18.08.2003

Aargauer Zeitung
Montagsinterview
Seiten 2 und 3































Gross:
«Die umfassende Konkordanz existiert schon seit 1999 nicht mehr. Der Hauptteil der SVP fühlt sich nicht mehr im Bundesrat vertreten.»

























Siegrist:
«Heute suchen einige Parteiexponenten gar keinen Konsens mehr, sondern wollen nur noch markieren.»

Blockiert die Konkordanz
unsere Politik der Zukunft?


Zauberformel. Streitgespräch zwischen den Nationalräten
Ulrich Siegrist und Andreas Gross.


Interview: Mathias Küng
Fotos: W.Rolli (Siegrist), U.Hiltpold (Gross)


Da das Parlament der SVP den ihr zustehenden zweiten Sitz nicht geben werde, sieht Andreas Gross die Zukunft in einer eingeschränkten Konkordanz. Im Klartext in einer Mitte-Links- oder Mitte-Rechts-Regierung. Ulrich Siegrist gibt die Konkordanzidee noch nicht preis. Diese erfülle über die Tagespolitik hinaus wichtige Funktionen für die Schweiz.

Spannungen innerhalb der Regierungskoalition werden häufiger, das zeigen auch die jüngsten Aussagen von Christiane Brunner und Ueli Maurer zur Bundesratszusammensetzung. Die Konkordanz wird brüchig. Wie sieht ihre Zukunft aus?

Ulrich Siegrist: Eine Konkordanz ist potenziell immer brüchig. Sie ist keine Koalition, sondern ein fliessendes Gleichgewicht. Ihr zentrales Ziel ist Integration der Gesellschaft und Stabilisierung der Politik. Formal haben wir die heutige Formel seit 1959. Hinter der institutionellen Oberfläche war aber die ständige Suche nach Konsens von alters her ein tragendes Element des eidgenössischen Staatsgedankens.

Andreas Gross: Konkordanz heisst, dass in der Regierung die wichtigsten politischen Kräfte im Parlament vertreten sind. Doch diese umfassende Konkordanz von 1959 existiert seit etwa 1999 nicht mehr. Schon bei Adolf Ogi und jetzt bei Samuel Schmid ganz besonders fühlt sich der Hauptteil der grössten Partei, der SVP, nicht mehr im Bundesrat vertreten. In diesem Sinn hat sich die Konkordanz bereits verändert und die Zauberformel gibt es eigentlich nicht mehr. Vieles spricht dafür, dass dieser Bruch nach den Wahlen noch grösser wird. Ich gehe von der These aus, dass die SVP etwa 3 Prozent und die SPS etwa halb so viel dazu gewinnen wird. Gleichzeitig erwarte ich, dass die CVP 2 bis 5 Prozent und die FDP halb so viel verlieren wird.

Also noch stärkere Pole und schwächere Mitte?

Gross: Genau. Die Pole werden gestärkt. die Parteien der Mitte geschwächt, weil sie sich zu sehr nach rechts anlehnen, die Menschen aber das Original den Kopien vorziehen. Die stärkste Partei, die SVP wird dann mit noch mehr Legitimität eine eigentliche Vertretung in der Konkordanz verlangen. Sie wird sie nicht bekommen.

Warum?

Gross: Weil der Bogen zwischen der Mehrheits-SVP und der SP zu gross geworden ist, um glaubwürdig in ein und derselben Regierung zu sitzen. Als Reaktion darauf wird sie die Initiative zur Bundesrats-Volkswahl einbringen, was meines Erachtens kein Beitrag zur Demokratisierung der Demokratie ist. Dann müssen die Gegner der Volkswahl eine Alternative anbieten. Es ist unwahrscheinlich, dass eine starke SVP mit ihrem Zürcher Flügel mit einer ebenfalls starken SP weiterhin eine gemeinsame Regierung bilden kann. Dann muss sich die Mitte entscheiden, mit wem sie eine neue eingeschränkte Konkordanz aufbauen will. Diese Frage sollten wir vor den Wahlen thematisieren, damit die Leute im Wissen wählen, für welche eingeschränkte Konkordanz - mit der SP oder mit der SVP - die zur Wahl stehenden CVP- und FDP-Leute stehen würden.

