26. Sept. 2005
Deutschlandfunk
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Schweizer für Personenfreizügigkeit
Andreas Gross, Schweizer Nationalrat, ist stolz über Zustimmung beim Volksentscheid. Die Schweizer haben sich am Sonntag mit einer deutlichen Mehrheit dafür ausgesprochen, ihren Arbeitsmarkt für EU-Bürger weiter zu öffnen. Andreas Gross, Mitglied des Nationalrates der Schweiz, erklärt das Ergebnis damit, dass man die ängste der Bürger ernst genommen habe. Als Begleitmassnahme habe man den Schutz vor Lohndumping verstärkt.
Moderation: Elke Durak
Elke Durak: Die Schweizer sagen mehrheitlich "ja" zur Öffnung ihres Arbeitsmarktes auch für die neuen EU-Mitglieder beziehungsweise deren Bürger. Bei der Volksabstimmung gestern haben über 56 Prozent entsprechend votiert. Vorausgesagt war durch die Demoskopen in unserem Nachbarland eine sehr, sehr knappe Entscheidung, bis hin sogar zu einem "Nein". Offenbar aber haben sich auch in der Schweiz erst viele Wahlberechtigte kurzfristig entschieden. Am Telefon ist Andreas Gross, er ist Mitglied des Nationalrates der Schweiz, einer der beiden Kammern des Parlaments. Und er ist auch Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates, hat sich dort intensiv mit den neuen EU-Mitgliedern beschäftigt. Und, Herr Gross, schönen guten Morgen, Sie werden auch mit besonderem Auge auf ihre Abstimmung in der Schweiz geschaut haben. Was hat denn den Ausschlag für diese Entscheidung gegeben?
Andreas Gross: Ja guten Morgen, Frau Durak. Ich glaube, der soziale Fortschritt, die Reformen, die muss man begleiten mit sozialen Massnahmen, die die Ängste der Menschen beantworten. Und das hat die Schweiz ausnahmsweise sehr gut gemacht, besser als andere in Europa. Und noch nie waren die Löhne - oder werden die Löhne in der Schweiz so gut kontrolliert werden und die Menschen, vor allem auch diejenigen, die wenig verdienen, so gegen Dumping geschützt werden, wie das als Begleitmassnahme zur Öffnung im Gesetz vorgeschrieben wird. Und das war eine ganz wichtige Antwort auf berechtigte Ängste derjenigen, die nicht privilegiert sind. Und wenn man beides zusammen macht - das war vielleicht auch, wie man ja sieht, der Fehler der CDU, dass sie nur das eine sah, oder auch die Referenten in Frankreich und in Holland über die Verfassung. Da hat man diese Ängste zu wenig beantwortet. Und in der Schweiz ist es jetzt zwei Mal gelungen, das richtig zu tun, bei Schengen, Dublin im Juni und jetzt bei der Personenfreizügigkeit. Und das macht mich eigentlich sehr stolz.
Durak: Das heisst, es handelt sich nicht um ein Vermittlungsproblem, wie es hier zu Lande häufig der Fall ist oder von den Parteien so beschrieben wird, wenn sie Wahlen verlieren oder schlechter abschneiden, als gedacht. Was hat man denn den Schweizern erklärt?
Gross: Also, es ist eben eine Volksabstimmung. Ein Volksentscheid hat zur Notwendigkeit, hat zur Voraussetzung, dass die ganze politische Klasse über Wochen, über Monate mit den Leuten spricht. Also nicht ein Vermittlungsproblem. Aber diejenigen, die im Parlament sitzen, die müssen überzeugen, Überzeugungsarbeit leisten. Das ist sehr, sehr intensiv gemacht worden, das ist bei uns auch eine Tradition, die zum Beispiel die Holländer nicht haben. Und man muss ganz lange im Vorfeld schon richtig informieren. Die Menschen sind viel vernünftiger, als viele Politiker und Journalisten glauben. Und das hat sich, diese Vernunft, auch wenn es natürlich um die Existenz geht, weil die Schweiz lebt vom - noch fast mehr als Deutschland - lebt vom grossen Markt. Die Schweiz profitiert da von Europa. Und es wäre unsinnig gewesen oder sogar eine unglaubliche, ahistorische Arroganz, diejenigen, die 40 Jahre vom Fortschritt in Europa eh schon ausgeschlossen gewesen sind, jetzt als Schweizer nochmals auszuschliessen. Und dass man diese Vernunft durchbrachte und gleichzeitig auch die berechtigten Ängste der Menschen eben berücksichtigen konnte, das ist ein grosse Leistung glaube ich, die man anerkennen kann.
Durak: Herr Gross, wie wird es denn verhindert, dass es zu Dumpinglöhnen kommt, zu Schwarzarbeit kommt, und also Arbeitsplätze für Schweizer gefährdet werden?
