19. Mai 2005

Aargauer Zeitung
Mittellandzeitung

Aktuelles aus einem Aargauer Geschichtsbuch von 2048
Orientierung aus der Zukunft

Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Zürcher SP-Nationalrat, gebürtiger Aargauer, aufgewachsen im Baselbiet, leitet ein Demokratie-Institut im Kanton Jura und ist ein Europäer aus der Schweiz


Als wir klein waren, war uns dies mehr als klar. Wer die Nase zu fest aufs Franz-Carl-Weber-Schaufenster drückte, konnte das Ersehnte dahinter kaum mehr erkennen, denn das Glas beschlug sich.

Als Erwachsene verhalten wir uns dennoch anders: Wer sich täglich bei all denen, die mit unserer Hoffnung auf Orientierung ein Geschäft machen wollen, bedient, und all das liest und hört und sich ansieht, was ihm da feil geboten wird, dem kann nur schwindlig werden; er verliert erst recht die ach so ersehnte Orientierung. Das gilt auch für naheliegendes wie die nächste Volksabstimmung, die nächsten Wahlen oder die für das Wohl das Landes angemessene Zusammensetzung der Landesregierung. Es gilt sogar für Vergangenes, in einigen Ländern eine besonders beliebte Dimension zur Desorientierung - weg von einer Zukunft im Allgemeininteresse.

Manchmal bedeutet etwas Distanz deshalb einen echten Erkenntnisgewinn. Deshalb beschaffte ich mir auf etwas ungewohnten Wegen das neue Geschichtsbuch, das der Kanton Aargau im Auftrag der deutschschweizerischen Bildungsdirektorinnen zum 200. Geburtstag der modernen Schweiz im Jahre 2048 herausgegeben hat. Die kantonalen Regierungsfrauen - die meisten von ihnen waren nicht mehr wie früher Juristinnen oder Ökonominnen, sondern Historikerinnen und Philosophinnen - hatten sich dabei etwas besonderes einfallen lassen. Sie verlangten vom Herausgeberteam, in einem Band zweierlei Arten der Geschichtsschreibung zu vereinen. Die erste Art folgte etwas traditionell den chronologischen Abläufen, gesellschaftlichen Veränderungen und den politischen Auseinandersetzungen, die diese zur Folge hatten. Im zweiten Teil verlangten die Regierungsrätinnen, dass 125 der geläufigsten politischen Begriffe - von A wie Alternative bis Z wie Zensur - anhand von Vorkommnissen und Personen aus der schweizerischen Politik der vergangenen 100 Jahre erläutert werden sollten. Und da findet sich nun tatsächlich einiges, was uns gleichsam im Rück- und Ausblick weiterhilft.

Unter dem Begriff "Mentalität" und wie Mentalitätsveränderungen erdauert werden müssen findet sich beispielsweise ein dreiseitiger Artikel zur bundesrätlichen Europapolitik von 1950 bis 2020. 40 Jahre lang habe die schweizerische Elite dem Volk suggeriert, die europäische Integration ginge es nichts an und erst nach Ende des Kalten Krieges gemerkt, dass dies nicht stimmt. Das Echo dieser falschen Botschaft habe aber dann alle die neuen Begebenheiten und frischen Erkenntnisse eben dieser Elite viel länger überlebt, als ihr lieb gewesen sei. Und es wird die frühere Luzerner Ständerätin Meier zitiert, die schon in den 1990er Jahren sagte, die Herrschaften sollten sich nicht wundern, dass das Volk seine Meinung nur langsamer ändere als jene, die zu lange das Falsche gepredigt hatten.

Oder der für die Schweizerinnen und Schweizer auch 2050 noch wichtige Unterschied zwischen Utopie und Illusion wird anhand des politischen Lebens des Aargauer grünen Nationalrates Geri Müller erläutert. So sei dieser 1989 der Zukunft auf der richtigen Spur gewesen und hätte deren Vergegenwärtigung beschleunigt, als er sich für die Schweiz ohne Armee eingesetzt habe ("Utopie"); es sei damit ein Reformprozess eingeläutet worden, der erst zum Zivildienst (1996), dann zur Halbierung der Armee (2004) und später zur Abschaffung der Wehrpflicht (2012) und deren Integration in die UNO-Friedenstruppen (2018) geführt hätte.

Illusionär sei hingegen gewesen, wie Müller die Schweiz 2005 vom Asyl-Abkommen von Dublin habe fernhalten wollen und nicht vorausgesehen habe, dass durch die nach der Assoziation an Dublin abnehmende Anzahl von Asylbewerbern der Schweizer SVP den Boden für die permanente Verschärfung der helvetischen Asylgesetzgebung entzogen habe. Auch unter den Stichwörtern Kollegialität und Konkordanz, beide der Jugend 2048 so fremd wie 2005 Unfehlbarkeit oder 2012 Neutralität ist viel von Christoph Blocher die Rede (Bundesrat von 2004 - 2006 sowie von 2012 - 2016), der massgeblich zu deren Überwindung, beziehungsweise Weiterentwicklung beigetragen habe.

In der ersten Ausgabe der Aargauer Zeitung zum Jubiläumsjahr 2048 war die neue Schweizergeschichte aus dem Aargau übrigens kritisiert worden. Zu viele Begriffe, so hiess es in der AZ, würden anhand von Irrtümern von Akteuren um die Jahrhundertwende 1995 - 2005 erklärt, obwohl doch auch vorher und später noch im Guten wie im Schlechten Eindrückliches geleistet worden sei.

So wird unter dem Stichwort "Anachronismus" das Verständnis der Landesgrenze des früheren Bundesrates Blocher mit demjenigen der 2. Weltkriegsveteranen aus Frankreich und Deutschland verglichen, die den 60. Jahrestag des Kriegsendes noch erlebt hatten. Während für Blocher eine Grenze immer noch konstitutiv war für das politische Handlungsvermögen, zeigten sich die Veteranen froh darüber, diesen Irrtum schon 50 Jahre zuvor überwunden und die Grenzen relativiert zu haben, und so im Kampf gegenüber dem organisierten Verbrechen wie auch für die Humanisierung der Globalisierung politisch stärker geworden zu sein.

Dazu meinte die AZ im Januar 2048, die Autorinnen hätten unter diesem Stichwort auch das Wirken des früheren Aargauer FDP-Nationalrates (2003 - 2015) Philip Müller erwähnen sollen, der 2022, nach ersten Frustrationen ob dem EU-Beitritt der Schweiz, zum berühmten Fremdenpolizeichef der bisher einzigen rein national-konservativen Bundesregierung geworden war, doch kläglich scheiterte, weil er noch in den Kategorien von In- und Ausländern dachte, als die meisten übrigen Schweizer sich bereits als weltoffene Europäer verstanden.


Andreas Gross



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