28.01.1989
Aus: A.Gross e.a. (Hrsg.): Wegmarken im Nie- mandsland. Zur Zukunft der Sozialdemokratie. Realotopia-Verlag 1989
ISBN 3-9075-8601-8
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Plädoyer für eine neue politische Kultur der SP
Drei Beispiele für ein Problem und ein Thema. Das Problem: Die SP; das Thema: Europa. Drei Beispiele zur Diskussion von Fragen wie: Wie geht die SP mit einer aktuellen, offenen Herausforderung um? Wer tut was in der SPS, damit die Partei diese Herausforderung so bestehen kann wie dies ihrem politischem Anspruch als linker Reformbewegung entspricht?
Oder etwas abstrakter: Welche politische Kultur zeigt sich gegenwärtig im Umgang der SP mit der Herausforderung "Europa"? Bildet sich in diesem Umgang einfach die herrschende politische Kultur der Schweiz ab, oder vermag die SP eine eigene politische Kultur zu entwickeln und der herrschenden entgegenzustellen?
Beispiel Nummer eins: Ein junger Schüler besucht einen aktiven Sozialdemokraten in einem kleinen Städtchen des Zürcher Oberlandes. Dieser war ihm vom Lehrer als Auskunftsperson genannt worden. Den Schüler interessiert die Sozialdemokratie. Er muss einen Vortrag über sie schreiben. Bevor er den Genossen aufsucht, schaut er sich noch die neueste Ausgabe seiner Zeitung an. Dabei entdeckt er eine Agenturmeldung, aus deren Inhalt er im SP-Haus gleich die erste Frage stellt: Jetzt habe er doch in der Zeitung eben die Reaktionen der Parteien auf den bundesrätlichen Europabericht gelesen, meinte der Schüler zum SP-Mann und fragte: "Dabei hat sich die SP von den anderen Parteien höchstens rhetorisch unterscheiden lassen. Doch wie steht es mit eurem Internationalismus? Der ist euch doch immer wichtig gewesen. Wie drückt sich der heute aus im Zusammenhang mit der Europafrage? Und überhaupt: Unterscheidet sich die SP denn nicht von den anderen Parteien im Bundesrat? Gibt es denn keine Opposition, keine Alternative, wenn ihr doch mit den anderen in der Regierung sitzt?"
Der SP-Genosse antwortete dem Schüler, wie wir alle antworten würden: Differenziert, mit viel Bezug aufs schweizerische politische System, mit Mitgefühl für die Suche nach einer sichtbaren Alternative, ohnmächtig, sie nicht deutlicher machen zu können, kritisch gegenüber der Bundesratsbeteiligung, resigniert, daran nichts ändern zu können, und doch hoffnungsvoll. Ob er damit Erfolg hatte bei einem jungen Mann, der sich für die SP sehr interessierte, was so häufig doch auch nicht mehr vorkommt heuzutage?
Beispiel Nummer zwei: Im Juni 1988 organisierte auch die SPS eine Europa-Tagung. In Bern, im Bahnhofbuffet, für Genossinnen und Genossen aus der ganzen Schweiz, die verhältnismässig zahlreich erschienen. Mit ganz wenigen Ausnahmen allerdings fehlten die aussenpolitischen Köpfe der SPS der vergangenen Jahre: Renschler, Blum, Braunschweig, Richard Bäumlin, Pitteloud, Strahm, Ziegler; von den künftigen aussenpolitischen SP-Köpfen unter der Bundeshauskuppel zog Thomas Onken eine andere Tagung vor, Hans Zbinden und Paul Rechsteiner fehlten, präsent waren dafür die Genossinnen Angeline Fankhauser, Doris Morf und Ursula Bäumlin, die sich dafür bundesrätliche Abkanzelungen einholten. Auch aus der Romandie referierte niemand, obwohl die welschen SP-Kantonalparteien die "EG-Frage" als erste schon vor den Nationalratswahlen thematisiert und sich ganz offiziell für den Beitritt der Schweiz in die EG ausgesprochen hatten. In der Deutschschweiz war diese Position allerdings kaum zur Kenntnis genommen worden. In ihr drückt sich denn auch ein weiterer Aspekt jener anderen politischen Kultur aus, wie sie jenseits des Röstigrabens in einem viel grösseren Ausmass besteht, als uns Deutschschweizern bekannt ist. Dafür war an der SPS-Tagung viel Bekanntes aus dem Europarat, der SPD und sozialpolitische Rhetorik aus Brüssel zu hören. Der einzige Sozialdemokrat, der versuchte, sich gedanklich an die Grenzen gegenwärtiger eidgenössischer Europapolitik heranzutasten, war ausgerechnet der sozialdemokratische Bundesrat Felber. Auch wenn er nichts spezifisch Neues sagte, das nicht zumindest zwischen den Zeilen von ihm schon zu lesen war. Doch dies reichte schon für seine Avantgarde-Rolle an einer parteiinternen Tagung! Ausgerechnet der bundesrätliche Genosse als intelektuelle Spitze und mutigster Denker der Sozialdemokratie? Wo war die Partei als "Forum der offenen Diskussion", welche ihren Vertretern Impulse und Perspektiven aufzeigen sollte und deren geistige Nahrungsquelle doch nicht ausschliesslich das Bundesratszimmer sein kann?