Teilen Sie diese Einschätzung?

Siegrist: In der Tendenz wird er Recht haben mit seinen Zahlen. Aber der gedankliche Kern des Systems liegt nicht in der reinen Arithmetik, sondern dazu kommen auch Ziele des Ausgleichs und Föderalismus. Und gewählt werden zum Glück fähige Personen und nicht einfach Parteien. Aber für mich kommt vorher noch eine andere Frage: Wie lange ist die politische Mitte - also FDP und CVP zusammen - noch stark genug für die Leaderrolle? Sobald sie das nicht mehr ist, fehlt dem System die nötige Stabilität. Denn ein Regierungssystem muss wie eine griechische Säulenhalle von der Mitte her getragen sein. Falls wir das von Andreas Gross geschilderte Szenario für eine Mitte-Links- oder Mitte-Rechts-Koalition wollten, dann wäre dies keine Konsensregierung im Sinne der Grundidee von 1959. Daraus ergäben sich Zusatzfragen, etwa nach der direkten Demokratie und der Blockadewirkung des Referendums. Die Grundbedingungen haben sich allerdings verändert.

Inwiefern?

Siegrist: Die Entstehung des Systems war stark mit der Entwicklung des Freisinns verbunden, als tragende liberale Partei mit kluger Machtpolitik. Die FDP schwächt sich nun zunehmend nicht nur zahlenmässig, sondern auch im Wesen als tragende liberale Zentrumskraft. Das hat Folgen. Zum einen hatte die Zauberformel ihre goldene Zeit, als man auf Verteilung, Risikovermeidung und Besitzstandwahrung setzte. Das genügt nicht mehr. Das Gestaltende und Vorwärtsschreitende muss jetzt in den Vordergrund rücken. Für mich ist schon fraglich, wie unser System unter den neuen Herausforderungen die geforderte Leistung noch erbringen kann.

Gross: Der Konsens von 1959 beruhte auch auf einem stetigen Wirtschaftswachstum, dem Verteilen Können der Früchte der Arbeit und auf einem Grundkonsens in wesentlichen aussen- und sicherheitspolitischen Fragen. Dieser besteht heute nicht mehr. CVP und FDP werden trotzdem noch einige Zeit die entscheidende Mitte bleiben können. Ohne sie kann niemand regieren. Solange zum Beispiel in der Europafrage die Haupt-SVP und die SPS keinen Konsens finden und sich gegenseitig blockieren, wird die alte Mitte noch das Sagen haben.

Wie vertragen sich eine eingeschränkte Konkordanz und die direkte Demokratie? Das Volk kann via Referendum zu weit gehende Beschlüsse jederzeit aushebeln. Dann sind wir vielleicht sogar weniger weit als mit einer Konsensregierung, die mit Kompromisslösungen in Volksabstimmungen mehr Erfolg hat.

Gross: Eine solche Regierung der beschränkten Konkordanz braucht unbedingt ein minimales Programm. Es kann sein, dass sie bei dessen Realisierung an der Urne ein-, zweimal vom Volk gebremst wird. Man darf in einer Volksabstimmung aber auch in Zukunft verlieren und muss deswegen nicht zurücktreten, wenn man bereit ist, das Volksvotum in die eigene Politik einzubeziehen. Eine eingeschränkte Konkordanz hat für mich heute eine höhere Glaubwürdigkeit als vorzugeben, der Konsens von 1959 bestehe noch, und den neuen Realitäten nicht zu entsprechen.

Sie sagen, CVP und FDP müssen sich für eine Seite entscheiden. Besteht nicht das Risiko, dass eine oder gar beide Parteien daran zerbrechen könnten?

