18. Nov. 2005
SP Europa-Plattform
an die GL
DV vom 26.11.2005 in Bern
DV vom 4.3.2006 in Näfels
Redigiert von einem SP-Redaktionsteam
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Neue Europaplattform der SP Schweiz
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(Fassung von Andi Gross, Stefan Läubli und Mario Fehr)
5.4. Direkte Demokratie
Die Direkte Demokratie ist der SP wichtig. Sie stellt aber fest: Die in der Schweiz seit langem gepflegte Direkte Demokratie wird heute aufgrund der fehlenden EU-Mitgliedschaft ausgehöhlt. In immer mehr Bereichen sieht sich die Schweiz zur Vermeidung unhaltbarer Diskriminierungen gezwungen, EU-Recht direkt in die schweizerische Gesetzgebung zu übertragen. Dieser schönfärberisch "autonomer Nachvollzug" genannte Prozess höhlt - nebst anderem - auch die Direkte Demokratie aus. Mit einem EU-Beitritt gewinnt die Schweiz durch das Recht auf Mitentscheidung bei der Erarbeitung von für sie bereits heute relevanten europäischen Rechtsbeständen nicht nur ein grosses Stück Souveränität zurück. Vielmehr kann und soll die Schweiz nach einem EU-Beitritt die bewährten Volksrechte ausbauen und verfeinern. Die Mitgliedschaft bei der EU führt dann - und dies liegt in der alleinigen Verantwortung und Zuständigkeit der Schweiz - nicht zu einem Abbau, sondern zu einem sanften Umbau und Ausbau der Direkten Demokratie. Beides vergrössert das demokratische Handlungsvermögen der Schweizer Bürgerinnen und Bürger sowie ihrer Behörden. Die Schweiz würde dank einem EU-Beitritt souveräner.
A. Das Europarecht - übergeordnete
Rahmengesetzgebung mit Umsetzungsspielräumen
Wie im Bund kantonales Recht dem Bundesrecht nicht widersprechen darf, gilt in der EU, dass Europarecht über dem Landesrecht steht. Mit dem Beitritt zur EU überträgt ein Mitgliedstaat gewisse Rechtsetzungsbefugnisse an die EU und erklärt sich bereit dafür zu sorgen, die ihm verbliebenen Befugnisse nicht im Widerspruch zum EU-Recht wahrzunehmen.
Im Unterschied zum Bund hat in der EU das übergeordnete Europarecht aber häufig - und tendenziell zunehmend - den Charakter einer blossen Rahmengesetzgebung. In der Regel schaffen allein EU-Verordnungen direkt anwendbares Recht. Mit den Richtlinien setzt die EU lediglich den Handlungsrahmen und die Handlungsräume fest. Innerhalb derer haben die einzelnen Mitgliedstaaten bedeutende Spielräume, bei der Umsetzung eigene Schwerpunkte zu setzen.
B. Direktdemokratische Erteilung eines
Handlungsauftrages als Kompensation
Für die Direkte Demokratie in der Schweiz bedeutet dies, dass ihr unmittelbarer Wirkungsbereich möglicherweise beschnitten wird, wo die EU direkt eigenes Recht schafft, das dem Landesrecht vorgeht und diesem keine Spielräume zur Umsetzung offen lässt. Dies ist nur selten - etwa im Grundrechtsbereich - der Fall. Die Schweiz gewinnt indes in jenen Souveränitätsbereichen, die sie mit ihrem Beitritt an die EU delegiert, direkt an Mitentscheidungsbefugnissen. Diese werden - nach aktuellem Stand - vor allem exekutiv und parlamentarisch wahrgenommen. Sie können aber - mit einer entsprechenden Ergänzung der schweizerischen Bundesverfassung - auch durch neuartige Volksrechte wahrgenommen werden.
Der wichtigste Vorschlag zielt auf eine Verfeinerung der Volksinitiative. Die heute allein bekannte Verfassungsinitiative soll um die neuen Instrumente der Europainitiative und der Europamotion ergänzt werden, also direktdemokratische Volksbegehren, mit denen per Unterschriftensammlung Volksabstimmungen - dies im Falle der Europainitiative -, und Entscheide der Bundesversammlung - dies im Falle der Europamotion - erwirkt werden können. Die Europainitiative und die Europamotion greifen somit nicht direkt in die Rechtsetzung ein. Vielmehr kann damit das Volk bzw. die Bundesversammlung aufgerufen werden, den in Brüssel tätigen schweizerischen Behördenvertretern einen bestimmten Handlungsauftrag zu erteilen. Mit solchen neuen, auf transnationales Handeln zielenden Volksrechten können auch Gestaltungsbereiche, welche die Schweiz an Brüssel abtritt, direktdemokratisch erreicht werden.
