6. März 2003
Für das Sub-Committee on Strengthening of Democratic Institutions, Paris
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Answers to the Questionnaire - On the problems concerning the functioning of democratic institutions by the Chairman
Concerning Switzerland
from Andreas Gross
Ich habe zwei konzeptionelle Vorbemerkungen anzubringen, bevor ich auf die einzelnen Fragen des Subkommissionspräsidenten eingehen möchte; die eine betrifft die Methode, die andere unsere Sache, die Demokratie.
Methodisch bin ich davon überzeugt, dass sich das eigene Besondere und Spezifische nur über den Vergleich dieses Eigenen, Bekannten, mit dem Anderen, wenn auch weniger Bekannten, erschliesst. Das heisst, ich werde die Fragen mit Bezug auf die Schweiz beantworten in dem ich sie gleichzeitig mit jener Wirklichkeit der Demokratie vergleiche, die ich als Lehrbeauftragter und Politiker in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern Westeuropas zu kennen glaube.
Zweitens bedeutet für mich die Demokratie ein Ensemble von vielen verschiedenen Rechten, Verfahren und Leistungen, welche Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung, ebenso ermöglichen wie faire Lebenschancen für alle und ein möglichst gewaltfreies Austragen der mit Freiheit notwendigerweise verbundenen Konflikte. Die Qualität der Demokratie besteht also aus dem Zustand und der Qualität vieler verschiedener Elemente der Demokratie. Die zu verbessern gilt unsere permanente Anstrengung. Die Demokratie ist für mich in diesem Sinne ein Prozess in Richtung einer besseren Demokratie, im Wissen dass eine perfekte Demokratie nie geben wird.
Das heisst, es geht heute darum festzustellen, inwiefern die Demokratie unvollendet ist und verbessert werden könnte, im Wissen, dass eine vollendete Demokratie auch in Zukunft nie geben wird.
1. Frage: Vertrauen in die Demokratie
Die Volksrechte, das heisst die wichtigsten Elemente der Direkten Demokratie (Volksinitiative und das Referendumsrecht) gehören immer noch zu den beliebtesten Einrichtungen der Schweiz. 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger möchten sie nicht missen - auch wenn sie diese nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit nutzen.
Die Gewissheit, in einer Demokratie zu leben, in der man sich zu jeder wichtigen politischen Entscheidung direkt und nicht nur mittels der eigenen Vertreter im Parlament äussern kann, ist zentral für das schweizerische Politik- und Staatsverständnis und wird von niemanden in Frage gestellt. Dies entspricht dem schweizerischen politischen Machtverständnis: Macht soll möglichst vielfältig gebrochen und auf viele verschiedenen Instanzen und alle Menschen verteilt werden (Weitgehender Föderalismus und Gemeindeautonomie, weitgehende partizipative Rechte der Bürgerinnen und Bürger).
Die Beteiligung an den alle vier Monate stattfinden Volksabstimmungen war in den vergangenen 20 Jahren höher als die Beteiligung an den Wahlen. Letztere werden oft als weniger wichtig angesehen als die wichtigsten Volksabstimmungen, von denen es jedes Jahr etwa ein halbes Dutzend gibt (Insgesamt stimmen das Volk in der Schweiz innerhalb einer vierjährigen Legislaturperiode über insgesamt etwa 40 Vorlagen ab, immer Verfassungsänderungen oder neue Gesetze, beziehungsweise Gesetzesänderungen, zu denen eine Minderheit - 1,1 % der Wahlberechtigten, innerhalb von drei Monaten nach Beschluss der Gesetzesrevision die Volksabstimmung verlangt hat.)
Nicht unbedingt die Beteiligung an Volksabstimmungen oder Wahlen nahm in den letzten zehn Jahren ab, sondern der Stellenwert und die Achtung der Politik im Alltag und in der Wertschätzung der Menschen nahm ab. Dies hat m.E. sehr viel mit der Entmachtung der Politik durch die Wirtschaft und der Transnationalisierung der für das Alltagsleben der meisten BürgerInnen wichtigen Entscheidungen zu tun. Auch widmen sich nicht mehr so viele Bürger so sehr der Politik, weil sie an der Arbeit mehr gefordert werden, in der Freizeit müde sind und nicht mehr die Energie haben, an Versammlungen zu gehen, oder an Sitzungen und in politischen Vereinen und Organisationen intensiv mitzutun.
Diese Entwicklung stellt vor allem das für die Schweiz wichtige Milizsystem in Frage; denn die schweizerische Demokratie lebte bisher von der freiwilligen und unentgeltlichen Arbeit von Hunderttausenden von Menschen, die sich dazu je länger je weniger in der Lage sehen.
