7.12.2004

AZ-Tribüne

Wenn das Parlament nicht mehr parlieren will

Von Andreas Gross

Andreas Gross (52) ist Politikwissenschafter und Zürcher SP-Nationalrat. Er leitet das Atelier für Direkte Demokratie in St-Ursanne (JU) und ist Vizepräsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates.


Das Parlament hat in der schweizerischen Demokratie eine schwierige Stellung. Auf der einen Seite wird die Regierung mit ihrer grossen Verwaltung immer stärker. Die zunehmende Inter- und Transnationalisierung der Politik verschiebt die der Politik angesichts der Vorherrschaft der Weltwirtschaft noch verbliebene Macht immer mehr in Richtung Regierung.

Auf der anderen Seite ist das Volk. Es hat in der Schweiz richtigerweise in allen wichtigen Angelegenheiten das letzte Wort. Zwar fallen auch in der schweizerischen Direkten Demokratie mehr als neunzig Prozent aller politischen Entscheide im Parlament. Doch im öffentlichen Bewusstsein erscheint das Parlament zwar im Sandwich, aber nicht einmal als Fleisch des Sandwich: Denn das Fleisch ist im Sandwich, wie wir seit Mani Matter wissen, das Wesentliche; in der Politik verdient jedoch das Volk den grössten Respekt und die Regierung geniesst meist das höchste Ansehen. Obwohl wir im letzten Jahr weniger von einer Regierung als von sieben Ministern regiert worden sind, von denen jeder sich als eigene Regierung sieht.

Und wer wie in der freitagabendlichen Arena wen rhetorisch vor den Kopf stösst, scheint für das öffentliche politische Bewusstsein bedeutsamer zu sein als die Auseinandersetzungen unter der Woche im Bundeshaus. Aufmerksamkeit verdient die Bundesversammlung für die TV-Oberen höchstens noch als Rekrutierungsfeld für das Personal der Arena, angesichts deren Banalisierung und Brutalisierung des politischen Diskurses sensiblere wie anspruchsvollere Menschen sich ganz von der Bundespolitik abwenden.

Das Parlament als Entscheidungsmitte?

Der schöne Satz des früheren deutschen Verfassungsrichters Paul Kirchhof, wonach die Demokratie ihre Entscheidungsmitte im Parlament habe, stimmte so ganz für die Schweiz noch nie. Die Mitte der Direkten Demokratie ist näher beim Volk, irgendwo in dessen Mitte, jedenfalls eher beim Napf oder im Entlebuch als in Bern. Doch derzeit erleben wir nicht nur eine Unter- oder Geringschätzung des Parlamentes durch Bundesrat Blocher, der wie so mancher eher autoritär veranlagte Politmonarch lieber direkt mit dem "Volk" regiert als via dessen Parlament. Und es ist eine der ganz grossen Irrtümer vieler blocherscher Anhänger der Direkten Demokratie, sich nicht bewusst zu sein, dass eine starke Direkte Demokratie ein starkes Parlament braucht, die indirekte und die direkte Demokratie also einander stärken können und nicht wie hierzulande zu oft gegeneinander ausgespielt werden dürfen.

Diese Woche erleben wir nun aber, wie das Parlament selber gar nicht mehr so richtig an sich zu glauben scheint. Zumindest das Büro des Nationalrates scheint froh zu sein, wenn im Nationalrat nicht mehr so viel parliert wird. Zwar unterstreichen die meisten Politikerinnen und Politiker derzeit die Bedeutung der Bilateralen Verträge für die Zukunft der Schweiz. Sie sind von ihrem politischen Gewicht her gewiss mit einer Volksinitiative zu vergleichen.

Seit der Zeit von Nationalratspräsident Ernst Leuenberger (SO) werden Volksinitiativen immer in der nationalrätlichen Kategorie 1 behandelt, es darf sich also jede und jeder dazu äussern. Ganz anders bei den Bilateralen Verträgen. Hier dürfen sich praktisch nur die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommission äussern. Der Rest schweigt, hört zu, schüttelt ab und zu den Kopf, und drückt immer mal wieder den roten oder grünen Kopf.

Dass dies frustrierend ist, mag einsichtig sein, ist freilich aber nicht einmal das Problem. Schlimm ist, dass das Parlament so einmal mehr deutlich macht, dass es sich seiner eigenen Funktion im Hinblick auf das Vertrauen, das im Volk gegenüber seinen Entscheidungen wachsen muss - schliesslich soll dieses Volk zumindest mehrheitlich im nächsten Juni doch diesen Verträgen zustimmen - nicht bewusst ist. Denn Vertrauen entsteht nicht durch beredtes Schweigen oder lärmigem Geschwätz. Vertrauen bildend weil Anstoss zum Nachdenken und Quelle des Lernens sind Redebeiträge von möglichst vielen ganz verschiedenen Rätinnen und Räten, die ihre Meinung sagen, Kritik äussern und auf die Meinungen und die Kritik anderer eingehen.

Will das Parlament aber seine Funktion gerade in der Direkten Demokratie wirklich wahrnehmen, so muss es so diskutieren und miteinander reden, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Standpunkte, Überlegungen und Einwände wieder erkennen und aus der Diskussion ihrer Repräsentanten für sich und ihre eigene Diskussion in ihrem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis bessere Argumente bekommen. Dazu muss aber die Diskussion im Parlament länger, vielschichtiger, offener, intensiver und vor allem diskursiver sein, man muss wirklich aufeinander eingehen wollen, wozu es wiederum ein Minimum an Zeit braucht. Und diese Zeit muss sich ein Parlament nehmen. Wir könnten uns durchaus ein Beispiel nehmen an einigen unserer ausländischen Kollegen, die in wichtigen Angelegenheiten vielleicht nicht um acht Uhr morgens beginnen wie wir, dafür aber bis spät in die Nacht hinein tagen und debattieren.

Wenn wir von der Qualität einiger Voten enttäuscht sind, dann dürfen wir nicht den Votanten zum Schweigen bringen, sondern selber besser reden und ihm und anderen zeigen, wo und weshalb er sich irrt. Dies gilt innerhalb wie ausserhalb des Bundeshauses. Und je besser wir dies im Bundeshaus in Zukunft besser machen, um so mehr können wir davon ausgehen, dass im ganzen Land all jene sich mit jener Sorgfalt in Wort und Tat unser aller gemeinsamen Sache zu wenden, die diese verdient.


Andreas Gross



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