C. Zulässigkeit von Verfassungsinitiativen
auch bei Vorrang des EU Rechts
Es stellt sich die Frage, wie nach einem EU-Beitritt der Schweiz mit dem heute bekannten Instrument von Verfassungsinitiativen umzugehen ist, falls diese Begehren enthalten, die mit dem übergeordneten EU-Recht unvereinbar sind. Dieser Fall lässt sich durchaus im Rahmen des heutigen Verfahrens sachdienlich regeln. Entweder trennt die Bundesversammlung - entsprechend der herrschenden Praxis - denjenigen Teil einer Verfassungsinitiative, der mit dem EU-Recht unvereinbar ist, ab, und lässt nur über jenen Teil abstimmen, der in den schweizerischen Kompetenzbereich fällt. Oder die Bundesversammlung lässt über beide Teile getrennt abstimmen und versteht in Bezug auf den europäischen Teil ein allenfalls positives Resultat in der Volksabstimmung als Auftrag an alle in Brüssel wirkenden schweizerischen Vertreterinnen, ihre Handlungsmöglichkeiten entsprechend auszuschöpfen.
D. Referendum und konstruktives Referendum
beim Vollzug von EU-Richtlinien
Gibt die EU mit Richtlinien allein den gesetzlichen Rahmen und die Zielsetzungen vor, bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten für deren Erfüllung und Umsetzung ein relativ grosser Spielraum. In diesem Fall hat die Schweiz nach einem EU-Beitritt zwei Einwirkungsmöglichkeiten: Einerseits durch schweizerische Expertinnen und Behördenvertreter bei der Erarbeitung der Richtlinie und anderseits bei deren Umsetzung in der Schweiz selber.
Auch in diesem Falle bietet sich im Hinblick auf die Gewährleistung einer EU-konformen Umsetzung von Richtlinien eine Verfeinerung der Volksrechte - diesmal des Referendums - an: mit der Schaffung des Konstruktiven Referendums. Damit können 50'000 Stimmberechtigte einer von der Bundesversammlung mehrheitlich befürworteten Form der Umsetzung eine andere gegenüberstellen und zur Volksabstimmung bringen. Damit können andere Interessen berücksichtigt werden, soweit diese dem von der EU gesetzten Handlungsrahmen entsprechen.
Auch das rein negative, übliche Referendum könnte weiterhin zugelassen werden. Bringt ein erfolgreiches Referendum die gesetzliche Umsetzung einer EU-Richtlinie in einer Volksabstimmung zu Fall, so hat dies einfach zur Folge, dass die Bundesversammlung hierfür einen zweiten Versuch unternehmen muss. Dies würde zwar etwas mehr Zeit kosten, wäre aber weiter nicht dramatisch, da längst nicht alle EU-Richtlinien von den Mitgliedstaaten sofort umgesetzt werden und sich hier auch Staaten Zeit lassen, die rein parlamentarische Entscheidungsprozesse kennen.
E. Der EU-Beitritt ist ein Souveränitätsgewinn
Von den politischen Gegnern eines EU-Beitritts wird argumentiert, die Kompensation eines Teils der nationalen demokratischen Gestaltungsmacht durch erhöhte Mitentscheidungsrechte in der EU komme einem Souveränitätsverlust gleich. Dies ist falsch. Vielmehr bildet ein Mitentscheidungsrecht dort, wo die relevanten Entscheide gefällt werden, ein Souveränitätsgewinn. Denn erst dann kann die Schweiz in Brüssel beim Erlass direktanwendbarer EU-Verordnungen mitentscheiden, die bereits heute die Schweizer Rechtsetzung stark beeinflussen. Schon heute kommt es immer häufiger vor, dass die Schweiz wortwörtlich EU-Verordnungen abschreibt und in ihre eigene Rechtsordnung überträgt, weil sie nur so Diskriminierungen und wirtschaftliche Nachteile vermeiden kann, die aus vom EU-Recht abweichenden Regelungen erwachsen können.