Gross: Einerseits hat man Gesamtarbeitsverträge, kann man einfach, generell allgemeinverständlich erklären. Zweitens hat es bei uns noch weniger Mindestlöhne als bei Ihnen. Die Notwendigkeit von Mindestlöhnen ist nun im Gesetz verankert worden. Und drittens sind die Kantone veranlasst, viel mehr Arbeitsinspektorate und Inspektoren aufzustellen, anzustellen, damit wirklich die Fabriken, vor allem auch die Baufirmen und die Bauplätze so kontrolliert werden, dass man sofort sehen kann, wenn einer zu nicht üblichen Ortstarifen arbeiten lässt und man ihn dann bestrafen kann.
Also das Instrumentarium zum Beispiel, das haben Sie in Deutschland schon lange gehabt. Die Schweiz hat das noch zu wenig gehabt und hat das jetzt eingeführt auf Grund der Marktöffnung, der grösseren Personenfreizügigkeit und gleichzeitig hat man dann eben erklärt, dass wenn in Warschau fünf Prozent Arbeitslosigkeit sind und in Schlesien dreissig Prozent, dann geht nicht jeder Schlesier nach Warschau. Und so wird er auch nicht in die Schweiz kommen. Solche Ängste wurden natürlich geschürt, aber sie wurden beantwortet mit Fakten und das hat den Ausschlag gegeben.
Durak: Herr Gross, nun hat die Schweiz also oder wird ein weiteres Abkommen mit der EU schliessen, beziehungsweise das alte erweitern. Ist das auch ein weiterer Schritt der Schweiz auf dem Weg direkt in die EU?
Gross: Ich bin ein überzeugter Europäer, ich bin also auch einer, der die EU demokratischer und föderalistischer machen möchte. Aber ich würde, man muss bescheiden sein, mit dieser Position uns - bewusst sein, dass die Schweizer noch lange nicht mehrheitlich auf dieser Position sind. Die Schweiz hat jetzt 16 direkte Abkommen mit der EU. Sie hat diesen Weg der vertraglichen Annäherung sozusagen gewählt. Vor allem auch innenpolitisch. Rechtspolitisch wird sie sehr sich an die EU anlehnen, wirtschaftlich auch. Aber das darf man noch nicht verwechseln mit einer Beitrittsbereitschaft. Diese Beitrittsbereitschaft, die dürfte erst etwa in zehn, zwölf Jahren zu erwarten sein, wenn die Schweizer erkennen, dass es eigentlich ein unwürdiger Zustand ist für ein politisch sehr sensibles Land, wenn es sich doch im Wesentlichen auch fremdbestimmen lässt in dem Sinne, dass wir abhängig sind von Entscheidungen in Brüssel, bei denen wir nicht mitwirken können. Aber dieses Bewusstsein, das ist noch nicht da. Und das muss dann die Arbeit der nächsten zehn Jahre hervorbringen.
Durak: Das ist interessant. Also die Schweiz geniesst jetzt - sagen wir mal - alle Vorteile, hat keine Pflichten und dennoch sagen Sie, das ist unwürdig, weil die Schweiz eigentlich selbstständig ist, aber von Brüssel diktiert wird.
Gross: Ich würde ein bisschen vorsichtiger sein. Wir haben einige Vorteile, wir zahlen aber auch - es war ja zum Beispiel Schengen, Dublin durften wir nur dabei sein, weil wir bereit waren, als erstes Land Steuern im eigenen Land für andere Länder zu erheben. Das ist doch etwas, auch wenn es finanziell wahrscheinlich nicht so viel bringen wird wie der deutsche Finanzminister erwartet. Also wir sind nicht nur - wir sind nicht mehr Trittbrettfahrer. Und auf der anderen Seite wird nicht diktiert. Aber doch, wir sind betroffen von Entscheidungen, an deren Entstehung wir nicht beteiligt sind. Und das ist für ein politisch, in Bezug auf die Selbstbestimmung hoch sensibles Land ein unwürdiger Zustand, würde ich sagen. Aber das ist etwas, was den Menschen noch nicht so bewusst ist, weil sie - auf Grund auch der Kriege. Wissen Sie, das ist eine geschichtliche - ein Produkt geschichtlicher Erfahrung aus dem 20. Jahrhundert, dass die Schweizer meinen, sie können alles alleine besser ...
Durak: Herr Gross, ich muss Sie unterbrechen, diesen Ausflug in die Geschichte können wir uns jetzt im Augenblick nicht mehr leisten, weil wir direkt auf die Nachrichten zusteuern. Ich danke Ihnen aber bis hierher.
Gross: Danke auch.
Durak: Andreas Gross war das, auf Wiederhören. Mitglied des Nationalrates der Schweiz und auch der parlamentarischen Versammlung des Europaparlaments.
Andreas Gross
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