg, als einer der 12 Schweizer in der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Für die kleine Zürcher Tageszeitung " DAZ", dem früheren Volksrecht, führte ich von den ersten Sitzungen in Strassburg eine Art Tagebuch. Sie sind gleichsam Notizen aus einem Europa unterwegs und auf der Suche nach einer transnationalen Demokratie.

Premiere
Das Tram, das mich am 30.1.95 um halb sechs zum Bahnhof brachte, war das gleiche wie sonst. Doch der Zug fuhr fünf Minuten früher, ab Geleise 11 statt 13. Denn statt direkt nach Bern, ging es erstmals über Basel und Mülhausen nach Strassburg. Durchs heimatliche Sundgau, vorbei an Wiesen, die sich das Wasser des Rheins zurückerobert hat. Wie üblich holte ich nach einer ersten Zeitungslektüre im Zug schlafenderweise nach, was im Bett zu kurz kam. In dieser Gegend lässt es sich fast besser, jedenfalls länger, träumen als vor Bern. In Strassburg regnete es und es war grau. Dennoch freute mich der Anblick des "Palais de l'Europe", dessen Grundstein 1972 SP-Bundesrat Pierre Graber gelegt hat. Und die erste Fraktionssitzung unter über 100 Genoslnnen aus 33 Ländern, in einem schönen Raum voller Tageslicht, war farbiger als die meisten im bundeshäuslichen Zimmer 86. Die sozialdemokratischen Europaräte zeigten, dass sie der "Raison d'etre" dieses Parlamentes der (nationalen) Parlamente Nachachtung verschaffen wollten. Die SP-Vertreterlnnen wollten sich angesichts frappanten Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gegenüber Kurden und anderen Minderheiten, nicht länger mit Reports und Untersuchungskommissionen begnügen. Fast einstimmig wurde beschlossen, dem Europarat die Suspendierung der Mitgliedschaft der Türkei zu beantragen! Eine indirekte Unterstützung der OSZE-Initiative von Bundesrat Cotti, welche allerdings zu vielen Regierungen (noch) zu weit geht. - Kein schlechter Anlauf einer spannenden Woche.
(30. Jan. 95)

Begegnungen
Am 31. 1. 95 empfahl die Parlamentarische Versammlung die Aufnahme Lettlands als 34. Mitgliedsstaat des Europarates. Damit fand auch die dritte der baltischen Republiken, wie es hier heisst, "in den Schoss Europas zurück". Im Falle Lettlands dauerte es deshalb länger, weil die Letten Mühe hatten, den etwa 40% Russen unter ihnen jene Bürgerrechte zu garantieren, welche den Ansprüchen des Europarates bezüglich der Rechte der Minderheiten genügen. Noch mehr in Erinnerung bleiben werden mir die Auftritte von zwei Symbolfiguren des "neuen Europas", des tschechischen Ministerpräsidenten Vaclav Klaus und des russischen Bürgerrechtlers und Sacharow-Nachfolgers Sergei Kovalev. Klaus profilierte sich als Anhänger der "Marktwirtschaft pur" und wollte von ausgleichenden Adjektiven wie "sozial" gar nichts wissen. Genauso wenig von direkter Demokratie, obwohl der Europarat diese für Gemeinden und Regionen ausdrücklich empfiehlt. Sergei Kovalev schilderte eindrucksvoll und differenziert die tiefe Krise, welche Russland durchmacht, und forderte uns alle auf, wiederum Sacharow zu folgen, der vom Westen gegenüber Russland schon früher "freundliche Unterstützung", aber auch "klaren Druck" verlangt hatte.
(31. Jan. 95)

Im Schatten
Selbstverständlich liegt der Europarat im Schatten der europäischen Union (EU) und des Europaparlamentes. Das hat verschiedene Gründe. Bei der EU - nicht unbedingt beim Europaparlament - liegt sehr viel Macht: Oekonomische und politische. Denn in der EU sind sehr viele Souveränitätsbereiche und -befugnisse aufgehoben. Deshalb bildet die FU den "Nukleus der Europäischen Integration", wie sich am 1. 2. 95 der portugiesische Staatspräsident, Mario Soares, in Strassburg ausdrückte. Er sagte auch, die FU sei der "Club der Reichen". In dieser Beziehung ist der Europarat mehr; er umfasst auch die ärmeren Länder des Ostens Europas, ist also näher beim ganzen Europa als die FU. Hingegen hat er nichts zu sagen; er darf den Parlamenten der Mitgliedsländer bloss Vorschläge machen. Im Europarat wird vor allem diskutiert, nachgedacht, Ueberzeugungsarbeit geleistet. Das ist wenig, aber nicht nichts. Auch mit Bezug auf die FU. So benützte Mario Soares die Gelegenheit seiner Strassburger Rede zu einem Ausblick, wie die FU sich seiner Meinung nach weiter entwickeln muss. Soares plädierte eindeutig für den Ausbau und die Festigung des institutionellen FU-Fundmentes. Nur so, meinte er, komme die FU den BürgerInnen näher. Er forderte die Berücksichtigung föderaler und konföderaler Erfahrungen. Man hätte meinen können, es hätte gestern ein Schweizer FU-Vertreter gesprochen. Doch so weit sind wir noch nicht. Dafür braucht es erst Soares'sche Reformen. Unter anderem.
(1. Feb. 95)