Die Möglichkeit, in Brüssel direkt mit zu entscheiden, ist in diesen Fällen klar höher zu werten als ein zunehmend nur noch theoretisches direktdemokratisches Mitentscheidungsrecht. Die Internationalisierung bzw. Europäisierung der schweizerischen Gesetzgebung nahm in den letzten 15 Jahren massiv zu. Dies ist teilweise auch eine Konsequenz des bilateralen Weges, indem die statischen bilateralen Verträge der dynamischen Rechtsentwicklung in der EU nicht Rechnung tragen, die Schweiz aber einem starken Anpassungsdruck aussetzen. Auch ohne EU-Mitgliedschaft der Schweiz findet eine Erosion der politischen Souveränität der Schweiz statt. Ein Nein zum EU-Beitritt bedeutet deshalb nicht, dass die demokratischen Potentiale in der Schweiz gewahrt werden. Ganz im Gegenteil: Nur die Mitgliedschaft in der EU erlaubt der Schweiz, auf europäischer Ebene jenen Teil der Souveränität zurück zu gewinnen, den sie heute ohne EU-Mitgliedschaft - etwa in Form des "autonomen" Nachvollzugs von EU-Recht - verliert.
Laut verschiedenen Studien wären bei einem Beitritt der Schweiz zur EU rund 10 bis 15 Prozent der Volksabstimmungen nicht mehr wie bisher möglich, weil die Schweiz in diesem Bereich ihre Souveränität an die EU übertragen hat, und weitere 15 bis 20 Prozent der Volksabstimmungen müssten in einer modifizierten Form stattfinden, weil sie Bereiche betreffen, in denen die Schweiz Handlungsbefugnisse mit der EU teilt, also beide zusammen zuständig wären. Auf kantonaler Ebene waren in der Vergangenheit deutlich mehr (zwischen 1993 und 1998 rund 88 Prozent) aller Volksabstimmungen EU-vereinbar. Inhaltlich standen in der Schweiz bisher vorab solche Vorlagen im Widerspruch zum geltenden Gemeinschaftsrecht, die Begehren stellten, welche die Grundrechte verletzten: die Verweigerung des aktiven und passiven Wahlrechtes für EU-Staatsangehörige bei Kommunalwahlen, der Verstoss gegen die europäische Datenschutzrichtlinie oder gegen die Personenfreizügigkeit. In diesen Fällen hätte das EU-Recht verhindert, dass über Vorlagen, welche den Grundrechten widersprechen, abgestimmt wurde.
Um diese Zahlen bewerten zu können, muss ihnen der Umfang jenes Rechtes gegenüber gestellt werden, das die Schweiz heute zwar formell souverän beschliesst, das aber weit gehend von der EU erwirkt, beeinflusst oder angestossen worden ist. Von 51 Gesetzen, die die Bundesversammlung Mitte der 1990er Jahre innerhalb von zwei Jahren verändert hat, erfolgte dies 21 Mal "freiwillig" in einer mit dem EU-Recht vereinbaren Art, wurde also (so genannt "autonom") Schweizer Recht an solches der EU angepasst, 19 Mal war das EU-Recht gar nicht betroffen und nur sechs Mal legiferierte die Bundesversammlung in einer Form, die mit EU-Recht nicht vereinbar gewesen wäre.
F. Direkte Demokratie im Rahmen einer Europäischen Verfassung
Mit einer eigenen Europäischen Verfassung, die die Souveränität der Europäerinnen und Europäer konstituiert, besteht eine weitere, noch umfassendere Möglichkeit, um allfällige Verluste an nationaler Souveränität durch neue direktdemokratische Institutionen und Verfahren auf europäischer Ebene zu kompensieren. Die Schweiz kann aber nur als EU-Mitglied die Ausgestaltung einer Europäischen Verfassung entsprechend beeinflussen.
