10. Nov. 2004
Vortrag gehalten an der Kantonsschule Winterthur
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Europa - ein Thema in der Schule
Von Andreas Gross, Politikwissenschafter. Seit 1991 Nationalrat und seit Januar 1995 Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Europa ist heute gleichsam das Kreuz der Schweizer Politik. Während sich die Europäische Union (EU) erweitert, vertieft, sich verfasst und auch auf globaler Ebene eine ungeheure Dynamik entwickelt, scheint das ohnehin prekäre Verhältnis der EU zum kleinen Land in seinem Innern, in dem viele Europäer ein "Europa en miniature" wieder erkennen, noch mehr zu erodieren. Es scheint immer schwieriger zu werden, dass zusammenkommt, was zusammengehört.
Europa lastet gleich in mehrfacher Weise auf der Schweizer Politik, es spaltet die Nation, lässt die einen darob verzweifeln, andere erst recht zornig werden , was wohl immer mehr Schweizerinnen und Schweizer erst recht zum Irrtum verleiten lassen, in der politischen Abwendung vom Problem werde sich mit der Zeit eine simple Lösung schon finden lassen.
Dabei kommt kein politisch aktiver Schweizer um Europa herum. Kein echtes Problem lässt sich ohne oder gar gegen die EU mehr lösen. Kein Gesetz kommt im Bundeshaus zustande, ohne dass explizit ein Bezug zur europäischen Gesetzgebung erfolgt. Kein Problem der EU betrifft direkt oder indirekt nicht auch die Schweiz. Und kein wesentliches Ziel der EU ist nicht auch ein Ziel der schweizerischen Aussen-, Friedens- oder Sicherheitspolitik.
Weshalb ist es dann so schwierig, dass zusammenkommt, was zusammengehört? Weshalb tun sich die Schweizerinnen und Schweizer, die wie keine anderen Menschen auf unserem Kontinent, aus allen Gemeinden unseres Landes so schnell in der EU sein können, so schwer mit ihr?
Diese Frage diskutieren heisst, sich mit der Geschichte der Schweiz und Europa im 19. und 20. Jahrhundert auseinander zu setzen. Es gibt keine Frage, die so schnell alle Türen öffnet in die spannendsten Räume der Schweizer Geschichte, der politischen Entwicklungen in Europa und um die Schweiz herum , in deren Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten der Beziehungen der Schweiz und ihren Nachbarn, in die unterschiedlichen Mentalitäten, die sich herausgebildet haben und der Frage, wie Mentalitäten wieder ändern können, welche Möglichkeiten es da gibt, und welche Hindernisse kollektiven Lernprozessen entgegenstehen.
Diese Frage ist auch deshalb für die politische Bildung aller Schulstufen so interessant, weil fast alle Schüler real in ihrer täglichen Existenz über die neuen und alten Medien, die Alltagskultur, die Musik mit Europa konfrontiert sind, die Spannungen zwischen Europa und der Schweiz spüren und in den Ferien nicht zuletzt auch dank Interrail mit Europa selber in Berührung kommen. Ihr Interesse muss so nicht mehr geweckt, sondern nur noch vertieft, erweitert und verstetigt werden.
In unzähligen Europakursen und Diskussionen mit jüngeren und älteren Schweizerinnen und Schweizern während der vergangenen 20 Jahre konnte ich dieses Erkenntnisinteresse erfahren und erleben, wie dankbar viele zwischen 12 und 82 hierzulande sind, wenn man ihnen im reflexiven Gang durch all die Räume der unterschiedlichen Geschichten der europäischen Völker, ihrer Demokratien und Verfassungen, ihrer Wirtschaft und deren Nöte, ihrer Schrecken und Verschonungen zeigen kann, dass jetzt aufeinander zu geht, was auch die Schweiz betrifft. In mehrfacher Art und Weise: Als Problem, aber auch als Chance, als Möglichkeit in einem grösseren Ganzen sich selber wieder zu erkennen, als Wiederholung der Erfahrung, dass man Teil eines neuen Ganzen werden kann, ohne sich selber und das alte Bekannte aufgeben zu müssen.
Entsprechende Lehrmaterialien sind erst im Entstehen begriffen. Etwas vom Besten ist jetzt das für die Waadtländer Schulen bestimmte 125seitige, reichlich und farbig illustrierte, auch eine CD-Rom mit einschliessende Werk "La Suisse, l'Europe: mêmes valeurs?" von sechs Autorinnen und Autoren unter der Leitung des ehemaligen Lausanner Professors Victor Ruffy (LEP Verlag , Loisirs et Pédagogie, Le Mont-sur-Lausanne).
Doch auch bevor dieses handliche, motivierende und zielführende Werk übersetzt sein wird, lassen sich mit Hilfe der umfangreichen und mehrsprachigen Europa-Bibliothek beispielsweise des "Ateliers pour la Democratie Directe" in St-Ursanne (032/461.20.91) Europa-Lehrgänge, Kurse, Wochenende und Semester für alle Bildungsstufen zusammenstellen und erarbeiten, die zeigen, dass die Schweiz als Gesellschaft europäischer ist, als sie sich bewusst zu sein scheint, jedenfalls viel europäischer als manche EU-Mitgliedstaaten, in ihrer Geschichte viel Europa enthält, zwischen 1871 und 1945 aber Erfahrungen machte, die anders waren als jene der Mehrheit der Europäerinnen und Europäer, diese Distanz aber auch wieder verkürzen und überwinden kann. Dies nicht zuletzt auch dann, wenn auch sie merkt, dass das ihr wichtigste, nämlich Freiheit und Demokratie, nur mit Europa verteidigt und gefestigt werden kann und niemals ohne es. Es gibt kaum Schülerinnen und Schüler, die nicht interessiert sind, darob mehr und Einschlägiges zu erfahren.
Andreas Gross
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