17. Mai 1996
Der Bund
Nummer 114
Seite 2
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Keine demokratische Schweiz ohne ein demokratisches Europa
Politische Einheit / Einer der eifrigsten Politiker, die sich für die politische Einheit Europas engagieren, ist SP-Nationalrat Andreas Gross. Er beklagt das Demokratie-Defizit Europas, doch könne gerade die Schweiz aus ihrer geschichtlichen Erfahrung heraus ihren Beitrag auf der «politischen Baustelle Europa» einiges leisten. Die Schweiz habe diesbezüglich wichtige Aufgaben zu erfüllen - denn ohne ein demokratisches Europa werde es künftig auch keine demokratische Schweiz mehr geben.
Von Tobias Kästli,
Historiker, lebt und arbeitet in Bern
Andreas Gross, Nationalrat, Politologe und Wanderprediger in Sachen direkte Demokratie, formuliert gewissermassen die Gegenthese zu Christoph Blocher: Nicht die Integration der Schweiz in die EU sei eine Gefahr für die direkte Demokratie in unserem Land, sondern gerade das Abseitsstehen. Es gehe darum, Europa als politisches Projekt mit grossem Reformbedarf zu erkennen und möglichst basisdemokratisch umzubauen. Dazu aber könne die Schweiz einen wichtigen Beitrag liefern. Diesen Gedanken hat Gross in vielen Zeitungsartikeln, Aufsätzen und Reden seit 1991 entwickelt. Die wichtigsten dieser Texte liegen neuerdings in Buchform vor unter dem Titel «Auf der politischen Baustelle Europa», erschienen im Verlag Realotopia in Zürich.
Das Buch widerspiegelt einen Denk- und Handlungsprozess, der nicht abgeschlossen ist, sondern die Debatte erst eröffnen will. Gross kreist das Thema ein, beleuchtet es von verschiedenen Seiten und bietet, trotz häufigen Wiederholungen, eine Fülle von Anregungen und nützlichen Informationen. Aussenminister Flavio Cotti hat das Vorwort beigesteuert, in dem er sich prinzipiell hinter das Anliegen von Gross stellt: «Wer für echte Souveränität eintritt, kann sich nicht damit begnügen, die Erosion der nationalstaatlichen direktdemokratischen Handlungsmittel durch die zunehmende Bedeutung transnationaler Prozesse und Entscheide -namentlich der EU - zu ignorieren oder zu beklagen. Er muss gleichzeitig vielmehr auch für eine vollverantwortliche Teilnahme an den entscheidenden transnationalen Prozessen, die zudem möglichst demokratisch auszugestalten sind, einstehen.» Wenn Cotti das transnationale Handeln auf Regierungsebene übt, so versucht es Gross sozusagen von unten her, indem er sich für die Vernetzung der europapolitisch interessierten Bürgerinnen und Bürger in allen europäischen Staaten einsetzt.
Es begann im Mai 1991, als sich in der ostdeutschen Hansestadt Rostock 35 Frauen und Männer aus fünf europäischen Staaten trafen mit dem Ziel, mehr Demokratie auf europäischer Ebene zu erkämpfen. Damit war die Eurotopia-Bewegung aus der Taufe gehoben, und sie hat seither in vielen Diskussionen ihre Thesen präzisiert. Mitbegründer Andreas Gross hat die Bewegung in der Schweiz vorangetrieben und zusammen mit dem Berner Jürgen Schulz auch die internationale Koordination übernommen. Im Namen Eurotopia ist im Grunde genommen das Programm schon enthalten: Im Gegensatz zu Utopia, dem «Nirgendwo-Ort», meint Eurotopia das konkrete Europa in seiner künftigen demokratischen Form, also ein Europa, das nicht nur ein «Binnenmarkt» ist, sondern auch zu einem Ort des demokratischen Handelns wird.
Europa ist möglichst basisdemokratisch umzubauen
Heute ist Europa nationalstaatlich geordnet, wobei die Nationalstaaten durch Staatsverträge mehr oder weniger eng miteinander verbunden sind; am engsten die Mitgliedstaaten der EU. Trotz der Existenz eines Europaparlaments funktioniert die EU keineswegs demokratisch, denn das entscheidende Gremium ist der Ministerrat, der nicht durch den Willen der EU-Bürgerschaft legitimiert ist, sondern durch den Willen der Nationalstaaten. Voraussetzung eines demokratischen Europas wäre, dass die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Nationalstaaten gleichzeitig auch als Bürgerinnen und Bürger Europas auftreten, also ihre politischen Rechte direkt in bezug auf Europa und nicht nur über den Umweg des Nationalstaates wahrnehmen können. Europa braucht eine Verfassung, sagt Gross, durch die eine neu konstituierte Europabürgerschaft in ihre Rechte eingesetzt wird.
Wie 1848 die Kantone, müssen heute die europäischen Länder einen Bundesstaat bilden
Die Parallele zwischen diesem Europaprojekt und dem Projekt der schweizerischen Liberalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt auf der Hand: So wie sich 1848 die souveränen schweizerischen Kantone zu einem Bundesstaat zusammenschlossen, sollen sich heute die europäischen Staaten zu einem grösseren Ganzen zusammenschliessen. In einem in «Baustelle Europa» abgedruckten Gespräch zwischen Andreas Gross und dem belgischen Professor und EU-Berater Raymond Rifflet spricht letzterer von einer notwendigen «Helvetisation» Europas, und er versteht darunter eine europäische Föderation nach schweizerischem Vorbild: Was im gemeinsamen Interesse aller Glieder ist, wird auf der gemeinsamen übergeordneten Ebene entschieden, was die einzelnen Länder allein betrifft, entscheiden sie selber; nur so kann Europa zusammenwachsen, ohne dass die unterschiedlichen Traditionen der verschiedenen Länder völlig eingeebnet werden.
