24. Sept. 2005
SDS-Diskussion
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19 Thesen zur Zukunft der EU
ag. In der deutschen Zeitschriftenbeilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" vom 5.9.2005 formulierte Professor Ludger Kühnhardt, seit 1997 Direktor des Zentrums für Europäische Integrationsforschung der Uni Bonn, Thesen zur Zukunft der EU, die sich als Diskussionsgrundlage für unser Kolloquium vom 24. September vorzüglich eignen. Ich habe sie für unsere Zwecke aus seinem umfangreicheren Essay zusammengefasst. Mit unserer Diskussion tragen wir zur Reflexionsphase bei, für die sich die EU-Spitze bis Juni 2006 Zeit gegeben hat, um Wege zu finden, die aus der "Ratifikationskrise" des europäischen Verfassungsvertrages hinaus führen.
1. Echte europäische Verfassungsdebatte
"Die Ratifikationskrise der Europäischen Verfassung hat sich ironischerweise zur ersten echten europäischen Verfassungsdebatte entwickelt."
2. Schock führte zu Erkenntnissen
"Der Schock, der weite Teile der politischen Eliten in der EU nach den ablehnenden Referenden in F und den NL traf, ist der Erkenntnis gewichen, dass die Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten mehr denn je in den Prozess der Weiterentwicklung des europäischen Einigungswerkes einbezogen werden will." Dies "führte zu einer Neuausrichtung der Betrachtung".
3. Vertrauenskrise
"Die gescheiterte Ratifikation ist Ausdruck einer Vertrauenskrise zwischen Bürgern und Politikern, aber sie ist keine Krise der europäischen Integration an sich. Sie ist sogar eine Chance zur Stärkung der Bürgerbeteiligung im weiteren europäischen Einigungsprozess."
4. "Verfassung ist nicht tot"
"Mit dem Luxemburger Votum ist deutlich geworden, dass die Europäische Verfassung keineswegs tot ist. Die Verfassungsdebatte dürfte in der gesamten EU weitergehen und nachhaltig wirken."
5. Nichts ganz Neues
"Jede Stärkung der Strukturen der europäischen Integration hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten die Frage nach einer Erweiterung der Mitgliedschaft aufgeworfen; mit jeder Erweiterung in der Mitgliedschaft hat sich die Frage nach der erforderlichen Stärkung der Strukturen gestellt."
6. EU und Globalisierung
"über den richtigen politischen Weg im Umgang mit der Globalisierung wird in der EU selbstverständlich kontrovers diskutiert. Dass aber die Handlungsfähigkeit der EU eine elementare Voraussetzung dafür ist, die gebotenen Entscheidungen gemeinsam und damit wirkungsvoll zu treffen, wird kaum bestritten."
7. Wann interessieren sich BürgerInnen für institutionelle Reformen?
"Je mehr die Bürger davon überzeugt sind, dass politische Entscheidungen zu ihrem Wohle wirken oder wirken könnten, desto eher interessieren sie sich für die Frage danach, welcher institutionelle Rahmen zur Optimierung dieses Ziels erforderlich oder nutzbringend wäre."
8. "Das grösste strukturelle Problem"
"Während die nationalen Regierungen nach wie vor für erhebliche Teile der politischen Entscheidungen in der EU verantwortlich sind, wird von Politikern ein Grossteil der Kritik an den Folgen ihrer Entscheidungen auf die EU und ihre Institutionen abgewälzt."
9. "Schieflage"
"Das Verhältnis zwischen politischen Führungen und Unionsbürgern befindet sich in einer strukturellen Schieflage. Die Unionsbürger erwarten von ihren nationalen Führungen, was bestenfalls eine gemeinschaftliche EU-Führung leisten kann."
10. Scheitern des Budgetrahmens 2007-2013 als Chance zur Besserung
"Dass der Europäische Rat Mitte 2005 mit der Aufgabe gescheitert ist, einen Budgetrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 zu verabschieden, könnte sich am Ende als Segen herausstellen. Denn nun sind alle politischen Akteure endlich dazu gezwungen, öffentlich über eine Neuordnung der Prioritäten nachzudenken, die sich aus den Erwartungen der Unionsbürger ergeben: Vorrang müssen Budgetentscheidungen zugunsten von Forschung und Bildung, von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen haben."
11. Vielfalt als europäisches Gut
"Europas Vielfalt ist nicht nur im Blick auf Europas Kultur sein eigentliches Gut und sein globaler Attraktivitätsvorsprung. Europas Vielfalt muss auch in Bezug auf Ordnungs-, Wettbewerbs- und Wachstumspolitik zum Motor einer neuen europäischen Dynamik werden. Europäisches Gemeinwohl muss ein persönliches Anliegen der BürgerInnen Europas werden."
