20. Mai 2005

Festvortrag

Was würden Josef Girard und
Guiseppe Mazzini heute sagen und tun?


Festvortrag zum offiziellen Festakt im Rahmen der
Jubiläumsveranstaltungen der Stadt Grenchen zum
200.Geburtstag von Giuseppe Mazzini
am 20. Mai 2005.

Von Nationalrat Andreas Gross

Als ich vor einigen Wochen zur Vorbereitung dieser grossen Ehre, für die ich den Verantwortlichen herzlich danken möchte, einen Festvortrag zum 200. Geburtstag des grössten Europäers unter allen Grenchner Bürgern halten zu dürfen, an einem regnerischen Samstagnachmittag nach Grenchen fuhr, alle Erinnerungsorte und -ausstellungen besuchte sowie alle entsprechenden Broschüren und Bücher kaufte und las, wurde mir schnell eines klar:
Sie wissen über den Aufenthalt Guiseppe Mazzinis in diesem Haus, über seine damaligen Tätigkeiten und Ideen, sein Leben und Wirken ganz allgemein und über sein Verhältnis zu Grenchen und der Schweiz im besonderen, vor allem auch dank dem bewundernswerten Engagement von Herrn Meier und der Mazzini Stiftung eigentlich schon alles. Da kann ich nichts Neues bieten. Und da ich keiner bin, der anderen abschreibt oder einfach zusammenfasst, was andere geschrieben haben, dachte ich mir etwas Besonderes aus: Ich fragte mich, was würde Mazzini selber zu seinem 200.Geburtstag in Grenchen sagen?

Ich weiss, bei einer solchen Frage muss man aufpassen, der eigene Wunsch darf nicht der Vater des Gedankens sein, den man dann dem anderen in den Mund legt - doch bei Mazzini gibt es derartig eindeutige Aussagen, vor allem auch aus seiner Grenchner Zeit, dass wir uns erlauben dürfen, die Frage zu beantworten: Was würde er heute bei seiner 200.Geburtstagsfeier selber sagen - zu Europa beispielsweise, denn dass er heute zu Europa reden würde, dessen dürfen wir angesichts der prekären Situation, in der sich die europäische Integration heute befindet, sicher sein.

Als Revolutionär würde er nicht zurückblicken, sondern in die Zukunft. Als Europäer wäre er heute, ein Jahr nach der grossen Wiedervereinigung Europas und der Überwindung der durch die beiden Kriege erzwungenen Spaltung Europas unter dem Dach der EU, etwas zur Verfassung Europas sagen, im realen und staatsrechtlichen Sinne. Aus Zuneigung zur Schweiz würde er sich auch der Schweiz widmen und sie an ihre europäische Identität ebenso erinnern wie an die Bedeutung des ebenfalls durch die drei Kriege von 1871 - 1945 zerrütteten Verhältnis der Schweiz und zum politisch organisierten Europa, der EU und wie sie dies überwinden könnte. Und er würde dabei seinen Gastgeber zitieren, Josef Girard, der 1830 für die Solothurner tatkräftig für das eintrat, was Mazzini für die Italiener und alle Europäer anstrebte: Die Volkssouveränität und die politische Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger.

Und Mazzini würde als sensibler Intellektueller und Idealist dabei gewiss unterscheiden zwischen dem, was an unausgeschöpften Potentialen für unsere Gegenwart deutlich ausgesprochen immer noch in seinen fast 200 Jahre alten Schriften und Ideen steckt und dem, was im übertragenen Sinn aus seinen Schriften destilliert werden könnte als Dünger für unsere gegenwärtige Problemsuche und zur Klärung unserer heutigen Zukunftsperspektiven.