«Die falsche Vorstellung einer homogenen EG ist vorbei», schreibt Gross. Die Abstimmungen in Dänemark und Frankreich 1992 hätten gezeigt, dass das Volk mehr Demokratie und eine stärkere Berücksichtigung der Unterschiede wünsche. Dem müssten die EU-Kommission und der Ministerrat Rechnung tragen. Wenn die EU während Jahren vorwiegend ein Wirtschaftsprojekt gewesen sei, so zeige sich nun immer deutlicher, dass sich die Vernachlässigung der politischen Strukturen räche, und dieses Defizit müsse wettgemacht werden. Was sich aufdränge, sei eine Stärkung von Föderalismus und Demokratie in Europa. Dabei versteht Gross unter «Demokratie» eine direkte Demokratie, wie wir sie in der Schweiz kennen, also unter Einbezug von politischen Instrumenten wie Referendum und Volksinitiative.
Hier drängen sich gewisse Fragen auf. Es ist zwar unverkennbar, dass auch in EU-Kreisen das Defizit an politischer Demokratie beklagt wird und dass die kürzlich in Turin eröffnete «Intergovernmental Conference» (IGC), die sich die Weiterentwicklung des Vertrags von Maastricht zum Ziel gesetzt hat, auch das Demokratieproblem angehen will. Aber ist die Forderung nach direkter Demokratie in Europa nicht überrissen? Ist diese Form der Demokratie nicht an die Kleinräumigkeit der Schweiz gebunden und in einem europäischen Grossraum zum Scheitern verurteilt, weil es beispielsweise die Bürger und Bürgerinnen von Bilbao überfordert, zu Problemen des Alptransits Stellung zu nehmen, so wie es uns überfordern würde, uns auch noch mit den Problemen der spanischen Fischerei, mit der Schiffsbauindustrie und mit der Seefahrt befassen zu müssen?
Die Vernachlässigung der politischen Strukturen rächt sich jetzt
In seiner basisdemokratischen Begeisterung hat Gross in den älteren der im Buch abgedruckten Aufsätzen die Meinung vertreten, die Wahrnehmung demokratischer Rechte bedeute einen derart faszinierenden Lernprozess, dass wir alle, wenn uns diese Rechte nur in genügendem Mass zugestanden werden, sehr wohl bereit seien, uns mit immer mehr politischen Themen zu befassen und dafür auch immer mehr Zeit einzusetzen. In den neusten Aufsätzen neigt er eher zur Ansicht, das Mass des politischen Aufwands müsse trotz der Ausweitung der direkten Demokratie auf Europa insgesamt etwa gleich gross bleiben, es müssten also Wege gefunden werden, die wirklich wesentlichen Themen, die in den Zuständigkeitsbereich der direkten Demokratie gehörten, von den weniger wichtigen zu scheiden.
Basisdemokratische Aktivitäten («Bürgerinitiativen»), die über die nationalstaatlichen Grenzen hinausreichen, tragen zum Entstehen eines demokratischen Europas bei, also etwa die internationalen Menschenrechtsaktivitäten. Sie bilden den Gegenpol zu den supranationalen Aktivitäten auf Regierungsebene.
Was kann daraus schliesslich entstehen? Ein europäischer Bundesstaat, also eine Schweiz oder eine Bundesrepublik Deutschland im grösseren Massstab? Oder vielleicht ein politisches Gebilde, das heute noch gar nicht exakt beschrieben werden kann, weil es sich vom nationalstaatlichen Modell, das unsere Vorstellung prägt, wesentlich unterscheidet?
Gross läuft immer wieder Gefahr, nationalstaatliche Verfassungsideen der Schweiz des 19. Jahrhunderts auf das Europa von morgen übertragen zu wollen. Im privaten Gespräch gesteht er aber ein, dass ein demokratisches Europa nicht unbedingt unserem bundesstaatlichen Modell entsprechen werde, dass ein Europaföderalismus vielleicht ganz neue politische Formen entwickeln werde, die sich am besten mit dem Begriff der Vernetzung beschreiben lassen. Auf der Ebene der Information ist die Vernetzung ja schon weitgehend gegeben; sie muss politisch fruchtbar gemacht werden.
Den Bürgerinnen und Bürgern muss das letzte Wort auch in Europa gehören
Beim europäischen Integrationsprozess dürften weder die «hohe Politik» noch die Wirtschaft allein entscheiden; die Bürgerinnen und Bürger müssten an den politischen Entscheiden partizipieren, und ihnen müsse auch das letzte Wort zukommen, schreibt Gross. Punkto Bürgerpartizipation sieht er hoffnungsvolle Zeichen: Seit kurzem steht der von der EU einberufenen IGC eine Organisation mit der Bezeichnung ICC («Inter Citizen Conference») gegenüber, in der sich eine ganze Reihe von basisdemokratisch orientierten Europabewegungen miteinander zu vernetzen suchen. Das ist die neuste Entwicklung, die im Buch von Gross noch nicht dokumentiert ist.
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