Wenn das der Schüler aus Pfäffikon gewusst hätte? Und wenn dies dem Genossen bewusst gewesen wäre, den er aufsuchte auf der Suche nach der oppositionellen und kämpferischen Sozialdemokratie?
An der Regierungsbeteiligung allein kann es also nicht liegen. Denn wäre Felber nicht Bundesrat gewesen, er hätte bestimmt nicht an der Tagung teilgenommen. Wer hätte sich dann aber für und mit den GenossInnen an die Grenzen der politischen Möglichkeiten herangetastet? Wer hätte diese formuliert als Voraussetzung für die Diskussion der Möglichkeiten, um sie zu erweitern? Darum geht es doch heute für die hundertjährige Partei. Sachlich in mehr Politikbereichen als ihr lieb sein kann. Mit immer weniger Genossinnen und Genossen, die ihr zutrauen, dies zu können, was dann ihre Aufgabe auch nicht sehr erleichtert.
Dazu noch ein drittes Beispiel: "Urschrei", eine Gruppe politisch interessierter junger Erwachsener aus dem Fricktal, möchte im Frühjahr 1988 einen zweiteiligen Europa-Zyklus durchführen. Im ersten Teil soll es um die Landwirtschaftspolitik gehen, im zweiten sollen grundsätzliche Fragen zum Verhältnis Schweiz und EG zur Sprache kommen. In diesem zweiten Teil soll der grosse Holzschnitzer und SVP-Polterer Christoph Blocher (Nationalrat) einem Sozialdemokraten, beziehungsweise einer Sozialdemokratin, gegenübergestellt werden. Einer der aktiven Mitglieder von "Urschrei", der seine Basis übrigens vor allem dank einem erfolgreichen Musikfestival fand und diese Basis auch politisch sensibilisieren und vor allem informieren möchte, ist ein ehemaliges Mitglied der SP Aargau und übernimmt als solches die Suche nach dem sozialdemokratischen Blocher-Kontrahenten. Leichter gesagt denn getan. Denn unser Freund muss mehr als ein volles Dutzend prominente SP-Mitglieder anrufen, bis er schliesslich fündig wird. Bei fast einem Viertel der SP-Bundeshausfraktion musste er sich nur Absagen anhören. Und zwar nicht einfach aus terminlichen Gründen. Nein, der Tenor war, schier unglaublich: "Der Blocher ist ja gegen einen EG-Beitritt, ich bin auch nicht für den Beitritt der Schweiz zur EG, also lohnt sich die Diskussion mit ihm gar nicht!" Wirklich? Geht es bei der "Europafrage" nur um die sterile Alternative "Beitritt Ja oder Nein"? Hat ein SP-Nationalrat dem SVP-Extremisten Blocher wirklich keine eigene sozialdemokratische Position entgegenzustellen? Und dies ausgerechnet in einer der heikelsten Problembereiche der schweizerischen Gegenwart, in dem sich sozialdemokratische Politik sowohl formulieren wie bewähren muss? Oder anders herum: weshalb soll ein junger Fricktaler 1991 bei der nächsten Nationalratswahl SP wählen, wenn ein SP-Nationalrat es heute nicht nötig findet, Blocher europapolitisch eine eigene sozialdemokratische Position gegenüberzustellen? Spielt es wirklich keine Rolle, ob ein Mitglied der SVP oder der SP über Europa nachdenkt und eine Europapolitik entwickelt für die Schweiz?
Als ein viertes und letztes Beispiel für die Unzulänglichkeit der Art, wie die SPS die Herausforderung Europa anging, liesse sich noch anfügen, dass die Geschäftsleitung der SPS schon vor den Nationalratswahlen im Herbst 1987, als das Thema in der Offentlichkeit noch nicht so heiss war, sich von der aussenpolitischen Kommission ein "Positionspapier" zum Thema schreiben liess. Dieses Papier trug aber den Stempel des damaligen Präsidenten der Kommission, eines jüngeren aufstrebenden Diplomaten aus dem Hause Aubert. Es kam auf wenigen Seiten zum Schluss, dass es aus sozialdemokratischer Sicht an der Position des Bundesrates zur EG weder wesentliches zu kritisieren noch hinzuzufügen gäbe.