Gross: Es könnte sein, dass dann einige Leute die Partei wechseln. Aus nationaler Sicht betrachtet wäre sowieso eine Fusion von FDP und CVP zu einer neuen modernen Mitte unter einigen Abgängen nach rechts logisch. Es gilt aber zu bedenken, dass die Parteien in der Schweiz immer noch stark von ihren kantonalen Identitäten bestimmt sind. In einigen Kantonen dominiert traditionell die CVP und die FDP steht in der Opposition und umgekehrt. Deshalb wird es mit der Fusion leider noch lange dauern.

Herr Siegrist, läuft es auf eine eingeschränkte Konkordanz hinaus?

Siegrist: Ich bin nicht sicher, ob man das Konsenssystems so einfach beerdigen wird. Was ist, wenn die politische Mitte gewisse Teile der Politik zusammen mit der Linken und andere mit der Rechten durchziehen will? Auch mit Rücksicht auf eigene interne Vielfalt. Letztlich muss jede Regierung ihre Politik in Volksabstimmungen durchbringen, nicht nur im Parlament. Ich teile zwar die Auffassung, dass die direkte Demokratie auch ohne Zauberformel funktioniert, Initiative und Referendum sind ja auch älter. Gleichwohl würde bei einer eingeschränkten Konkordanz wohl die Blockadewirkung noch stärker, ausser es würden sich neue ausserparlamentarische Konsenslinien herausbilden. Irgendwie muss unser Land in Grundsatzfragen und nicht nur im Verteilen und Verwalten weiterkommen.

Gross: Einverstanden. Wir können uns darauf einigen, dass jede politische Sache eine eigene Mehrheit finden muss. Das ist aber heute schon so. Es kann sein, dass das Volk einmal eine Lösung eher mit der Linken, ein anderes mal eher mit der Rechten will. Das gehört zur Logik der direkten Demokratie.

Dann könnten auch in einem Parlament, das sich für eine Mitte-Links- oder Mitte-Rechts-Regierung entschieden hat, in einer konkreten Materie Kompromisse herauskommen wie heute im Konkordanzsystem.

Gross: Durchaus. Ich sehe einen grossen Vorteil in einer eingeschränkten Konkordanz: Diese wird innovativere und klarere Vorschläge unterbreiten. Wenn sie zum Beispiel mit Europa gehen will, muss sie auch bereit sein, Geld auszugeben, um die Diskussion darüber voranzubringen. Wenn sie es nicht will, lässt sie es bleiben. Die grosse Frage ist, ob sich dann dieses oder auch ein anderes Problem von selbst löst oder reift. Jetzt blockiert man sich oft gegenseitig und alle warten. Oft reagieren wir dann zu spät. Wir fahren besser, wenn Kräfte manchmal vorprellen und ein Thema pushen. Selbst wenn diese Kräfte vom Volk ab zu und gebremst werden, kann man damit sogar Zeit gewinnen und weiter kommen als mit dem jetzigen System.

Also besser als der Status Quo?

Siegrist: Das Wettbewerbssystem hat schon einige Vorteile. Vergessen wir nicht, dass die Parteien auch heute die Freiheit haben, in einzelnen Fragen von der Bundesratslinie abzuweichen. Vorab SVP und SPS machen davon reichlich Gebrauch. Daraus entsteht auch neue Dynamik. Dazu kommen Einzelpersonen oder Grüppchen, die auch innerhalb ihrer Parteien eigene Standpunkte behaupten. Das gibt Innovation. Zudem wollte die Schweiz in ihrer Geschichte nie reine Gewinner und reine Verlierer haben, sondern beim Zusammenraufen von lauter Minderheiten mussten auch Gleichgewichte gesucht werden. Diese dialogischen Prozesse bildeten Teil des Staatsdenkens, nicht nur Kompromisswurstelei, sondern Konsens zwischen zunächst harten Positionen. Die Freude von 1959 über die Zauberformel hat daran angeknüpft. Aber heute suchen einige Parteiexponenten gar keinen Konsens und keine Lösungen mehr, sondern wollen nur noch "markieren". Aber im öffentlichen Bewusstsein hat der Bundesrat auch heute nicht nur die Funktion des "Staatsmanagements", sondern einen identitätsstiftenden und nicht immer nur rational fassbaren Auftrag. In Berücksichtigung dieses Umstands komme ich zum Schluss, dass immer noch ein Bedarf an Konsens und Konkordanz besteht. Dazu passt eine konsensuale Basis.