Immer noch hochaktuell und für uns heute immer noch hilfreich ist beispielsweise Mazzinis Unterscheidung zwischen einem Patrioten, der er war, und einem Nationalisten, der er gerade weil er für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfte, nicht war. Seit 1836 benützte Mazzini das Attribut Nationalist mit einem negativen Unterton und bezeichnete damit all jene Chauvinisten, Fremdenfeinde und Imperialsten, welche glaubten, sich über die Rechte anderer Völker hinwegsetzen und diese für sich missbrauchen zu können. Ein Patriot hingegen war eben nicht egoistisch und der Patriotimus, das heisst die Zuneigung zu seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, auch kein Selbstzweck oder Ziel an sich, sondern immer bloss die Etappe am Dienst an allen, die Brücke zum Handeln im Allgemeininteresse, der berühmten cause commune. «Der Patriotismus», so meinte Mazzini, «sollte unserem grossen, überragenden Ziel, dem brüderlichen Miteinander aller Nationen, nie Schaden zufügen.» Gegen Ende seines Lebens, im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu den von ihm so genannten "Vereinigten Staaten von Europa" bezeichnete er den Nationalismus gar als "Perversion des Patriotismus".

Hätten die Europäer Mazzini wirklich ernst genommen und zeitgerecht umsetzen können, was er sich vorgenommen hatte, dann hätten auch sie die drei grossen Kriege und Katastrophen von 1870 bis 1945 nicht gebraucht, um aus ihnen das zu lernen, was zu viele Schweizerinnen und Schweizer ohne direkte Verheerung durch diese Katastrophen bis heute noch zu wenig gelernt haben: Dass die Nationen Europas, wie Mazzini in diesem Haus vor etwas über 180 Jahren schrieb, dazu bestimmt sind, zu lernen, dass sie von der Kooperation miteinander viel mehr voneinander profitieren können als vom Krach untereinander.

Dass die Europäer drei Kriege und die Erfahrung des Faschismus brauchten, um etwa 100 Jahre nach ihm zur gleichen Schlussfolgerung zu kommen, hätte Mazzini bestimmt betrübt.

Getröstet haben mag ihn dann aber wiederum, dass Landsleute wie der grosse Spinelli in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dafür gesorgt haben, dass Italien zu den Pionieren nicht nur der europäischen Integration, sondern auch zur ersten Nation wurde, welche sich 1989 ganz offiziell, in einem landesweiten Referendum, für die Schaffung einer europäischen Verfassung ausgesprochen hat.

Leicht traurig hätte ihn dann wieder gemacht, hätte er zusehen müssen, was in den letzten Jahren die Regierungschefs, auch sein eigener, aus dieser Idee machten und die Italiener sich dazu dieses Jahr nicht aussprechen dürfen. Mazzini wäre der elitären Versuchung im Unterschied zu vielen europäischen Regierungen der vergangenen 30 Jahre nicht erlegen, Europa gleichsam ohne die Bürgerinnen und Bürger zu festigen, was gewiss schneller und leichter zu machen ist, aber eben nur bis zu jenem Zeitpunkt funktioniert, da mittels einem Referendum die Bürgerinnen und Bürger ihren Anspruch auf Selbst- und Mitbestimmung durchsetzen und dann die ganze Entfremdung zum Ausdruck kommt, welche die Zukunft der Europäischen Integration mehr bedroht, als die zusätzliche Zeit, welche die Integrationsanstrengung der BürgerInnen gekostet hätte.

Es ist kaum zu glauben, aber wirklich wahr, Mazzini gehört auch zu denen, welche um die Notwendigkeit der Dezentralisierung politischer Macht wussten. Er wollte ein einiges Italien - aber wusste, dass ein solches nur von Dauer sein kann, wenn den Individuen ebenso wie den Gemeinden und Regionen möglichst viel Freiheit und Autonomie zugestanden wird. Auch hier erkennen wir den Föderalisten, der sich heute bewusst wäre, dass der Markt allein, ohne politische Einhegungen, zur Uniformität und zum Zentralismus führt - alles andere wäre ja rein ökonomisch weniger rentabel - und erst der politische Wille und dessen institutionelle Absicherung dazu führen, dass die kulturelle Vielfalt entsprechend der dezentralen Macht erhalten bleibt.