Dieses Papier deutet immerhin darauf hin, dass in der SPS-Geschäftsleitung gespürt worden war, dass da ein offenes Thema auf einen "zukam". Dies wohl auf Grund der Beobachtung, dass sich die Welschen schon mit der Frage beschäftigten und dezidiert für die EG Stellung nahmen, als dies in der deutschen Schweiz selbst in Politikerkreisen noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen worden war. Die unterschiedliche Kadenz in der Wahrnehmung des Problems dürfte auf den EG-Drive zurückzuführen sein, den EG-Kommissionspräsident Delors in Frankreich zu entwickeln verstand.
Doch das SPS-Positionspapier enthielt keinerlei Ansätze zu einer grösseren Debatte, noch animierte es die Parteileitung, intern und extern darauf einzugehen. Bezeichnenderweise war es denn auch 1988, als das Thema in der Deutschschweiz erst aufgenommen wurde, keine Hilfe mehr und fand auch an der Tagung im Juni keinerlei Erwähnung. Wohl auch im Hinblick auf einen sorgsamen Umgang mit knappen Ressourcen in der Partei kein nachahmenswertes Beispiel!
Ich habe diese Beispiele nicht gewählt, um die SPS der Lächerlichkeit preiszugeben. Doch "Europa" ist gegenwärtig für die Schweiz im allgemeinen und für die SPS im besonderen eine Herausforderung, der beide ausweichen und nicht gerecht zu werden verstehen. Eine Herausforderung, der sich aber gerade die SPS zu stellen hätte, wenn sie ihrem Anspruch als Reformbewegung im Interesse der Lohnabhängigen gerecht werden will. Als politische Kraft, welche die Gesellschaft rechtzeitig für notwendige Neuerungen zu öffnen und veränderte politische Verhältnisse in neue Lebenschancen umzusetzen vermag. Insofern ist "Europa" für die SPS wohl nur ein Beispiel unter vielen. Doch lässt sich daran zeigen, wie die SPS in ihrer politischen Kapazität wieder auf die Höhe der Zeit kommen könnte.
Dies zu zeigen, möchte ich versuchen, indem ich anhand "Europa" ausführe, was ich unter einer "neuen, sozialdemokratischen politischen Kultur" verstehe, und welche Bedeutung ihr im Hinblick auf eine neue SPS, die ihre reformerische politische Kraft wieder findet, zukommen könnte. Indem wir der Frage nachgehen, weshalb die SPS und mit ihr auch die Schweiz an "Europa" zu scheitern droht, wenn sie in den kommenden Jahren nicht schleunigst nachholt, was sie bisher unterlassen hat, können wir im Hinblick auf kommende Herausforderungen lernen, sie fruchtbarer und zügiger anzugehen.
Was heisst "neue politische Kultur"?
Dazu eine Anmerkung zum mittlerweile in der Umgangssprache zum Allerweltsbegriff verkommenen Ausdruck "politische Kultur". Er meint nicht einfach den politischen Stil, auch nicht bestimmte gesittete Umgangsformen in der Politik und anderswo. Unter "politischer Kultur" ist ein ganzes Ensemble von Meinungen, Werthaltungen und Einstellungen zu verstehen, die zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt kleinere und grössere Gruppen von Menschen prägen. Sie bilden mit anderen Faktoren zusammen die Grundlage für politisches Handeln. Politische Kultur will sozusagen die subjektive Seite des politischen Handelns auf den Begriff bringen.¹
Für ein kommunikativeres Parteiverständnis
Eine neue politische Kultur der SPS würde sich also die Veränderung dieser handlungsleitenden Einstellungen der Akteure vornehmen. Dabei interessiert mich vor allem die Entwicklung kommunikativerer Haltungen und Einstellungen. Das heisst, statt zu versuchen, neue Probleme einfach abzustreiten, auszusitzen oder so lange vor sich herzutragen, bis deren Lösung einem von anderen aufgezwungen werden - alles realexistierende Arten sozialdemokratischer "Problemlösungen", für die sich Belege aus den vergangenen zehn Jahren finden liessen -schlage ich einen kommunikativeren Ansatz zur Problemlösung vor: Offen und öffentlich die Schwierigkeiten sowie die vorläufigen Ansichten formulieren und artikulieren sowie im immer wieder stattfindenden Austausch dieser Meinungen Perspektiven entwickeln, die den herrschenden Vorschlägen, beziehungsweise den Vorschlägen der Herrschenden, eigene sozialdemokratische Reformansätze entgegenstellen.