Viel und schwierige Arbeit
Oft wird der Europarat belächelt. Etwas herablassend heisst es dann, na ja, so ganz ernst zu nehmen sei diese Arbeit nicht. An diesem Einwand ist eines ganz sicher richtig: Das Wissen um die einzigartige Schönheit der elsässischen Landschaft im allgemeinen von Strassburgs Altstadt und der Güte der Beizen im besonderen. Im übrigen liegt solchen Redensarten aber viel Nichtwissen zu Grunde. Der 2. 2. 95 hätte z. B. alle vom Besseren überzeugt. Zum einen rein quantitativ: Es summierten sich je eine Stunde Kommissionssitzungen mit insgesamt neun Stunden Plenumsdiskussion mit total über 50 schriftlichen Anträgen. Auch qualitativ war es äusserst anspruchsvoll: Morgens wurde nach einer achtjährigen Zangengeburt die Rahmenkonvention zum Schutz der Würde und Grundrechte der Menschen im Bereiche der Gentechnologie verabschiedet ("Bioethik"). Da geht es in materieller Hinsicht recht eigentlich ans Lebendige. Mir schien, dass der Anspruch den Schutz der körperlichen Integrität des Menschen mit der Offenheit der Forschung und der Verhinderung von Manipulationen, die den Menschen nicht anstehen, einigermassen erfüllt wurde. Wobei kein Staat gehindert ist, noch strengere Leitplanken zu setzen. Dennoch zögerte ich mit der Zustimmung und enthielt mich der Stimme. Nachmittags ging es um das Schicksal der seit 20 Jahren teilweise besetzten zypriotischen Insel; abends bis spät in die Nacht um das Desaster, das Russland in Tschetschenien anrichtet. In diesem Krieg hat die russische Regierung jegliche zivilisatorischen Prinzipien derart mit Füssen getreten, dass der Europarat etwas anderes als die Suspendierung der Aufnahmeverhandlungen mit Russland nicht ernsthaft erwägen konnte.
(2. Feb. 95>

Epochale politische Herausforderung
Die intellektuelle Einstimmung auf meine zweite Europaratssession hätte kaum besser sein können: Mitte April 95 durfte ich im mittelalterlichen englischen Städtchen York in einem Workshop britischen Politologen 10 Thesen zur Notwendigkeit einer europäischen Verfassung vortragen. Als Schweizer in Grossbritannien für ein transnational verfasstes Europa: Eine spannende Aufgabe, wenn auch nicht ganz frei von Ironie. Denn es gibt kaum zwei andere Nationen, welche derart an ihren nationalen Souveränitätskonzeptionen hängen wie Grossbritannien und die Schweiz. Doch das Echo unter den Wissenschaftlern war bemerkenswert positiv. Viele sind sich bewusst, dass Freiheit im Sinne des politischen Handlungsvermögens und die Demokratie angesichts der längst transnational operierenden Wirtschaft nur gewährleistet werden können, wenn auch die Politik und die BürgerInnen-Souveränität transnational verfasst werden. Weder das Schweizer Volk noch das Westminster Parlament werden in Zukunft alleine für sich behaupten können, was alle Staaten am Ende des 20. Jahrhunderts verlieren: ihre Autonomie, die wichtigsten politischen Ziele - Frieden, Gerechtigkeit und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen - alleine garantieren zu können. Der Grund, weshalb in der Schweiz die Mehrheit der BürgerInnen dies noch zu wenig zur Kenntnis genommen hat, liegt in der Art und vor allem in der offiziellen Interpretation der Art, wie die Schweiz den 2. Weltkrieg überlebt hat. Darum ging es am 23. 4. 95 in Genf am "Table ouverte" des Westschweizer Fernsehens zur Frage "Was soll die Schweiz zum 8. Mai 1995, dem 50. Jahrestag des Endes des 2. Weltkrieges in Europa sagen?" Ich versuchte darzulegen, dass die Schweiz trotz ihres schlechten Gewissens endlich verarbeiten sollte, dass sie auch nur überlebte, weil sie vielfältig kooperierte. Doch statt sich die Notwendigkeit dieser Strategie einzugestehen (trotz deren moralischen Fragwürdigkeit), mystifizierte die offizielle Schweiz die nationale Eigenständigkeit und alles, was helvetisch dazugehört (Armee, Neutralität, staatliche Souveränität.). Dies lässt viele unter uns bis heute angesichts der UNO, Europa und der Kooperation mit der 3. Welt zögern, wo entschiedenes Engagement dringend wäre. Zurück zur Sitzung der Kommission des Europarats, wo sich die unmittelbare Bedeutung dieser epochalen Einsichten ganz praktisch zeigte: In der Sozialpolitischen Kommission wurde der Entwurf eines Berichtes zur Notwendigkeit der europäischen Koordination zur allgemeinen Arbeitszeitverkürzung diskutiert. Denn dieses gemeinsame Vorgehen auf europäischer Ebene ist die Voraussetzung dafür, dass in jedem Staat entsprechende Fortschritte möglich sind: Denn einer allein würde von den Multis erpresst und gehindert (Kampfbegriff "Standortpolitik"). Chancen haben wir nur gemeinsam, europäisch koordiniert und derart politisch ebenso stark wie die ökonomisch Stärksten.
(24. April 95)

