September 1994
Tagesanzeiger, Zürich
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Die Alternative zum «Kern-Europa»
à la CDU/CSU
Eine europäische Bundesverfassung vermag Gleichberechtigung
und Unterschiede zwischen den FU-Staaten miteinander zu versöhnen
Silvio Berlusconi, als Clubpräsident im Nebenamt fussballerisch sensibilisiert, fürchtete gleich die Verbannung Italiens aus der europäischen Championsligue. Seinem britischen Kollegen John Major schauderte vor dem Gedanken, nur noch aus der zweiten Reihe Europapolitik machen zu können, er widersetzte sich in einer Rede im holländischen Leiden einer Europäischen Union, in der «die einen gleicher sind als die anderen». Selbst der französische Budgetminister und Regierungssprecher Sarkozy wollte von einer Bevorzugung von «Musterschülern gegenüber schlechteren Schülern» nichts wissen; Spaniens Aussenminister nichts von einer 'Marginalisierung' Iberiens.
Der Stein des europäischen Anstosses: Ein vierzehnseitiges, fein elaboriertes Strategiepapier der CDU/CSU-Franktion des deutschen Bundestags mit dem unscheinbaren Titel «überlegungen zur europäischen Politik» vom Herbst 1994. Seine Kernaussage: Inskünftig solle sich die Europäische Union (EU) in einer "variablen Geometrie" um einen "festen Kern" formieren, wobei der "Kern des festen Kerns" und eigentliche "Motor" der europäischen Integration Deutschland und Frankreich bilden würden. Seine Grundüberlegung: Nur so könne die bis ins Jahre 2000 notwendige Osterweiterung der EU mit ihrer ebenso dringenden institutionellen Vertiefung vereinbart und derart die Lähmung, beziehungsweise Erosion der EU zu einer 'gehobenen Freihandelszone' verhindert werden.
Der Bonner CDU/CSU-Franktion ist in einer Hinsicht gewiss zu danken: Sie hat Europa geweckt. Erst dieses kernige Franktionspapier rief vielen Europäerinnen und Europäern innerhalb und ausserhalb der EU in Erinnerung, dass schon in sechzehn Monaten über die institutionelle Zukunft der EU entschieden wird. Sollen aber 1996 nicht wieder primär die Regierungen die künftige Form der EU bestimmen, dann ist es wirklich nicht zu früh, wenn sich möglichst viele der Betroffenen, fast 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas über die unterschiedlichen Optionen kundig machen und in die Debatte einmischen.
Doch vermag dieses 'Kerneuropa' à la CDU/CSU das Kernproblem der europäischen Integration wirklich zu lösen, das in Frankreich und Dänemark Referenden, in Deutschland das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den EU-Verträgen von Maastricht offenbart haben? Das Problem der demokratischen Legitimität der FU nämlich, die Frage, ob und wie die EU die Souveränität, die ihnen zunehmend von den Mitgliedstaaten übertragen wird, dem Bürger und der Bürgerin wieder zugänglich macht.
Der Leitartikler des Pariser Le Monde verlangte schon vor zwei Jahren, nach dem französischen Europa-Referendum, «das Ende der technokratischen Äera der EG» und forderte ein Europa, das wirklich von seinen Bürgerinnen und Bürgern getragen wird. In dieser Beziehung, so sagte der belgische Europaparlamentarier Fernand Herman vor einer Woche in Genf, sei die EU «heute in einer tiefen Krise». Denn die Bürgerinnen und Bürger seien zunehmend skeptisch geworden.
Wo Mitspracherechte fundiert, Souveränitäten neu konstituiert und die Macht institutionell neu und feiner auf mehr Schultern verteilt werden soll, bedarf es einer Verfassung, im Falle des künftigen Europas der 20 (im Jahre 2000) oder 25 (im Jahre 2005) Mitgliedstaaten einer föderalistischen Bundesverfassung. In einer Verfassung sind alle gleichberechtigt, werden gemeinsam handlungsfähig und können trotzdem verschieden bleiben.
Das wäre die Alternative zum 'Kerneuropa' à la CDU/CSU, dessen Kern die wirtschaftlich Stärksten bilden und in dem alle anderen sich fremdbestimmt, ja diskriminiert fühlen würden. So wie dies bei den 24 anderen Kantonen der Fall wäre, wenn in der Schweiz Bern und Zürich privilegiert und primär von diesen 'Vororten' bestimmt würde.
Der CDU/CSU ist diese weitergehende Alternative nicht fremd, spricht sie doch von der Notwendigkeit eines 'verfassungs-ähnlichen Dokuments' und mockiert sich eher ungeniert ob der französischen «Vorstellung von der unaufgebbaren Souveränität der Etat Nation», «obwohl diese Souveränität längst zu einer leeren Hülse» geworden sei. Wobei John Major in Leiden den Nationalstaat als die 'zentrale Einheit' in Europa bezeichnete und sich seinerseits über das Europaparlament lustig machte, wenn es meine, das berüchtigte 'Demokratiedefizit der FU' überwinden zu können.
Der belgische Christdemokrat Hermand nannte den Ubergang von der heutigen Vertragsgrundlage der EU zu einer europäischen Verfassung eine eigentliche 'Revolution' und meinte, deswegen würden sich auch so viele Minister davor fürchten. Für den Philosophen Walter Benjamin waren Revolutionen allerdings nichts mehr als der Griff vieler Menschen zur Notbremse. Es wird Zeit, dass wir darüber nachdenken, ob auch wir in Europa eingreifen sollten, und wenn ja, wie und wohin.
Andreas Gross
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