Die SP als "kollektive Intellektuelle"?
Selbstverständlich habe ich bei einem solchen Vorschlag eine bestimmte Partei-Konzeption im Hinterkopf. Ich beziehe mich auf Antonio Gramsci, der seiner sozialistischen Partei empfahl, eine Art "kollektive Intellektuelle" zu werden. Das heisst im Kollektiv, gemeinsam zu versuchen, was die Intellektuellen alleine tun sollten, was sie aber nicht erst heute alleine nicht mehr schaffen, nachzudenken, zu analysieren und zu diskutieren, nicht mit dem ersten Blick zufrieden zu sein, nachzubohren, neue Lösungen vorzuschlagen und bereit zu sein, diese auch wieder im Lichte neuer Erkenntnisse kritisch zu befragen und zu modifizieren. Offen gegenüber anderen Meinungen sein, Erkenntnisse anderer kritisch miteinbeziehen und doch selbstbewusst und dezidiert öffentlich so gewonnene, eigene Positionen vertreten.
Ein solch kommunikatives Parteiverständnis entspricht sowohl den Erfordernissen unserer Zeit, der berühmten "Wende-zeit", in der so manche bisher scheinbar gesicherte Erkenntnisse mit Fug und Recht in Frage gestellt und neu überdacht werden müssen.
Es entspricht aber auch der Suche vieler Menschen nach neuer Orientierung, gerade unter jenen, die wir ansprechen möchten. Sie lassen sich jedoch nicht mit schnellen Antworten auf schwierige Fragen gewinnen. Ihre Skepsis lässt sich wiederum nur in intensiven Gesprächen und Auseinandersetzungen, von denen auch wir wieder lernen können, überwinden.
Schliesslich glauben auch viele Menschen, sie hätten einiges zu sagen, und möchten gehört werden. Gerade in einer Partei, die beansprucht, sie zu vertreten. Eine kommunikativere Partei entspricht also sowohl den derzeitigen objektiven Gegebenheiten als auch den subjektiven Befindlichkeiten vieler gegenwärtiger und potentieller Mitglieder, Wählerinnen und Wähler. Weshalb also nicht endlich diese Erkenntnis in praktische Politik umsetzen? Zumal im Spätsommer 1988 auch so wenig als Radikale zu verdächtigende Genossen wie der Oppositionsführer in Frankfurt, der ehemalige Manager und Minister Volker Hauff, von ganz anderen Ausgangspunkten her zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen kam, als er für die Frankfurter SPD eine neue politische "Identität" zu formulieren versuchte.
Mit Bezug auf ein intellektuelles Selbstverständnis können wir uns auch Michel Foucaults These zunutze und zu eigen machen, wonach es in den achtziger Jahren die vornehmste Aufgabe der Intellektuellen sei, so zu wirken, dass politisch mehr möglich wird. Es geht also nicht um die Anpassung an den grossen Strom, an die herrschenden Tendenzen, sondern um deren Erweiterung, um die Vergrösserung des Spektrums des politisch Möglichen. Oder mit schweizerischeren Worten: wir müssen versuchen, den Bereich dessen zu erweitern, was als "politisch realistisch" gilt. Dies können wir meines Erachtens aber nur in zahlreichen, offenen Diskussionen in grösseren und kleineren Kreisen, auf allen Ebenen, in- und ausserhalb der SPS.
Um nicht falsch verstanden zu werden: dies bedeutet nicht, dass wir eine "Kaderpartei" werden, dass irgendwer ausgegrenzt werden soll. Jenen, die nicht mitwirken möchten an diesen Diskussionsprozessen, sei es freigestellt, nur beim Entscheid zu der Verwirklichung der Ergebnisse der jeweiligen Diskussionsprozesse mitzuwirken wie bisher beispielsweise im Rahmen von Parteitagen beziehungsweise Delegiertenversammlungen. Doch wir haben heute viele Mitglieder, Sympathisantinnen und Sympathisanten, die eine grosse Diskussionsbereitschaft mit sich bringen, sich in solch gemeinsame Erkenntnisprozesse einbringen möchten, die dazu auch weitgehend qualifiziert sind und solche Orte des Austausches und der offenen, ernsthaften Debatte in unserer Partei heute vermissen.
