Juni 2005
Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl)
Heft 2/2005
VS-Verlag
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Schweizer Parlamentarier in Europa:
Politische Spielräume lesenswert und lehrreich dokumentiert
Gross, Andreas: Das Europa der Schweiz.
Schweizerinnen und Schweizer im Europarat 1963-2003.
Editions le Doubs, St-Ursanne 2003, 315 Seiten. CHF 19,80.
Mühlemann, Ernst: Augenschein.
Als Schweizer Parlamentarier an aussenpolitischen Brennpunkten.
Verlag Huber, Frauenfeld 2004, 305 Seiten, EUR 38,90.
Von Beat Habegger
Den "Luxus einer engagierten Aussenpolitik", wie es der frühere Nationalrat Sigmund Widmer 1988 formulierte, leisteten sich während vieler Jahre nur wenige Schweizer Parlamentarier. Sie zeigten kaum Interesse an einem Politikbereich, dessen Stellenwert insbesondere aufgrund einer restriktiv verstandenen Neutralitätspolitik bescheiden war. Zu ändern begann sich diese Grundhaltung erst, als sich die internationale Verflechtung und zunehmende Komplexität politischer Sachfragen direkt auf die Innenpolitik auszuwirken begannen und sich die Tendenz des modernen Leistungsstaats zur Verlagerung von politischer Gestaltungstnacht zu den Exekutivorganen weiter akzentuierte. Das Parlament begegnete dieser Entwicklung einerseirs mit einer Verstärkung seiner aussenpolitischen Mitspracherechte innerhalb des Regierungssystems, etwa im Rahmen der Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung von 1999. Andererseits intensivierte es sein Engagement auf internationaler Ebene, wobei natürlich wegen der Nicht-Mitgliedschaft der Schweiz in der EU der Ausbau der parlamentarischen Mitwirkung auf dieser Ebene nicht in Betracht kam. Das neu erwachte Interesse konzentrierte sich auf die so genannte parlamentarische Aussenpolitik, welche sich in institutionalisierten Doppelrollen der Abgeordneten auf staarlicher und zugleich überstaatlicher Ebene manifestiert. Zwei Publikationen bieten nun einen Einblick in diese facettenreichen, bislang jedoch - nicht nur im schweizerischen Kontext - wenig beachteten Aspekte parlamentarischen Handelns.
Unter dem Titel "Das Europa der Schweiz" veröffentlichte Nationalrat Andreas Gross 28 Gespräche mit ehemaligen und gegenwärtigen schweizerischen Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Ergänzt durch acht weitere Interviews mit Schweizer Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Europarat, (etwa dem Präsidenten des Gerichtshofs), bieten sie dem Leser einen vertieften Einblick in diese zentrale europäische Organisation für Demokratieförderung und Menschenrechtsschutz. Sie erschliessen ein breites Panorama der wechselvollen Geschichte des Europarats, seiner Bedeutung für die schweizerische Aussenpolitik und illustrieren zugleich die Schwierigkeiten des Landes, einen angemessenen Platz in der sich konstituierenden europäischen Ordnung zu finden. Insgesamt vermittelt die breite Auswahl der Gesprächspartner eine differenzierte Sicht auf die Versammlung, zumal der Interviewstil den Ausführungen der Politiker eine besondere Authentizität verleiht und sie zu einer kurzweiligen Lektüre macht. «Für mich war der Europarat wie ein Brunnen, aus dem ich Ideen schöpfen konnte für meine Arbeit in National- und Ständerat» (S. 88), meint etwa Josi Meier auf die Frage, ob sie in der Parlamentarischen Versammlung Impulse für ihre politische Arbeit in Bern erhalten habe, während die frühere Nationalrätin Doris Morf sogar glaubt, dass «es wahrscheinlich nur wenige schweizerische Gesetze gibt, in denen man nicht den Einfluss der Arbeit des Europarats nachweisen könnte» (S. 110). Selbst wenn nicht alle Befragten ein derart positives Fazit ziehen, erlebten doch alle die Tätigkeit in Strassburg als politische Bereicherung. In den Räten selbst hingegen wurde und wird die Arbeit des Europarats nur wenig beachtet: In den aussenpolitischen Kommissionen ist der Europarat praktisch nie ein Thema und die jährlichen Berichte der Europaratsdelegation werden ohne vertiefte Plenardebatten zur Kenntnis genommen.
