17. Nov. 2005

Kolumne in der
Aargauer Zeitung

Soll der Souverän souveräner werden?

Die Frage hinter der "Europafrage"

Von Andreas Gross
(Zürich/St-Ursanne) ist Politikwissenschafter, SP- Nationalrat, Präsident der schweizerischen Delegation beim Europarat in Strassburg und setzt sich seit 1988 mit der Schweiz und der europäischen Integration auseinander.


Souveränität ist einer der politischen Schlüsselbegriffe. Der Souverän ist diejenige Instanz, die in der Politik das letzte Wort hat; in einer Direkten Demokratie das Volk.

Doch auch bei uns ist das Volk, der Souverän, nicht absolut souverän. Denn auch das Volk hat sich an die Bundesverfassung zu halten, die es sich mit Mehrheit selber gegeben hat. Darin bringt der Souverän seinen Willen zum Ausdruck, die Grundrechte jeder und jedes Einzelnen, beispielsweise das Willkürverbot, ebenso zu achten wie die europäischen Menschenrechte. Der Souverän liess sich 1999 bei der letzten Renovation unserer Bundesverfassung also nicht in Versuchung bringen, seine Souveränität absolut zu verstehen, wie beispielsweise in vordemokratischen Zeiten all die Herren Könige oder Kaiser.

Wir kennen aber auch ein umgangsprachliches Verständnis von "Souveränität". So ist "ein souveräner Typ" ein Mensch, der aufrecht geht, der sich nicht knütteln oder verbiegen lässt, sein Leben in seine eigenen Hände genommen hat und es nach seinem Willen und entsprechend seinen Überzeugungen zu gestalten weiss. Ein solcher Mensch ist frei.

Souverän ist also, wer seine existenziellen Angelegenheiten selber entscheiden kann. In diesem Sinn weist der Begriff über sein staatsrechtliches Verständnis hinaus. Er betrifft nicht nur die Verfassung im formalen, sondern im realen Sinn. Jetzt geht es nicht nur um die Verfassungswirklichkeit, sondern um die reale Lebenswelt. In diesem Sinn souverän ist, wer nicht nur rechtlich frei ist, sondern auch wirtschaftlich so unabhängig, eigenständig und einflussreich, um sein Leben nicht als fremd bestimmtes Schicksal erfahren zu müssen.

Die moderne Schweiz von 1848 verschaffte sich diese gleichsam doppelte Souveränität: Die Mehrheit der Bürger und der Kantone schuf sich mit der neuen Bundesverfassung eine der ältesten repräsentativen Demokratien und einen gesamtschweizerischen Binnenmarkt. Damit entsprach der Raum der Demokratie dem für die meisten relevanten Raum der Ökonomie. Die politischen Mehrheiten aus dem ersten hatten das Recht, die Möglichkeit und die Fähigkeit zur Gestaltung des zweiten.

Damit war schon damals die Frage nach der Souveränität freilich nicht erledigt. Im Gegenteil: Viele Bauern, Handwerker und Arbeiter fühlten sich vom wirtschaftlichen Aufschwung der 1850er und 1860er Jahre ausgeschlossen. Sie empfanden die Herren der Wirtschaft und die Herren Politiker in Regierung und Parlament als "geschlossene Gesellschaft". Der Winterthurer Pfarrer und Redaktor Salomon Bleuler (1829 -1886) schrieb, das mache die Leute "stutzig" und lasse sie fragen: "Wer ist hier eigentlich der Souverän?"

Bleuler hatte mit gleichgesinnten sozialen Demokraten in den 1860er Jahren eine eigentliche "Demokratische Bewegung" aufgebaut, welche mit der Einführung des Referendums und der Volksinitiative dem Parlament in wichtigen Fragen das letzte Wort abnehmen wollte. Die Begründung Bleulers: "Die bisherige Scheinsouveränität" des Volkes solle sich "zu einer wirklichen und wahrhaften Volkssouveränität entwickeln" und "die massgebende Macht aus den Händen einzelner auf die starken Schultern der Gesamtheit verlegt" werden. Der Kanton Zürich führte 1869 die Volksrechte ein, der Bund 1874 das Referendum und 1891 die Volksinitiative.

Heute haben wir immer noch die allgemein geschätzten Volksrechte. Doch die Räume der Politik und der Wirtschaft haben sich auseinander gelebt. Immer noch ist der Bund der Raum der Demokratie, die Wirtschaft arbeitet jedoch längst global. Entsprechend ist die Volkssouveränität so schwach geworden wie die Souveränität des Staates. Formal gibt es sie, real ist sie zu schwach geworden.

Damit die Volkssouveränität wieder wirklich "wahrhaft und massgebend" (Bleuler) werden kann, müssen in den kommenden Jahren nicht mehr wie vor 140 Jahren die demokratischen Rechte vertieft, sondern die demokratischen Räume über den Nationalstaat hinaus erweitert werden. Nur so werden sie auch wieder die Wirtschaft erfassen, ihre Produktionsformen zivilisieren und deren Früchte möglichst vielen und nicht nur den Privilegierten zukommen lassen können.

Deshalb meinte die SPS letzte Woche in ihrer neuen Europaplattform, dass "die Schweiz in der EU souveräner" wäre als ausserhalb. Die NZZ-Redaktorin fand dies nicht nur bemerkenswert, sondern auch noch "reichlich euphemistisch", auf deutsch beschönigend. Obwohl die SPS sich nicht nur für eine echte, die Souveränität aller europäischen Völker konstituierende, europäische und föderalistische Verfassung ausspricht, sondern auch noch für Verfeinerung und Erweiterung der Volksrechte einer Schweiz in der EU.

Umgekehrt wäre angemessener: Wer heute die formale staatliche Souveränität mit der echten Volkssouveränität gleichsetzt, der beschönigt sie - oder will gar nicht, dass die Politik gegenüber der Wirtschaft wieder stärker, der Souverän wieder souveräner und die Bürgerinnen und Bürger freier werden. Wer ihre nationalen Schwächen erkennt und diese durch die Transnationalisierung der Demokratie aufheben will, der nimmt die Volkssouveränität erst richtig ernst. Denn die Demokratie war und ist immer ein Prozess, der gepflegt werden will, wenn die Demokratie nicht verloren gehen soll.


Andreas Gross



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