Deshalb entspricht eine solche neue kommunikative politische Kultur sowohl den Bedürfnissen und Anliegen vieler Mitglieder wie auch unseren Möglichkeiten, die wir allerdings endlich nutzen müssen. Nur so können wir sowohl die Anpassung an den neokonservativen Status quo verhindern, in deren Verlauf wir noch mehr von "unserer politischen Seele" verlieren würden - ein Ausdruck von Jean Ziegler -, als auch dem sozialdemokratischen Expertokratismus à la Berner "Perspektivengruppe" entgehen, welcher das Fundament untergräbt, auf dem sozialdemokratische Erfolge wachsen: nämlich die Mobilisierungs- und Begeisterungskraft unserer Bewegung.
Experten betrachten Bürgerinnen und Bürger in erster Linie als Vollzugsorgane für ihre Beschlüsse, die eher ohne diese Bürgerinnen und Bürger zustande gekommen sind. Wir gehen davon aus, dass wir nur die für die meisten Menschen richtigen Lösungen finden, wenn wir mit diesen Menschen von vornherein zusammenarbeiten und deren Meinungen von vornherein in die Entscheidungsfindung miteinbeziehen. Was wir dabei an Konflikten und Arbeit auf uns nehmen, wird sich als Vorinvestition in eine erfolgreiche Verwirklichung der erarbeiteten Lösungen erweisen. Auf der Expertenebene haben konventionelle Vorschläge immer einen Vorsprung, weil sie näher beim Status quo liegen und im Unterschied zu uns von einem passiven, meist negativen Menschenbild ausgehen. Sozialdemokratische Vorschläge lassen sich auf institutioneller Ebene nur durchsetzen, wenn wir ausserhalb dieser Institutionen Menschen dafür mobilisieren und den Experten so zeigen, dass die Zeit reif ist für mehr als das, was ihnen eingefallen ist. Vor allem auch, wo Macht sich gegen bestimmte Einsichten stemmt, ist diese nur mit der Mobilisierung von Menschen zu überwinden (Kaiseraugst ist das schlagendste Beispiel dafür in der Schweiz der letzten 15 Jahre).
Auch die dritte derzeit zu beobachtende Gefahr, der opportunistische Ausgang aus dem sozialdemokratischen Dilemma, bietet keine Lösungen an. Dieser Opportunismus besteht darin, sich zu fragen, was wollen die Leute von uns hören, damit sie uns ihre Stimme geben. Dies ist zynischer Elektoralismus, um den eine grosse Partei möglicherweise bis zu einem gewissen Grad nie ganz herumkommt. Doch wenn eine sozialdemokratische Partei ihr Handeln weitgehend darauf beschränkt, dann gibt sie ihre Existenzberechtigung auf. Denn den Menschen nach dem Mund reden, können andere besser. Wir müssen die Menschen davon überzeugen, was wir mit einigen von ihnen als richtig erarbeitet haben. Das ist sozialdemokratische Politik alter, bester Schule.
Wir können gerade heutzutage die gegenüber institutioneller Politik mit Recht zunehmend skeptischer gewordenen Menschen nur erreichen, wenn wir jene, die wir mobilisieren möchten, von vornherein in unsere Arbeit miteinzubeziehen versuchen, und genau so ihre Meinungen in unseren gemeinsamen Erkenntnisprozess. Anders ist die für Sozialdemokraten so lebenswichtige Glaubwürdigkeit nur schwerlich wieder herzustellen.
Ein kommunikativeres Selbstverständnis ist nicht mit einer Schlagzeilen-Politik und täglichem Surfen auf allerlei Modethemen zu verwechseln. Es bedeutet ein offenes, neugierigeres Zugehen auf andere Meinungen - ausgehend von einer gemeinsamen, offen und transparent erarbeiteten Grundlage. Ich möchte am Beispiel "Europa" zeigen, was ich konkreter darunter verstehe. Denn das Beispiel "Europa" ist in dieser Beziehung für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besonders interessant. Werden doch angesichts der Europäisierung der politischen Entscheidungsprozesse in der Schweiz verschiedene wichtige alte Identitätsmerkmale der SPS in Frage gestellt. Deshalb müssen wir sie überprüfen und möglicherweise, zumindest zum Teil, neu definieren. Dies macht einen grossen Diskussionsbedarf deutlich, dem kommunikativ entsprochen werden muss. Sowohl zur inneren Stabilisierung der Partei auf einem neuen, zeitgemässen Erkenntnisstand und der Verbreitung eines entsprechenden Handlungsvermögens, als auch zur Attraktivierung nach aussen, indem wir zeigen, wie wir eine Europäisierung als Zukunftschance packen können, ohne bedeutsame schweizerische Eigenheiten und Errungenschaften aufgeben zu müssen.
