14. Juli 2003
Neue Zürcher Zeitung
Ausland
Seite 5
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Tschetschenien - Ideen für einen Ausweg
Gespräch mit A. Gross, Berichterstatter des Europarats
Der Schweizer Nationalrat Andreas Gross ist kürzlich von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum neuen Berichterstatter für Tschetschenien gewählt worden. Nach seinem "Antrittsbesuch" in Russland sprach er mit unserem Moskauer Korrespondenten Peter Winkler über seine Ideen für eine Lösung des Konflikts.
Ihr Vorgänger, Lord Judd, trat im Zorn über das Verfassungsreferendum in Tschetschenien zurück. Was hat Sie dazu bewogen, diese heikle Aufgabe zu übernehmen?
Dies ist zurzeit wohl die schwierigste Aufgabe, die man im Europarat übernehmen kann. Aber die ehemaligen Sowjetrepubliken werden für den Europarat eine zunehmend zentrale Rolle spielen. Sie sind in den letzten 200 bis 300 Jahren autoritär oder totalitär regiert worden, und es ist noch nicht klar, ob es in ihnen nicht wieder zu neuen Kriegen oder Bürgerkriegen kommen wird. Demokratische Verhältnisse kann man nicht über Nacht erreichen. Aber genau darum muss der Europarat an diesen Republiken seine Existenzberechtigung beweisen.
Ich habe Lord Judd immer für sein Engagement bewundert, und ich habe auf meiner Herreise via London mehrere Stunden mit ihm diskutiert. Er hatte das Gefühl, von den Russen missbraucht worden zu sein; ein Eclat lag seit einiger Zeit in der Luft, und das auslösende Ereignis, das Referendum in Tschetschenien, war gar nicht mehr so wichtig. Ich möchte im Vergleich zu Lord Judds Vorgehen eventuell in einer etwas anderen Weise weitergehen. Er verstand sich als Organisator eines Prozesses und arbeitete fast ausschliesslich mit dem russischen Parlament zusammen. Ich möchte eher den Konfliktparteien helfen, das Problem selber zu lösen. Das heisst, ich will mich zuerst umhören, welche Ideen dazu auf den verschiedenen Seiten bereits existieren.
Wie war der Empfang, den die russischen Stellen Ihnen auf Ihrer ersten Reise bereiteten?
Es war ja nicht meine erste Reise nach Moskau. Im Januar 2000 war ich Mitglied einer Europaratsdelegation, die nach Tschetschenien fuhr, und sprach als Mitglied dieser Delegation drei Stunden lang mit dem damaligen Interimspräsidenten Putin. Tschetschenien war regelmässig Diskussionsgegenstand an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung, ich bin mit dem Thema also vertraut. Noch bevor ich die neue Aufgabe übernahm, war ich im Rahmen einer Konferenz über die Möglichkeiten, wie mit Autonomie Konflikte gelöst werden können, nach Kasan in Tatarstan eingeladen worden. Ich nahm die Gelegenheit wahr, auf der Reise dahin erste Kontakte aufzunehmen.
Zu Beginn hatte ich schon das Gefühl, dass die russischen Parlamentarier nicht besonders von meinem Plan angetan waren. Man signalisierte mir, ich solle zuerst die Präsidentenwahl in Tschetschenien im Oktober abwarten. Aber ich insistierte und knüpfte Kontakte mit anderen Stellen: mit der Präsidialverwaltung, dem Aussenministerium, regierungsunabhängigen Organisationen und verschiedenen diplomatischen Vertretungen in Moskau. Die russischen und internationalen Medien zeigten sofort starkes Interesse, und man merkte, dass man nicht einfach abwimmeln konnte. Das Interesse, mich zu empfangen, wuchs, und ich habe jetzt das Gefühl, die Türen sind nicht verschlossen. Eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist da, wenn auch vielleicht eine skeptische. In Kasan traf ich mich unter anderen mit dem Präsidentenberater Kosak, der für die Föderalismus-Reform zuständig ist. Nun kann ich meinen nächsten Besuch in der zweiten Augusthälfte gründlich planen. Dann will ich auch nach Tschetschenien fahren.
Wenn Sie Ihre Arbeit seriös machen wollen, rnüssen Sie mit allen Konfliktparteien reden. Das aber könnte bedeuten, dass sich die Türen in Moskau schliessen, sobald Sie mit den Rebellen sprechen. Und kann man mit Leuten, die Selbstmordattentäterinnen nach Moskau schicken, überhaupt reden?
Meine Aufgabe, die «Evaluation von Lösungsmöglichkeiten», wie es offiziell heisst, ist nur dann machbar, wenn ich mit allen Beteiligten spreche. Ich mache aber eine Einschränkung: Mit jenen, die für die Selbstmordattentate verantwortlich sind, kann man nicht reden; man hat das bereits in Palästina gesehen. Es handelt sich dabei um eine derartige Instrumentalisierung von unschuldigen Menschen, um eine derart extreme, unzivilisatorische Form des Terrorismus, dass sie die Urheber automatisch vom Gesprächsprozess ausschliesst. Ich wollte mich aber mit dem Vertreter Maschadows, des letzten gewählten Präsidenten Tschetscheniens, treffen. lnteressanterwetse sitzt dieser, Salambek Maigow, in Moskau. Maigow bestätigte mir, dass Maschadow sich von den terroristischen Methoden sofort distanziert hatte.