Gross: Ja, der Zwang, sich immer wieder einigen zu müssen, hält uns fit. Das schafft eine unserer ganz grossen Stärken. Die Schweiz ist deshalb besonders fein integriert, weil wir jedes Vierteljahr wochenlang miteinander streiten dürfen. Dies mein leicht abgeändertes Dürrenmatt-Zitat. Doch nochmals zu den Wahlen: In einem Mitte-Links-Bundesrat könnte für mich Samuel Schmid als Unabhängiger drin bleiben. Die SVP wäre dann aber draussen. In einer Mitte-Rechts-Regierung bekäme die SVP natürlich den zusätzlichen Sitz, allerdings müsste der dann an einen Vertreter der Haupt-SVP gehen.

Siegnst: Die SVP will eine stärkere Regierungsbeteiligung. Sie wird den Anspruch nach den Wahlen wohl mit guten Zahlen belegen. Aber unser System bezweckt auch den Ausgleich der Landesteile, der Sprachregionen, der burgundischen und der alemannischen Schweiz, von Stadt und Land. Da nützt es nichts, dreimal hintereinander einen zweiten Zürcher zu portieren, wenn der Rest der Schweiz einen Ausgleich gegenüber Zürich sucht. Zahlen allein machen noch keine Politik aus. Gefragt ist nicht nur Grösse, sondern auch Integrations- und Gestaltungsvermögen. Daran werden sich Parteien, die das Land führen wollen, ausrichten müssen. Und am Schluss sind es zum Glück auch Personenwahlen.

Gross: Aufpassen müssen wir nur, dass die in der kommenden Legislaturperiode wahrscheinliche Erhöhung der Bundesratssitze auf neun nicht zur Folge hat, dass die Mehrheit sich um die Krise der alten Konkordanz herumdrückt. Ich bin für neun Bundesräte, aber für eine neue, eingeschränkte Konkordanz-Regierung, so oder so. Persönlich wünschte ich mir natürlich eine Mitte-Links-Regierung inklusive Samuel Schmid.

Siegnst: Wenn wir jetzt beginnen, Namen unserer Liebsten aufzuzählen, so kommen wir bald auf 11 Sitze. Im Übrigen glaube ich nicht, dass man allein mit der Erhöhung der Sitzzahl die strukturellen Probleme lösen kann.



Ulrich Siegrist, Dr. jur., Lenzburg. Er war Aargauer Regierungsrat und ist seit 1999 SVP-Nationalrat. Er ist Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft sowie Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission und der Kommission für Rechtsfragen.



Andreas Gross, Politikwissenschafter, Lehrbeauftragter, Zürich und St-Ursanne. Er gilt als "Vater" der ersten Armeeabschaffungsinitiative und ist Mitglied der Staatspolitischen Kommission, der Redaktionskommission sowie Vizepräsident im Europarat. Von ihm erscheinen im Herbst in der Edition le Doubs zwei Bücher zum Thema "Eine andere Schweiz ist möglich. Ein Blick über den Herbst hinaus" und "Die unerwünschte Demokratie. Zur Demokratisierung der Demokratie weltweit", in denen auch Aspekte des vorliegenden Gesprächs eingehend diskutiert werden.

Andreas Gross



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