Wie Europa als Chance zu begreifen wäre
"Europa" bietet die Chance, neu zu bestimmen, was wir unter unserem alten "Internationalismus" verstehen. Sofern wir davon ausgehen, dass er mehr als eine Sonntagsparole für die 1. Mai-Demonstrationen sein soll: eine Verpflichtung für die Alltagspolitik.
Ist jedoch unter "Internationalismus" die Fremdbestimmung der Schweiz von irgendeinem politischen Zentrum aus zu verstehen - früher von Moskau, jetzt von Brüssel oder Bonn? Gewiss nicht. Wir wollen keinen Internationalismus, der uns die Möglichkeit nimmt, uns politisch selbst zu bestimmen.
Inwiefern ist jedoch dieser Anspruch auf Selbstbestimmung, unser Wille souverän zu sein und souverän entscheiden zu können in einer Zeit, in der die Welt ökologisch, ökonomisch und in mancherlei Beziehung auch kulturell zu einem Dorf geworden ist, wirklich noch gänzlich aufrechtzuerhalten? Inwiefern muss die alte Innenpolitik im Lichte der neuen Weltinnenpolitik, zu der die Aussenpolitik gemäss Carl Friedrich von Weizsäcker geworden ist, neu definiert werden?
Bei "Europa" geht es um die Beantwortung genau dieser Fragen. Dabei ist eine politische Beantwortung notwendig. Andernfalls lassen wir uns einfach von der Okonomie treiben und gehen einer Weltwirtschaftsordnung entgegen, welche die Politik je länger desto mehr entmachtet. Jene, denen die Demokratie nicht gleichgültig ist, sind hier gefordert. Und wer sollte dies sein, wenn nicht wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten?
Deshalb denke ich, dass "Europa" für uns eine Chance ist, endlich anzupacken, was uns im 21. Jahrhundert ohnehin intensiv beschäftigen wird: die Relativierung der Souveränität des Nationalstaates, die Demokratie also. Doch was kommt danach, was soll statt dessen sein, wenn wir die Demokratie nicht abschaffen wollen, sondern sie auf einer neuen Grundlage neu organisieren müssen?
Im Kern des alten linken Internationalismus stand die Überzeugung, dass Sozialismus in einem Land nicht möglich ist. Er kann nicht gegen zu viele Gegner aufgebaut werden, gerade die bisherige Geschichte der UdSSR hat auch dies gezeigt. Er kann schon gar nicht auf Kosten anderer Völker geschaffen werden.
Daran können wir heute anknüpfen. Was für den Sozialismus gilt, gilt letztlich auch für den Frieden, die Freiheit und die Gesundheit.
Wie kann ich mich frei fühlen, wenn ich weiss, dass anderswo Menschen hungern? Zumal wenn ich weiss, dass andere hungern, weil meinesgleichen ihm zuviel von dem wegnehmen, was sie für ihre Existenzbasis nötig hätten. Solange weder wir nicht frei sein können und vielen anderen dafür sogar die elementarsten Voraussetzungen fehlen - eben weil wir zu viel von den globalen Ressourcen für unseren Lebensstil beanspruchen - kann auch kein Friede sein.
Mit anderen, klassischen Worten: Frieden müssen wir erst schaffen, indem wir die Ressourcen dieser Welt solidarischer teilen lernen. Indem wir die Lebenschancen anderer weniger schmälern, erweitern wir schliesslich auch die unsrigen. Wenn wir weniger für unsere vermeintliche "Sicherheit" den anderen wegnehmen würden, wäre unsere Existenz tatsächlich sicherer, hätte sie mehr Zukunft.
Schliesslich haben uns Tschernobyl und Tschernobâle bewiesen, wenn uns dies vorher nicht schon bewusst war, dass auch die für Frieden unter den Menschen unabdingbare menschliche Gesundheit innerhalb nationaler Grenzen nicht gefunden und aufrecht erhalten werden kann. Von "Frieden mit der Natur" gar nicht zu reden, denn die Natur kennt ohnehin keine Grenzen.
Wir sind also zur grenzüberschreitenden Kooperation verdammt. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, wenn wir den Kopf nicht in den Sand stecken wollen.² Der holländische Friedensforscher Hylke Tromp hat Friedenspolitik sogar als "Politik der Kooperation auf allen Ebenen" definiert im Gegensatz zur herrschenden Konfrontation.
Nutzen wir doch die Tatsache, dass im altmarxistischen Sinn erst die Wirtschaft den Schweizerinnen und Schweizern gezeigt hat, was sie vor wenigen Jahren bei der UNO-Beitritts-Diskussion noch glaubten negieren zu können: Die Schweiz kann sich nicht aus dieser Welt davonschleichen; zumindest zu Europa gehört sie ganz bestimmt und mit Europa zusammen muss sie lernen. Die Flüchtlinge zeigen uns, dass wir auch mit der sogenannten Dritten Welt lernen müssen, kooperativer zusammenzuwirken, ansonsten werden sie uns dazu noch zwingen.