Transnationale " Supervision"
"Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein sensationeller Staatsvertrag, der als erster auf der Welt Individuen das Recht gibt, einen Vertragsstaat - selbst den eigenen - vor einer internationalen Behörde wirksam zu verklagen." Mit diesem Satz fasste der Zürcher Rechtsanwalt Ludwig A. Minelli in seinem Vortrag vor dem Zürcher Europainstitut die Bedeutung der EMRK zusammen, welche von der Schweiz 1974 ratifiziert worden war. In der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zeigt sich immer wieder das politische Pendant zu jenem rechtlichen Anspruch aller über 520 Millionen Bürgerinnen und Bürger der gegenwärtigen 34 Europarats-Staaten, den Minelli so treffend erläuterte: In jeder Strassburger Europarats-Woche werden mindestens drei bedeutende Regierungsverantwortliche der Europaratsmitglieder zum Vortrag und der Beantwortung von manchmal recht kritischen Fragen eingeladen. Das bedeutet eine Art transnationale politische Supervision und Beurteilung für Minister und Staatspräsidenten, die manchmal im eigenen Land und vor dem eigenen Parlament eher selbstherrlich auftreten. Dies bedeutet zudem die Anerkennung der universellen Kraft von gewissen politischen, menschenrechtlichen Normen, an denen sich alle politisch Handelnden, wo sie dies auch immer tun, messen lassen müssen. Aus der Wintersession blieb mir in diesem Zusammenhang vor allem der äusserst selbstgewisse Auftritt des tschechischen Ministerpräsidenten Klaus in Erinnerung, der - von der hegemonialen Bedeutung und Kraft des Marktes l20prozentig überzeugt - jegliche soziale Ausgleichsfunktion des Staates negiert. Der sehr junge bulgarische Premierminister Jan Videnov vermittelte einen zwiespältigen, dürren Eindruck: Er schien sich wie Klaus als marktwirtschaftlicher und demokratischer Musterschüler geben zu wollen, vermochte aber kritischen Fragen zum Bruch mit totalitären Traditionen nicht überzeugend zu entgegnen und verstieg sich z. B. auch zur These, er könne die Sicherheit des einzigen bulgarischen AKW's persönlich und absolut garantieren ... Der estnische Staatspräsident Lennart Meri hinterliess hingegen einen äusserst souveränen, historisch - so beispielsweise punkto europäisch-hanseatische Geschichte der Hauptstadt Tallin - versierten Eindruck und warnte den Europarat ganz offen vor "doppelten Standards" bei der Beurteilung der demokratischen und menschenrechtlichen Praxis in kleineren (Serbien) und grösseren Staaten (Russland), weil dies die Glaubwürdigkeit des Europa-rates massiv schmälern würde: Heute tritt der ungarische Ministerpräsident Gyula Horn in Strassburg an, und tags darauf folgt kein geringerer als ... Adolf Ogi aus Kandersteg. Sein Berg, das Neat-Massiv, stand - von der SBB zum Thema Alpentransit stilisiert - schon seit längerem im Foyer zur geistigen Einstimmung vor dem Plenarsaal des Europarates.
(25. April 95)

Andreas Gross

 

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