In der EU finden intensive Diskussionen zur Verankerung direktdemokratischer Elemente in einer Europäischen Verfassung statt. Bekanntlich enthält der Verfassungsvertrag für die EU, der Ende Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet worden ist, in Artikel I-46 erstmals in der Geschichte der Demokratie eine Art transnationales partizipatives Bürgerrecht. Eine Million Bürgerinnen und Bürger aus mindestens acht Staaten sollen das Recht haben, der EU-Kommission eine Art Gesetzgebungsantrag zu stellen. Einige tun dieses neue, bisher kaum richtig beachtete Recht als "Petitionsrecht" ab. Sie verkennen dabei, dass da einer Million Europäerinnen und Europäern zugestanden wird, was bisher nur der Mehrheit des Europaparlamentes zustand: das Recht, der Kommission (die auch gemäss dem Verfassungsvertrag über das Gesetzesinitiativmonopol in der EU verfügt) einen Gesetzgebungsvorschlag zu unterbreiten. Mit dem neuen Artikel I-46 ist somit das Europaparlament bereit, sein Gesetzesinitiativrecht mit einer Million Bürgerinnen und Bürgern zu teilen. Genau dieses Teilen der Macht zwischen Institutionen und aktiven Bürgerinnen und Bürgern ist eines der Kulturelemente der Direkten Demokratie.
Diese erste Europäische Verfassung scheiterte im Frühjahr 2005 an den beiden Referendumsabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, die im übrigen einen weiteren Beleg für das Funktionieren und den Ausbau direktdemokratischer Elemente in der EU darstellen. Diese Verfassung sah auch vor, die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlamentes zu erweitern. Inwiefern diese oder ähnliche Reformen künftig in einem neuen Verfassungsentwurf oder einer Ergänzung des geltenden Vertrages von Nizza berücksichtigt werden, ist heute nicht abzuschätzen. Nur wenn die Schweiz der EU beitritt, kann sie aber an diesen grundlegenden Debatten mitwirken.
G. Wahrung der Kleinstaatlichkeit im Zuge der Globalisierung
Es gehört zu den politisch-kulturellen Eigenheiten der Schweiz, dass sie mehrheitlich ihre nationale Souveränität überschätzt, beziehungsweise die formelle Souveränität mit der realen viel zu sehr gleichsetzt. Andere europäische Kleinstaaten, die ihre Ohnmacht in schwierigen Momenten des 20. Jahrhunderts unmittelbarer erfahren haben (Belgien und Luxemburg erklärten sich zu Beginn der beiden Weltkriege auch als neutral, was Nazi-Deutschland aber einfach ignorierte), haben längst gelernt, dass der Zusammenschluss mit anderen Staaten die reale Souveränität mehrt, selbst wenn formell die nationale Souveränität mit anderen Staaten geteilt wird.
Angesichts der Globalisierung und der zunehmend grenzüberschreitenden Aufgaben und Probleme beginnt sich bei vielen die Erkenntnis durchzusetzen, dass nur jener Kleinstaat seine Interessen zu verteidigen weiss, der sich transnational integriert. Alleine wird er dies nur unzureichend leisten können. Wer sich der europäischen Integration verweigert, schadet langfristig den schweizerischen Interessen und stellt die Zukunft der Schweiz in Frage. Eine These, die sich auch anhand schweizerischer Erfahrungen illustrieren lässt: Die Kantone wären heute längst zu unbedeutenden Vollzugsorganen zentralistischer Strukturen geworden, wenn sie sich nicht 1848 in einem Bund zusammengeschlossen hätten, der ihre Souveränität und Eigenständigkeit ausdrücklich garantiert, und sie diejenigen Probleme, die zusammen besser angegangen werden können als in kantonalen Alleingängen, nicht an den Bund delegiert hätten.
Angesichts der Globalisierung lässt sich der reale Kern demokratischer Souveränität nicht national verteidigen. Deswegen braucht die EU nicht nur eine demokratische Verfassung, um ihr Recht besser zu legitimieren und ihre Rechtsetzung zu organisieren, sondern die Demokratie braucht auch die eigene Verfassung auf transnationaler Ebene. Je früher sich die Schweiz in diese beiden für die Gewährleistung der Demokratie in den kommenden 20 Jahren entscheidenden Prozesse einbringt, desto früher kann sie auch Volksrechte der Schweizerinnen und Schweizer verteidigen, beziehungsweise mehren.
H. Reformvorschläge
Die nachfolgenden Reformvorschläge können teilweise vor, teilweise erst mit oder nach einem EU-Beitritt der Schweiz umgesetzt werden. Die Schweiz bleibt aber auch im Falle eines EU-Beitritts vollkommen frei, ob sie ihre Volksrechte so verfeinern will, dass sie ihre Interessen nach einem EU-Beitritt optimal wahren und den damit möglichen Demokratisierungsgewinn realisieren kann. Für die SP Schweiz stehen fünf Forderungen im Vordergrund:
1. Die Bundesverfassung ist dahingehend zu ergänzen, dass das Volk mit einer ausreichenden Anzahl Unterschriften in Form einer Europainitiative eine Volksabstimmung und in Form einer Europamotion einen Entscheid der Bundesversammlung erwirken kann, mit dem den in Brüssel tätigen schweizerischen Behördenvertreterinnen ein konkreter Handlungsauftrag erteilt wird.