2. Frage: Die grössten Gefahren für die Demokratie
Ich persönlich sehe zwei grosse Gefahren für die Demokratie in der Schweiz:
Die eine betrifft das weltweit absolut einzigartige Paradox, wonach die Parteien in der Schweiz zwar gefordert sind wie sonst nirgends auf der Welt - alle vier Monate müssen sie grosse und vielfältige Kampagnen führen zur Überzeugung der Stimmberechtigten - doch der Staat tut fast nichts zur Finanzierung dieser grossen Arbeit. So werden die Parteien in der Schweiz immer schwächer , können ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen und werden von geldmächtigen anderen Organisationen, meist Interessenverbänden abgelöst.
Die Schweiz muss auf allen Ebenen viel mehr investieren in die Qualität, die Fairness und die Effizienz der Meinungs- und Willensbildung vor Abstimmungen, weil die Qualität des Ergebnisses von Volksabstimmungen viel mit der Qualität des Prozesses zu tun, durch den diese zustande kommen.
Die zweite grosse Gefahr liegt in der zunehmend brutaler werdenden und die Menschen in einen totalen Anspruch nehmenden Arbeits- und Wirtschaftswelt, in denen die Menschen sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlen. Wie sollen sie sich in der Politik, nach der Arbeit, souverän fühlen, wenn sie in der Arbeit als willenslose Objekte behandelt fühlen?
Drittens würde ich als die grösste Gefahr neben dem realen Primat der Ökonomie auch die totale Hegemonie des wirtschaftlichen Denkens nennen, welche das Besondere und der Demokratie und der Politik Eigene und Besondere völlig verkennt und damit unterminiert. Wenn die Menschen sich in der Politik nur noch so verhalten wie in der Wirtschaft, dann geht die Demokratie total kaputt.
3. Frage: Bedeutung der lokalen Selbstverwaltung
Die lokale und regionale Selbstverwaltung ist in der Schweiz besonders gross. Es gibt in Europa und meines Wissens auf der ganzen Welt keinen anderen Staat, der so viel Macht und Entscheidungsbefugnisse an die Regionen (Kantone) und die Gemeinden delegiert hat. Letztere beide setzen 60 Prozent aller öffentlichen Gelder in der Schweiz um!
Die Schweiz mit 7,3 Millionen EinwohnerInnen ist in 26 Kantone (der grösste umfasst 1,1 Mio. Einwohner, der kleinste 13'000!) eingeteilt und kennt fast 3000 Gemeinden, wobei die grösste 360'000 Einwohner hat und die kleinsten weniger als 100!
Obwohl eine leichte Zunahme der Zentralisierung zu beobachten ist, wird diese extreme Sensibilität für die Autonomie der Kantone und der Gemeinden nicht verloren gehen. Allerdings gerät sie immer wieder in Widerspruch zu ökonomisch- effizienten Massstäben der Lösung öffentlicher Aufgaben. Auch entsprechen die Kantone längst nicht mehr den Lebenswelten der Menschen. Doch eine Änderung der Bedeutung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung wird noch viel Zeit und Energie verlangen.
4. Frage: Die demokratische Beteiligung der BürgerInnen
Das politische Bewusstsein und die politische Beteiligung der Schweizer Bürgerinnen und Bürger ist im Vergleich zu allen anderen europäischen Staaten überdurchschnittlich hoch, die politische Entfremdung unterdurchschnittlich. Dies äussert sich auch in der Art, wie und wo und welche Leute überall wo sie einander begegnen jeden Tag über Politik sprechen, urteilen und tätig sind.
Der Anteil derjenigen, die dies täglich und regelmässig tun, nimmt sicher eher ab; dennoch können auch jene eingreifen und sie wissen, um ihre Möglichkeiten, die nicht immer stimmen gehen oder sich täglich orientieren und mitwirken.
Die Schweiz hat eine der höchsten Vereinsdichten und überdurchschnittlich viele Organisationen der Zivilgesellschaft. Wie oben angesprochen kommen diese jedoch durch den zunehmenden Alltagsansprüche der Menschen unter Stress.