Insofern kann also die Haltung Blochers gegenüber der EG, dieselbe die er schon bei der UNO-Debatte vertreten hat, keine sozialdemokratische Position sein. Wir können uns nicht einfach wieder ins helvetische Schneckenhaus zurückziehen, darauf zählen, dass der Liebe Gott mit seinen gütigen Augen auf seine lieben Schweizer achten wird, und erst noch stolz sein, dass die ganze Welt dennoch weiterhin mit uns geschäften will.
Doch Kooperation heisst nicht, allen Konflikten aus dem Weg gehen beziehungsweise dem Stärkeren das Sagen geben und klein beigeben. Das ist keine friedensfördernde Kooperation, sondern Subordination. Deshalb muss die sozialdemokratische "Europa"-Debatte von folgender Grundlage ausgehen: von der Notwendigkeit neuer Formen grenzüberschreitender Kooperation, auch unter teilweiser Einbusse der faktisch schon lange an-geritzten nationalen Souveränität, aber nicht ohne entschieden Fragen zu stellen nach dem Wie der internationalen Zusammenarbeit. Dabei müssen wir deutlich machen, was für uns in Sachen Demokratie und Förderalismus mit Recht sehr sensiblen Schweizer nicht in Frage kommt - uns allerdings dann auch in der Wirtschaftspolitik an solche Normen halten und nicht mit solchen Mächten kooperieren, die Menschenrechte mit Füssen treten.³
Offen für Europa - vorderhand kritisch gegenüber der EG
Konkret bedeutet dies für die gegenwärtige Debatte in der Schweiz: Die SPS muss deutlich machen, dass sie die Europüisierung nationalen Politiken begrüsst, darunter jedoch etwas anderes versteht als die simple Befürwortung der EG - ebenso wie deren blinde Negation.
Denn die EG ist nicht Europa. Zu Europa gehört auch das sogenannte Osteuropa und sogar ein Teil der Sowjetunion. Wir dürfen Europa nicht mit Westeuropa verwechseln, sondern müssen auch in der "Europa"-Debatte die alten Fronten des Kalten Krieges im Lichte von Glasnost überwinden.
Zudem ist die EG eine extrem zentralistische, undemokratische Organisation, in der die Minister der einzelnen Regierungen zu viel zu sagen haben, ohne dass sie von irgendeiner parlamentarischen Körperschaft - weder von nationalen noch vom europäischen Parlament - zur Verantwortung gezogen werden können, von direktdemokratischen Formen der Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger ganz zu schweigen. Ebenso die viel zu large, wenn auch im Vergleich zu früher dennoch griffigere EGUmweltpolitik, muss als kritischer Punkt angeführt werden wie die Tendenzen innerhalb der EG, eine dritte Supermacht mit entsprechendem militärischen Potential zu werden. Demzufolge müsste auch die EG-Forschungs- und Energiepolitik atomkritisch überprüft, und der Einfluss der multinationalen Konzerne auf die Brüsseler Bürokratie durchleuchtet werden.
Doch es ist bekannt, dass in allen EG-Ländern bedeutsame politische Kräfte diese Zustände in der EG kritisieren. Weshalb sucht die SPS nicht das Gespräch mit ihnen? Weshalb versuchen wir nicht eine "Europa"-Debatte über die EG hinaus zu formulieren mit allen Interessierten aus Ost und West?
Ich weiss, das sind vorläufig mehr offene Fragen als konkrete Perspektiven. Doch, wer sich nach Brüssel begibt und kritische Menschen hinter den Kulissen aufsucht, der merkt ganz anders als dies einem einfachen Zeitungsleser in der Schweiz möglich ist, dass sich gerade im Sinne der von linken und grünen Schweizerinnen und Schweizern erhofften Veränderungen einiges bewegt.
Doch es können derzeit von links her in diesem Zusammenhang kaum mehr als kritische Fragen auf der Basis einer kritischen Analyse aufgeworfen werden. Das Mehr müssen wir zusammen leisten. Darum ginge es ja gerade, wenn wir an diesem Beispiel eine neue, kommunikativere politische Kultur, vorerst einmal in und mit der SPS, aufbauen möchten. Wir müssen uns das eingestehen, was wir noch nicht wissen - und deshalb nicht einfach kapitulieren vor den Sachzwängen, sie vielleicht sogar internalisieren und als unausweichbar akzeptieren.
