15. Februar 2003

Der Bund, Bern

Mein Proviant für die Zukunft

Von Andreas Gross

Ich bin überzeugt, dass wir für den Aufbau eines demokratisch verfassten und föderalistischen Europa enorm viel aus der Geschichte lernen können. Eine besonders reichhaltige, bisher unausgeschöpfte Quelle nützlicher Erfahrungen und zukunftsträchtiger Impulse ist die Schweizer Geschichte zwischen der Französischen Revolution und dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 - dem Moment, da die progressiven Energien der Gründer der modernen Schweiz erschöpft schienen.

Doch müsste ich die geschichtlichen Impulse für meine Europa-Utopie an Daten festmachen, käme die Mediationsakte von 1803 weit hinten. Bestimmt hat Napoleon die Schweiz vor dem Schlimmsten - einem schweizerischen Fürstentum oder Königreich - gerettet. Glücklicherweise bewahrte er die von den alten Eidgenossen beherrschten Untertanen vor dem Rückfall in die Unfreiheit und schuf die fünf neuen Kantone. Und selbst wenn der restaurative Bundesvertrag von 1815 noch schlimmer war: Die Mediationsakte hatte Diktatcharakter, beruhte auf militärischer Gewalt und machte aus der Schweiz ein Gut, über das der Herrscher Frankreichs im Wesentlichen verfügen konnte. Das ist die böse Alternative zu einer Partnerschaft von eigenständigen, freien Grössen.

Europa im Jahr 2040

Wer die Geschichte als Anregung verstehen möchte, muss wissen, was er lernen möchte. Drei grosse Errungenschaften möchte ich in der Europäischen Gemeinschaft der vielleicht 45 Staaten im Jahr 2040 aufgehoben haben:

Erstens eine demokratische Struktur, die jeden alten Staat und viele alte Regionen sich selber sein und doch Teil eines grösseren, neuen Ganzen werden lässt, in dem sich alle wiedererkennen können.
(«Neuer europäischer Föderalismus»)

Zweitens eine Verfassung, die so ausgestaltet ist und verändert werden kann, wie es sich eine Mehrheit der Europäerinnen und Europäer wünscht.
(«Transnationale republikanische Demokratie»)

Drittens sollte dieses Europa Teil sein einer globalen Rechts- und Sozialordnung, in der jedes Individuum gegenüber jeglicher Macht über die grundlegendsten bürgerlichen, sozialen, ökologischen und partizipativen Rechte verfügt, die in allen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen berücksichtigt werden müssen.
(«Kosmopolitische Demokratie»)

Erfahrungen, Errungenschaften

Als Wegzehrung für die Arbeiten an dieser Zukunft sind die Erfahrungen und Errungenschaften, die sich unter folgenden Daten erinnern lassen, inspirierender als jene von 1803: Ich denke vor allem an 1776 und die ersten Verfassungsgebungen in Nordamerika, an 1777, als in Georgia erstmals eine Art Verfassungsinitiative aufgenommen wurde, an die Verfassungsentwürfe der Französischen Revolution von 1791 und 1793 mit ihren direktdemokratischen Elementen, an die Genfer Verfassung von 1791, an die Helvetik und die erste schweizerische Volksabstimmung über die zweite helvetische Verfassung von 1802, die regenerativen Volksbewegungen und Verfassungen der 1830er-Jahre, die radikalen Bewegungen in der Waadt und in Bern zwischen 1845 und 1847, die Bundesverfassungsgebung von 1847 und 1848, an die grossen direktdemokratischen Volksbewegungen und eigentlichen demokratischen Revolutionen in den Kantonen (vor allem Baselland und Zürich) der 1860er-Jahre sowie ihre Folgen im Bund.

Die schweizerischen historischen Erfahrungen sind vor allem für die Entwicklung von Föderalismus und partizipativer Demokratie äusserst hilfreich. Ich bin überzeugt, dass jede Gesellschaft in ihrer Geschichte Erfahrungen gemacht hat, die sie in den europäischen Verfassungsgebungsprozess einbringen können sollte. Je umsichtiger dies geschieht, umso eher kann sich jeder Gliedstaat mit der kommenden europäischen föderalistischen Ordnung identifizieren und so zu seiner Integration beitragen.

Andreas Gross



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