2. Stellt die Bundesversammlung fest, dass eine (herkömmliche) Verfassungsinitiative dem EU-Recht widerspricht, soll sie diese dem Volk dennoch zur Abstimmung vorlegen. Findet eine solche Verfassungsinitiative eine Mehrheit, so soll dies als Auftrag an die in Brüssel wirkende Vertretung der Schweiz verstanden werden, entsprechend tätig zu werden.
3. Das Referendum soll auch gegen Gesetze, die EU-Richtlinien vollziehen, ergriffen werden können. Findet ein solches Referendum eine Mehrheit, muss die Bundesversammlung die Vollzugsgesetzgebung anpassen, bis diese sowohl EU-kompatibel als auch mehrheitsfähig ist.
4. In der Bundesverfassung soll neu die Möglichkeit des Konstruktiven Referendums geschaffen werden, damit eine Vollzugsgesetzgebung zu einer EU-Richtlinie nicht nur zu Fall gebracht, sondern auch - innerhalb des von der EU gesetzten Handlungsrahmens - abgeändert werden kann.
5. Im Falle eines Beitritts zur EU soll sich die Schweiz für eine europäische Verfassung einsetzen, die auf europäischer Ebene direktdemokratische Institutionen und Verfahren stärkt.
(Fassung von Andi Gross vom 18.10.2005 an die GL)
5.5 Föderalismus
Föderalismus bedeutet die verfassungsrechtliche Garantie der Autonomie und Mitbestimmung der Gliedstaaten. Das Besondere des schweizerischen Föderalismus liegt in der Ermöglichung der Vielfalt durch die weitgehende Selbstbestimmung der einzelnen Kantone. Deshalb beruht der schweizerische Föderalismus auf dem Konzept der geteilten Souveränität: Ein Prinzip, das die Integration der Schweiz in die Europäischen Union erleichtert. Denn wir würden unseren gegenwärtigen dreiteiligen Föderalismus - Gemeinde / Kanton / Bund - durch einen vierstufigen ersetzen; die Dreiteilung der Souveränität würde mit der EU durch eine vierteilige Souveränität - Gemeinde / Kanton / Bund / EU - abgelöst. 1
Richtig konzipiert bedeutet die Integration der Schweiz in die EU keine Schwächung oder gar Bedrohung des Föderalismus, sondern seine Erneuerung und Stärkung. Nicht von ungefähr gehört heute die Konferenz der Kantonsregierungen zu den entschiedensten Befürworterinnen eines EU-Beitritts der Schweiz. 2 Tritt die Schweiz der EU bei, erhält der Bund die Aufgabe, zwischen der EU-Kommission und den Kantonen eine Brückenfunktion zu übernehmen: Er muss informieren, koordinieren, die gemeinsamen Interessen der Kantone in den EU-Institutionen vertreten und gleichzeitig landesintern die Mitbestimmungsrechte der Kantone in jenen Bereichen sichern, in denen EU-Regelungskompetenzen die Kompetenzbereiche der Kantone berühren.
So wie in der Bundesverfassung die Gemeinden nur marginal erwähnt werden, wird in der EU die subnationale Ebene - in der Schweiz die Kantone, in anderen EU-Mitgliedstaaten die Regionen, Departemente, Bundesländer oder Provinzen - nicht direkt angesprochen und nur indirekt in die politischen Entscheidungsprozesse mit einbezogen. So wie der Bund jedem Kanton offen lässt, welche Bestimmungen er in seiner Kantonsverfassungen über die Gemeinden erlässt, wendet sich die EU nur an die Nationalstaaten und überlässt ihnen die Ausgestaltung der Beziehungen mit den einzelnen subnationalen Einheiten.