Es gibt übrigens Beispiele in der jüngeren Geschichte der SPS, wo bewusst oder unbewusst eine solche kommunikative Kultur mit entsprechenden Resultaten schon geschaffen werden konnte. So konnte in den vergangenen zwanzig Jahren das lange Zeit absolut polarisierende Thema der Atomenergie in unzähligen Debatten doch bewältigt werden - gerade weil es auch einen sozialdemokratischen Atomminister zu überzeugen galt, beziehungsweise sich die Partei unter dem Druck einer Basisbewegung diskursiv von ihm emanzipieren musste. Auch eine Folge dieser Debatte, die Regierungsbeteiligungsdiskussion, kann als Beispiel kommunikativer Politik angefügt werden; allerdings wurde das Thema vom Partei-Establishment erst dann akzeptiert, als er selber durch einen bürgerlichen Affront vor den Kopf gestossen worden war mit der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen - während das gleiche Partei-Establishment die Frage noch 1979/80, als sie wegen Willi Ritschard aufkam, noch unter der Decke halten wollte.
Auf kantonalzürcherischer Ebene konnte im Frühjahr 1987 durch intensive, tägliche Debatten in einem Ausschuss ein sozialdemokratisch nachgefragter Polizeieinsatz zur Räumung des eigenen, besetzten Sekretariates verhindert werden. Allerdings konnten die entsprechenden Argumente und Gründe der Parteibasis, welche zum Teil einem autoritären Vorgehen mit Hilfe der Staatsgewalt eher zuneigt, nicht auseinandergesetzt werden, da in jenen Wochen die Parteipresse für diese überzeugungsarbeit nicht zur Verfügung stand. Doch gerade Gewalt, zumeist Ausdruck von Sprachlosigkeit, lässt sich in kommunikativen Prozessen abbauen, manchmal gar verhindern.
Und in jüngster Zeit verhalfen neun SP-Sektionen sowie ein einstimmiger Vorstand und Parteitag 88 der SPS zu einer kommunikativen Bewältigung der Parolenfassung zur Volksinitiative "Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik", welche von vielen prominenten Genossinnen und Genossen vor allem im Bundeshaus als grosse "Zerreisprobe" für die Partei angesehen wird: Sie setzten einen ausserordentlichen Parteitag der SP zur Initiative der GSoA durch, nachdem Präsident Hubacher einen solchen noch Anfang Jahr kategorisch ablehnen wollte.
Doch solche Kristallisationspunkte des Dissens, des Konfliktes und der Auseinandersetzung, wie ihn die Atomenergie darstellte, wie die Armee und vielleicht das Auto für die SPS gegenwärtig noch sind und wie wir weitere gewiss noch erkennen werden in Zukunft, können wir nur kommunikativ bewältigen. Nach einer intensiven, offenen und allen zugänglichen Debatte können Mehrheitsentscheide von allen Seiten am ehesten akzeptiert werden als vorläufige Ergebnisse, die später wieder in Frage gestellt und neu gefasst werden dürfen.
Die sozialdemokratische Partei hat immer von solchen Auseinandersetzungen gelebt. Vor 1968 wurden sie vielleicht nicht offen geführt und ausgetragen. Und nach 1980 haben viele irrtümlicherweise angenommen, es seien die Debatten, welche uns schwächten. Dabei waren es die Antworten, die uns fehlten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Und weil diese Antworten nicht sichtbar waren oder wirklich fehlten, trauten uns die Menschen nicht mehr so viel zu und versagten uns deswegen ihre Stimme.
Mein Plädoyer gilt also nicht unbedingt einer ganz neuen politischen Kultur; vielleicht müssten die guten Seiten der alten sozialdemokratischen Kultur nur wieder auf moderne Weise rekonstruiert werden. Wichtig scheint mir einfach, dass wir all die gedanklichen Anstrengungen und intensiven Debatten nicht länger scheuen, um die wir nicht herum kommen, wenn wir uns politisch als Reformbewegung wieder auf die Höhe der Zeit schwingen wollen.
"Genossen, lasst Euch von der Geduld nicht hinreissen!" rief schon 1893 ein Delegierter an einem SPD-Parteitag seinen Genossinnen und Genossen zu, als er schier verzweifelte ob der Passivität und der Fatalität, mit der sie glaubten, der Revolution entgegen sehen zu können 5. Heute muss die notwendige Ungeduld wohl vor allem dem Zynismus auf der einen, der Apathie auf der anderen Seite sowie der vorschnellen Resignation und Versöhnung mit den Zuständen in der Mitte gelten. Probieren wir's, suchen wir die notwendigen Gespräche, nehmen wir die Debatte auf.
Andreas Gross
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