Mazzini war auch in zwei weiteren politischen Hinsichten ausserordentlich modern. Er pries den Individualismus und betonte bereits, dass Individualismus mit Egoismus nicht zu verwechseln ist. Er verband das Recht auf die Individualität mit einem fast religiösen Verständnis der Pflicht, gerade aus einem intakten Selbstwertgefühl sich ebenso für den Wert der anderen, also für die Entwicklung der Gesellschaft einzusetzen, so dass allen Menschen ermöglicht wird, ein eigenes Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Und obwohl für Mazzini den Zeitumständen entsprechend der Kampf für die nationalen Einheit und die internationale Brüderlichkeit im Vordergrund stand, entging ihm die Einsicht nicht, dass es auch um die Gerechtigkeit zwischen den einzelnen Volksschichten und Klassen ging. Er war sogar überzeigt, dass gewisse revolutionäre Aufstände in den 1820er und 1830er Jahren missrieten, weil sie der sozialen Verantwortung zu wenig Rechnung trugen, für ihn war klar, dass alle Revolutionen in erster Linie soziale Revolutionen sind. Armut und das Elend bringen jede politische Ordnung in Gefahr, schrieb Mazzini und sagte: «Ohne Chancengleichheit und einem sozialen Ausgleich wird die individuelle Freiheit zum Betrug und hälfe nur den wenigen Starken und Privilegierten!»

Wenn dies kein aktueller Satz ist, der darauf hinweist, was Mazzini heute nicht nur für die EU sondern auch angesichts der einseitig wirtschaftlichen Globalisierung gemacht und zum Notwendigkeit deren Humanisierung gesagt hätte.

Zum Schluss noch eine ganz besondere Kostbarkeit Mazzinis, eine für mich ganz wesentliche Frage und schliesslich noch eine leicht hoffnungsvolle Beobachtung, die wir bedenken sollten, wenn wir seiner Persönlichkeit heute gerecht werden wollen.

Die Kostbarkeit ist das unwahrscheinlich liebenswerte und dennoch kritische Zeugnis, welches Mazzini den Grenchnern und den Grenchner Arbeitern hinterlassen hat; was für ihn damals eine Realität war, hört sich für uns heute fast schon wieder als konkrete Utopie an: «Wenn man unter die Oberfläche schaut, ist in diesen Berglern» - er meinte damit die Grenchner - «ein Gefühl, das uns unglücklicherweise fehlt: Ein Gefühl von menschlichem Gewissen, das die beste Garantie für ihre Freiheit abgibt. Ein tiefes Gefühl von Gleichheit herrscht hier. Der Arbeiter ist nur während seiner Arbeit untergeordnet. Wenn er fertig ist, sitzt er neben Euch und trinkt einen Schoppen Wein, ohne ablehnende Haltung, ohne Unterwürfigkeit. Es wären wunderbare Menschen, wenn die Armut, die schwächliche Befindlichkeit und tausend andere Gründe ihnen nicht ein Gefühl von Eigeninteresse und Egoismus eingeimpft hätten.»

Ist uns etwa dieses Gefühl abhanden gekommen, oder gar das Gewissen, und wissen wir deswegen nicht mehr wirklich frei zu sein, beziehungsweise was Freiheit im republikanischen Selbstverständnis von Mazzini wirklich hiess, nämlich das Recht, die Fähigkeit und die Möglichkeiten miteinander auf unsere Lebensbedingungen so Einfluss zu nehmen, dass das Leben nicht als Schicksal empfunden und gelebt werden muss? Oder weshalb fühlt sich der Arbeiter heute immer noch untergeordnet, und gewiss immer noch nicht unterwürfig, aber doch mehrheitlich mit einer sehr ablehnenden und damit etwelchen Demagogen Zutritt verschaffenden Haltung?