Zu den prägenden Schweizer Persönlichkeiten im Europarat gehörte auch Alt-Nationalrat Ernst Mühlemann, der zwischen 1994 und 1996 für die Aufnahme Russlands verantwortlich war. In seinen unter dem Titel "Augenschein: Als Schweizer Parlamentarier an aussenpolitischen Brennpunkten" publizierten Erinnerungen beschreibt er ausführlich, wie er diese schwierige und konfliktreiche Aufgabe bewältigte. Im Zentrum steht dabei die überzeugung des "politischen Pädagogen", so die Eigencharakterisierung des früheren Lehrers, dass nicht nur beim einzelnen Menschen, sondern auch bei einem Staat die für einen übergang zu Demokratie, Rechtsstaatliehkeit und friedlicher Konfliktlösung erforderlichen Lernprozesse ausgelöst werden können. Das zweite aussenpolitische Leitmotiv Mühlemanns ist der persönliche Augenschein vor Ort. Nach dem Ende des Kalten Kriegs besuchte er praktisch alle Staaten in der früheren kommunistischen Einflusssphäre und war bei den auf Westintegration drängenden politischen Eliten als Mitglied im National- und Europarat ein gern gesehener Gast. Auf sachliche Weise schildert er seine Erlebnisse und analysiert präzise die zeitgeschichtlichen Vorgänge, so wie es nur jemand kann, der nicht Vorurteile pflegt, sondern sich durch eigene Anschauung beeindrucken lässt. Unterhaltsam sind insbesondere verschiedene Anekdoten, in denen sein Temperament, seine Abenteuerlust und sein Mut zur unverblümten Rede aufblitzen. Das gemeinsame Foto mit der Witwe des georgischen Staatspräsidenten Swiad Gamsachurdia ermöglicht ihm das Durchkommen in allen tschetschenisch beherrschten Gebieten, und einen russischen Grenzoffizier schreit er - als Brigadier militärisch geschult - so lange auf Schweizerdeutsch an und wedelt dazu mit dem Diplomatenpass, bis er doch zum russischen General Alexander Lebed vorgelassen wird.
Beide Bücher zeigen, dass sich die Rolle des Parlaments in der Aussenpolitik nicht auf die Mitwirkung innerhalb des politischen Systems beschränken muss, sondern sich Gewinn bringend durch direkte Kontakte auf internationaler Ebene ergänzen lässt. Auch wenn die parlamentarische Aussenpolitik die traditionelle Diplomatie zweifellos nicht zu ersetzen vermag, erscheint es im Zeitalter von Globalisierung und Internationalisierung für Parlamentarier geradezu als Gebot, sich aussenpolitisch zu vernetzen und von einer rein innenpolitisch fokussierten Betrachtungsweise zu lösen. Auch innerhalb der EU darf und kann diese Aufgabe nicht ausschliesslich an das Europäische Parlament delegiert werden. Als gewählte Repräsentanten des Volkes verfügen Parlamentarier ausserdem über eine demokratische Legitimation, welche etwa zivilgesellschaftliche Gruppen (NGOs) in dieser Form nicht bieten können. Schliesslich zeigen die Berichte der Abgeordneten, dass internationale Erfahrungen und Informationen nicht zuletzt die Fachkompetenz des Parlaments insgesamt steigern und sich unter anderem in einer verbesserten demokratischen Kontrolle der Aussenpolitik von Regierung und Diplomatie niederschlagen.
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Andreas Gross
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