Auf der Basis meines gegenwärtigen Berichts über Autonomie fragte ich Maigow auch, ob das Maschadow-Lager denn in der gegenwärtigen Lage nicht die Unabhängigkeit überschätze und eine gut funktionierende Autonomie unterschätze, und er war völlig einverstanden. Ich muss anfügen, dass der Begriff einer gut funktionierenden Autonomie ein wesentliches Merkmal enthält: Es muss ein andauernder Prozess sein. Man kann also, in einer fast schon theoretischen Ferne, auch vom Endziel einer Unabhängigkeit sprechen. Aber zunächst und konkret möchte ich, dass alle Konfliktparteien miteinander über die Sicherung der russischen Grenzen und die Bekämpfung des Terrorismus sprechen. Gleichzeitig kann man innerhalb der Verfassung der russischen Föderation, welche den Subjekten eine maximale Selbstbestimmung einräumt, eine akzeptable Formel für Tschetschenien finden. Ich unterbreitete diesen Ansatz dem Präsidentenberater Kosak und erhielt den Eindruck, dass dies für den Kreml eine akzeptable Diskussionsgrundlage ist.
Mein Treffen mit Maigow wurde übrigens sogleich in der Presse rapportiert, und ein Regierungssprecher kommentierte es mit den Worten, die Zeit, da man mit Maschadow sprechen könne, sei vorbei. Ich aber denke, in einem politischen Prozess muss die andere Seite integriert werden; ein solcher Prozess kann nicht aufgezwungen werden. Das ist auch das Problem, das ich mit dem Referendum habe: Grundsätzlich muss ich auf das bekannte Zitat des ermordeten israelischen Ministerpräsidenten Rabin verweisen, das dem Sinn nach besagt: Frieden kann man nur mit dem Feind schliessen, und diesen kann man sich nicht aussuchen. Selbst Putin spricht ja von einem politischen Prozess, weil der Konflikt militärisch nicht lösbar ist. Das heisst aber, dass die andere Seite beim Gestalten der Verfassung und bei Wahlen Zugeständnisse erhalten muss, damit der Prozess Ausdruck eines gemeinsamen Bemühens wird. Das ist der Schlüssel des Erfolgs, und darum hat Russland ein Interesse, das Maschadow-Lager mit einzubeziehen.
Mein Eindruck ist, dass sich die grosse Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung wie in einem Sandwich, zwischen verschiedenen gewalttätigen Kräften eingeklemmt, fühlt. Jeden Tag gibt es Tote, und das Volk will diese Gewalt überwinden. Mit einem Prozess, wie ich ihn skizziert habe, könnte man die Gewalt überwinden. Vielleicht stellt sich später, in wirklich freien Wahlen, dann einmal heraus, dass Maschadow seine Legitimation verlor, weil er die Gewalt eben nicht überwinden konnte. Zurzeit aber haben beide Seiten auf ihre Art eine Teillegitimation, und sie müssen beide in den Prozess zur Schaffung einer wirklich legitimen politischen Behörde einbezogen werden. Die Tatsache, dass auf der einen Seite das Maschadow-Lager nach den Worten Maigows die territoriale Integrität der russischen Föderation und den Rahmen der russischen Verfassung respektiert und sich vom Terrorismus distanziert, dass auf der anderen Seite Kosak sagte, er begrüsse die Initiative des Europarats, stimmt mich jetzt zuversichtlicher als ich vor der Reise war.
Den Teufelskreis von Gewalt zu durchbrechen, ist auch darum so schwierig, weil der Krieg nicht zuletzt ein lukratives Geschäft ist.
Offensichtlich profitieren ganz viele Gewalt ausübende Gruppen von Geschäften mit dem Krieg, und das ist einer der Gründe, warum es so schwierig ist, diesen Krieg zu beenden. Soll dieser Versuch gelingen, muss man nicht nur politisch denken, sondern auch die Frage untersuchen, wie man den Beteiligten eine Existenz in friedlichen Verhältnissen ermöglichen kann. Dazu gehört beispielsweise die Armeereform in Russland, damit die Offiziere nicht mehr von der Korruption abhängig sind. Dazu gehört auch, was die EU laut der Europäischen Kommission versucht: Tschetschenien mit Hilfsprogrammen aus der Kriegswirtschaft herauszuholen. Dann wäre auch das Problem behoben, dass über 90 Prozent der tschetschenischen Vertriebenen in Inguschetien nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen, weil es da für sie keine wirtschaftliche Existenz gibt.
Andreas Gross
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