Die SP unterstützt die Forderung der Kantone, in geeigneter Form in die Erarbeitung von jenem neuen EU-Recht einbezogen zu werden, das ganz oder teilweise in ihre Kompetenzen eingreift. Ein EU-Beitritt der Schweiz betrifft in hohem Masse derzeitige kantonale Kompetenzbereiche wie Bildung und Kultur, das Gesundheitswesen, die Verkehrs- und Infrastrukturpolitik und das kommunale Wahlrecht 3 in etwas geringerem Mass betroffen würden kantonale Kompetenzbereiche im Justizwesen, der Gewerbepolizei, dem Asylbereich, der polizeilichen Zusammenarbeit, den Rechtshilfeverfahren und den Steuern.
In all diesen Bereichen verbleiben den Kantonen auch im Falle eines EU-Beitritts umfangreiche Regelungsbefugnisse. Zudem stünde der Einschränkung entsprechender Rechtsetzungskompetenzen eine Zunahme der kantonalen Vollzugsaufgaben gegenüber. Wie die Umsetzung der Assoziation der Schweiz an die Abkommen von Schengen und Dublin zeigt, kann die Zusammenarbeit zwischen der EU, dem Bund und den Kantonen durchaus so geregelt werden, dass jede Zuständigkeitsebene jenen Handlungsspielraum behält, der für einen effizienten und am Interesse der Bürgerinnen und Bürger orientierten Vollzug unverzichtbar ist. Schengen/Dublin und die flankierenden Massnahmen zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit machten zudem deutlich, dass eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen für die Realisierung einer europapolitischen Strategie, die auch vom Souverän mitgetragen wird, unabdingbar ist. Die Intensivierung der internationalen Beziehungen der Schweiz erhöht unabhängig vom EU-Beitritt die praktische Bedeutung der Frage, wie die Kantone Staatsverträge umsetzen sollen. Die Kantone fordern, aus eigener Kraft die erforderlichen Massnahmen treffen zu können, um eine rechtzeitige Umsetzung von übergeordnetem Recht tatsächlich zu gewährleisten. Dies setzt den rechtzeitigen Einbezug der Kantone in dessen Erarbeitung sowie die Kompetenz voraus, übergeordnetes Recht in Fällen zeitlicher Dringlichkeit in einer Verordnung zu regeln. 4.
Erhebliche Kompetenzreduktionen in den kantonalen Kompetenzbereich hätte ein EU-Beitritt der Schweiz auch in Bezug auf das öffentliche Beschaffungswesen, die Berufsdiplome und die Heilmittelkontrolle zur Folge. Vereinheitlichungsprozesse, wie sie in den letzten Jahren auf Bundesebene zu beobachten waren, sowie die Umsetzung der Bilateralen Verträge haben aber auch hier bereits einiges vorweggenommen und werden das künftige Zusammenwirken erleichtern.
Besonders gefragt werden die Kantone bei der Umsetzung und dem Vollzug von EU-Recht. Dies obwohl nicht sie direkt vor der EU dafür verantwortlich sind, sondern der Bund vor der EU die Verantwortung dafür trägt, dass die Kantone EU-Recht richtig und Frist gemäss umsetzen. Möglicherweise wäre es hilfreich, wenn der Bund hier in Zusammenarbeit mit der Konferenz der Kantonsregierungen ein Organ schafft, das den Vollzug von EU-Recht auf kantonaler Ebene sichert, koordiniert und einzelnen Kantonsregierungen bei Bedarf beisteht.
So wie verhindert werden muss, dass im Zuge der EU-Integration der Schweiz eine Stärkung des Zentralismus zu Lasten der Kantone erfolgt, muss ebenso verhindert werden, dass aus dem Mitwirkungsföderalismus der Kantone ein Regierungsföderalismus wird. Die Partizipation der kantonalen Parlamente und unter Umständen der Stimmberechtigten bei der Wahrnehmung der kantonalen Mitwirkungsmöglichkeiten auf Bundesebene im Hinblick auf die Wahrung der kantonalen Interessen der EU muss gewährleistet werden. Die kantonalen Parlamente sind in geeigneter Form in den europapolitischen Entscheidfindungsprozess einzubinden. Dies bedingt eine Stärkung der aussenpolitischen Kompetenzen der Parlamente in den einzelnen Kantonen. Im Kanton Waadt wurde bereits im Jahre 1998 eine aussenpolitische Kommission eingesetzt. 5 Neue Wege beschritt auch der Basler Verfassungsrat, der in Artikel 4 der Basler Kantonsverfassung vom 23. März 2005 die Förderung der interparlamentarischen Zusammenarbeit vorsieht: "Der Kanton Basel-Stadt strebt ein kantons- und länderübergreifendes Zusammenwirken der Parlamente an und fördert hierfür die Entstehung gemeinsamer Institutionen."