Selbstverständlich gibt es soziologische Unterschiede im Grad und Ausmass der Beteiligung: Je besser die Menschen ausgebildet sind und je besser es ihnen ökonomisch geht, um so regelmässiger beteiligen sie sich. Die Städter etwas weniger und anders als die Landleute, die Agglomerationsbewohner unterdurchschnittlich. Die Älteren mehr als die Jüngeren, die Familienerziehenden Generationen am unterdurchschnittlichsten. In der Deutschschweiz ist die regelmässige Beteiligung etwas grösser als in den lateinischen Minderheiten , die sich noch ohnmächtiger fühlen als die anderen. Diese Unterschiede sind schwieriger zu ergründen und haben viel mit Geschichte, Traditionen und Kulturen zu tun.
5. Frage: Bewusstsein des Wandels und Handlungsperspektiven
Das Bewusstsein um den Wandel der politischen und demokratischen Kultur gibt es. Die Schweiz hat in den vergangenen zehn Jahren ein grosses Bewusstsein der eigenen Krise entwickelt. Es gibt dazu eine stetige kleine öffentliche Diskussion.
Doch es mangelt an der Fähigkeit und dem Willen nach der gemeinsamen Suche der Reformperspektiven und Lösungen, für die Mehrheiten in der Bevölkerung angestrebt werden. Auch sind die Perspektiven zu unterschiedlich, die Analysen noch zu disparat und vielleicht auch der Leidensdruck noch zu klein, so dass noch keine gemeinsamen Reformstrategien entwickelt worden sind.
Dies scheiterte bisher wohl an der damit zusammenhängenden Europafrage, welche die Schweiz spaltet und die Reformfähigkeiten negativ belastet.
6. Frage: Rolle populistischer Parteien
Die grösste der vielen schweizerischen Parteien - wobei in der Schweiz auch grosse Parteien im europäischen Vergleich klein sind, weil noch fast nie eine schweizerische Partei im 20.Jahrhundert einen Wähleranteil von national über 30 Prozent erreichte, einzelne kantonal aber schon über 40 Prozent kommen -, die SVP mit 23 Prozent, ist eine nationalkonservative Partei, mit populistischen, antisystemischen und teilweise auch populistischen und rechtsnationalen Diskurselementen und politischen Positionen. Sie wird soziologisch von den besser gestellten Aufsteigern und vor allem von vielen ärmeren Modernisierungsverlierern gewählt, die aber ein ungebrochenes nationales (Selbst-)Bewusstsein ein und die glauben, von der Schweiz alles verlangen zu können, was sie für richtig halten. Sie verhalten sich politisch so, als ob die Realität vor 40 Jahren stehen geblieben wäre.
Die demokratischen Traditionen und Kulturen sind aber bisher in der Schweiz gross genug, dass auch die SVP der schweizerischen Demokratie nicht gefährlich werden kann; auch wenn sie den nationalen Zusammenhalt einmal durchaus gefährden könnte.
Solange die Europafrage für die Schweiz noch nicht gelöst ist, so lange wird diese SVP noch stärken werden können. Ich schätze bis zu 33 Prozent. Dies wird die Polarisierung in der schweizerischen Politik noch weiter akzentuieren und bald auch zu einer Veränderung des Regierungssystems führen mit klareren Mehrheits- Minderheitspolarisierungen. Allerdings wird die Direkte Demokratie weiterentwickelt, aber nicht grundsätzliche in Frage gestellt werden, denn keine einzige der fast einem Dutzend Parteien in der Schweiz spricht sich für deren Abschaffung aus.
Durch die ständige Diskussionsbereitschaft aller, auch durch die mögliche Thematisierung und intensive öffentliche Diskussion aller möglicher, auch radikaler und fundamentalistischer Fragen und des offenen politischen Systems ist die Stabilität des schweizerischen Systems gross und das Absorptionsvermögen der Demokratie gross und deren prinzipielle Gefährdung durch die Akteure klein.
7. Frage: Bedeutung der Bildung
Ich bin überzeugt, dass die Bildung und die Ausbildung ganz entscheidende Faktoren sind zur Bewältigung der Krise der Demokratie und zur Realisierung der Reform der Demokratie. Denn wir müssen viele wichtige Entscheidungen gemeinsam fällen und dies ist anders als ein kollektiver politischer Lernprozess gar nicht zu schaffen.
Allerdings gilt es einen elitären und idealistischen Bildungsbegriff zu vermeiden. Am meisten bilden andere Erfahrungen und neue Erfahrungsmöglichkeiten. Zudem ist die Konkurrenz um die unbesetzte, nicht erschöpfte (Frei)zeit der Menschen enorm und dies haben jene vielleicht noch zu wenig zur Kenntnis genommen, die in der Bildungsarbeit stecken und diese auch so wichtig finden für die Zukunft der Demokratie wie ich.
Andreas Gross
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