Die Frage: Wie fand Josef Girard die Kraft und den Mut, Mazzini ins Bachtelenbad zu holen und ihm hier Obhut zu verschaffen, als er vom Kanton Bern 1834 ausgewiesen worden war? Was verschaffte Ammann Franz Schilt, heute würden wir vom Stadtpräsidenten Schilt sprechen, den Mut und die Kraft, sich dem Druck Metternichs, dem Bush von damals, und jenem von Zürich und Solothurn standzuhalten, Mazzini nicht auszuweisen, sondern der Gemeindeversammlung das Bürgerrecht für Mazzini und seine beiden Freunde zu beantragen um sie zu schützen? Franz Schilt antwortete in seiner Begründung auf diese Frage selber, nannte die «Christen- und Menschenpflicht», welche von uns fordere, dass wir Fremde beherbergen, und sagte aber dann den Grund, der uns noch heute weiterhelfen würde: «Diese drei Männer haben in ihrem Vaterland für die Freiheit gearbeitet und das gesucht, das wir Schweizer schon besitzen.» Die Freiheit.

Josef Girard holte Mazzini, weil er wenige Jahre zuvor, im und für den Kanton Solothurn das gleiche wollte und tat, was Mazzini in und für Italien anstrebte. Haben wir heute vergessen, dass wir auch einmal tun mussten, wofür heute immer noch Tausende umgebracht, gefoltert und verfolgt werden? Weshalb ist für den Chef der schweizerischen Fremdenpolizei klar, dass heute an der Schweizergrenze der tschetschenische, antiterroristische Freiheitskämpfer Achmed Zachajew, der in Grossbritannien Asyl erhielt, verhaftet würde, nur weil ihn die Russen auf einer Liste habe und die russische Regierung sonst auf die schweizerische Regierung Druck ausüben würden. Weshalb sind wir schon wieder soweit, wie das bereits Mazzini zu seiner Zeit und am eigenen Leib erfahren musste, dass es im monarchischen Grossbritannien mehr Freiheit gab für ihn als in der republikanischen, demokratischen Schweiz? Weshalb bringen wir heute die Kraft nicht mehr auf, uns einem möglichen Druck Russlands zu widersetzen - zumal Zachajew nicht einmal Asyl will in der Schweiz, sondern sich hier nur mit mir uns anderen Europaräten treffen wollte?

Ich möchte aber mit einem hoffnungsvolleren Ausblick schliessen, der Mazzini gerechter wird. Heute empfinden wir mit Recht das nationale und manchmal auch allzu nationalistische Denken vieler Menschen und Länder als Fessel für den Fortschritt, den die Menschheit im Interesse der meisten eigentlich nötig hätte. Dabei haben wir manchmal den Eindruck, dieses nationale und zu oft nationalistische Denken sei den Menschen wie zu einer zweiten Natur geworden und deshalb so unverrückbar. Und mag doch die Beobachtung ermutigen, dass dies nicht sein kann, weil Mazzini hatte vor weniger als 200 Jahren, in den meisten Momenten seines Lebens den Eindruck, die Nation, das nationale Denken, sei viel zu schwach ausgebildet. Das heisst, heute scheint uns etwas zu stark, was ihm, dem Europäer und Demokraten, vor noch nicht einmal 150 Jahren zu schwach vorkam. Dies ist doch tröstlich. Es zeigt, wenn wir daran arbeiten, dann können wir dieses bei manchen viel zu ausgeprägte nationale, ja eben manchmal perverse, weil völlig unbrüderliche und unschwesterliche Denken, überwinden und durch ein kontinentales und globales Denken und Verantwortungsbewusstsein ablösen. Wir müssen nur wollen und das entsprechende tun. Wenn so rasch etwas zu fest wurde, kann es in absehbarer Zeit auch wieder überwunden werden. Damit in 150 Jahren europäisches und universales Denken und Fühlen so selbstverständlich wird, wie heute das nationale, das Mazzini vor 150 Jahren noch sehr vermisst hat - eine Hoffnung, die Guiseppe Mazzini heute gewiss mit uns teilen würde - und - er würde dafür auch einiges tun.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Andreas Gross



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