1 Vergleiche Thomas Fleiner / Nicole Töpperwien, Chancen und Probleme für den schweizerischen Föderalismus nach einem Beitritt zur Europäischen Union; Rainer J. Schweizer, Auswirkungen einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf das schweizerische Verfassungsrecht, beide in : Cottier/Kopse (Hg.), Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union, Brennpunkte und Auswirkungen, Zürich 1998.
2 Vergleiche Konferenz der Kantonsregierungen: Europa als Herausforderung für den Föderalismus. Skizze für eine europapolitische Strategie der Kantone, 12. 3. 2004.
3 Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union müsste bei einem Beitritt der Schweiz das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene eingeräumt werden. Die Regelung des kommunalen Wahlrechts liegt heute im Kompetenzbereich der Kantone.
4 Siehe Art. 88 Abs. 3 der Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993 (SR 131.212). Solche dringliche Einführungsbestimmungen sind ohne Verzug durch ordentliches Recht abzulösen.
5 Art. 73 ff. des Gesetzes vom 3.2.1998 über den Grossen Rat des Kantons Waadt.
Das gesamte Dokument kann demnächst als PDF von den Seiten der SPS heruntergeladen werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Die SP ist die Europapartei
2 Für die rasche Einleitung von Beitrittsverhandlungen der CH zur EU
3 Die Schweiz steht vor einer zentralen Weichenstellung
3.1 Der Bilateralismus stösst an enge institutionelle Grenzen
3.2 Unhaltbarer Reformstau - neue Verhandlungsbegehren der CH und der EU
3.3 Die dynamische Entwicklung der EU
3.4 Alternative Annäherungsformen sind ungewiss und mit Nachteilen behaftet
4 EU-Beitritt und grundlegende Reformen der Schweiz
4.1 Was bedeuten Beitrittsverhandlungen konkret?
4.2 Zur Abklärung des Reformbedarfs
4.3 Die Schweiz - ein wichtiger und gewichtiger Verhandlungspartner der EU
5 Die politischen Institutionen
5.1 Die Institutionen der EU - ein kurzer Überblick
5.2 Regierungsreform
5.3 Parlamentsreform
5.4 Direkte Demokratie
5.5 Föderalismus
6 Die Aussenbeziehungen
6.1 Aussen- und Sicherheitspolitik
6.2 Menschenrechtspolitik
6.3 Entwicklungspolitik
6.4 Globale Umweltpolitik
6.5 Aussenwirtschaftspolitik
6.6 Asyl- und Migrationspolitik gegenüber Drittstaaten
7 Justiz und Inneres, Gesellschaft und Finanzen
7.1 Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres
7.2 Gleichstellungspolitik
7.3 Sozialpolitik
7.4 Gesundheitspolitik
7.5 Arbeitnehmerschutz und Mitbestimmung
7.6 Forschung und Bildung
7.7 Steuerpolitik und die Erhöhung der Mehrwertsteuer
8 Binnenmarkt im Waren- und Personenverkehr, Landwirtschaft und Kohäsion
8.1 Die Vollendung des Binnenmarktes im Warenverkehr
8.2 Gemeinsame Agrarpolitik
8.3 Personenfreizügigkeit
8.4 Wirtschaftliche und soziale Kohäsion und regionaler Ausgleich
9 Die Vollendung des Binnenmarktes bei den Dienstleistungen
9.1 Der Binnenmarkt für Dienstleistungen
9.2 Die Zukunft des Service public in der EU
9.3 Die Liberalisierung des Postmarktes
9.4 Die Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes und die Ökologisierung der Energiepolitik
9.5 Die Liberalisierung der Telekommunikation
9.6 Die Liberalisierung des Eisenbahnverkehrs und die Zukunft des Landverkehrs
10 Die Vollendung des Binnenmarktes im Kapitalverkehr und die Währungsunion
10.1 Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und flankierende Massnahmen
10.2 Die Zukunft des Finanzplatzes und des Bankgeheimnisses
10.3 Keine Teilnahme an der Währungsunion
11 Volkswirtschaftliche Bilanz
11.1 Volkswirtschaftliche Gewinne und Verluste
11.2 Der finanzielle Beitrag der Schweiz an die EU
12 Zusammenfassung und nächste Schritte
Andreas Gross
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