12. Europaweite Vergleiche
"Europas Politiker werden sich im Wettbewerb um die besseren Konzepte immer mehr nicht nur ihren nationalen politischen Protagonisten, sondern in gleicher, wenn nicht zunehmend in stärkerer Weise dem europaweiten Vergleich stellen müssen."
13. Transnationale Verpflichtungen
Da Chirac und Blankenende nach dem Scheitern des von ihnen unterzeichneten Verfassungsvertrages in ihren Ländern nicht zurückgetreten sind, ist "mit ihnen zusammen nach aller Wahrscheinlichkeit für alle anderen in der EU kein Ausweg aus der Krise zu finden, Dadurch verlieren F und NL, aber auch alle anderen EU-Mitgliedsländer Zeit, während die momentanen Probleme sogar noch grösser werden."
14. Nationale Wahlen haben europäische Bedeutung
"Nationale Wahlen müssen um die Komponente eines europäischen Vergleichs der zur Wahl anstehenden politischen Optionen erweitert werden." (Anmerkung des Setzers: Bei den deutschen Wahlen war Europa nie auch nur einmal ein Debattenthema!!)
15. Zeitgleiche Europäische Referenden
"Die gemeinsame Unionsbürgerschaft in der EU muss so um die Dimension politischer Mitwirkungsrechte gestärkt werden, dass Transparenz erhöht und Vergleichbarkeit hergestellt wird ... Dazu gehört auch, dass es in Zukunft zeitgleich europaweite Referenden zu Kernfragen der europäischen Politik geben sollte."
16. Neues gesamteuropäisches Referendum über den alten Verfassungsvertragsentwurf?
"Sollte am Ende der derzeitigen Ratifikationskrise der Europäischen Verfassung ein abschliessendes, zeitgleiches und gemeinsames Referendum in allen EU-Mitgliedstaaten stehen, um das für die Zukunftsfähigkeit der EU wichtiges Dokument überzeugend zu ratifizieren? Wäre ein solches nicht gesichtswahrend für NL und F? Ein solches Referendum wäre der endgültige Durchbruch einer europäischen öffentlichkeit, der sich seit einiger Zeit andeutet." (Anmerkung des Setzers: Die Notwendigkeit von doppelten Mehrheiten pflegen Angehörigen grosser Staaten nicht in den Sinn zu kommen ...)
17. Europäischer Verfassungspatriotismus
"Die erste echte europäische Verfassungsdebatte ist schon jetzt ein Wettbewerb der Ideen geworden - und das ist gut so. Zu ihrem Ende sollte allgemein anerkannt werden, dass ein europäischer Verfassungspatriotismus erforderlich ist, wenn die Idee der europäischen Integration im Zeitalter der Globalisierung erhalten bleiben soll."
18. Referendum gegen elitäre Vorwürfe
"Für die grosse Mehrheit der wahlberechtigten Unionsbürger könnte ein abschliessendes gemeinsames Verfassungsreferendum jedoch eine gute Chance darstellen, sich von dem Vorwurf zu befreien, sie seien europaskeptisch oder in europäischen Fragen inkompetent - ein Vorwurf, den Politiker den Unionsbürgern gerne machen, nachdem sie selber an europäischer überzeugungskraft eingebüsst haben."
19. Ein neuer Pakt ist nötig
"Am Ende der gegenwärtigen Reflexionsphase sollte jedenfalls nicht nur die Europäische Verfassung in Kraft treten, sondern auch ein neuer Pakt zwischen Unionsbürgern und den europäischen Institutionen stehen ... Für die EU gilt im Zeitalter der Globalisierung: Vielleicht könnte wenigstens über einen die Verfassung ergänzenden Pakt, der die zentralen Aufgaben und Verantwortlichkeiten der europäischen Politik benennt, ein europaweites Referendum abgehalten werden."
An der SDS-Tagung vom 24. September im Davidseck zu Basel wurden "Die Stärken und Schwächen der 19 Thesen angesichts der EU-Krise" verhandelt: Stärke sei ganz klar, dass über Verfahren im Verfassungsprozess nachgedacht wird, eine stets vernachlässigte Ebene, die Betonung der Bedeutung der europäischen öffentlichkeit; die Schwächen: Fragen wie Angst vor dem Osten und der Türkei kommen nicht ins Blickfeld, ebenfalls Arbeitslosigkeit.
Andreas Gross
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