13. Juli 2000

Basler Zeitung

Gross: «Wir müssen die
Volksrechte verfeinern»


Basel. Wie kann die Schweiz im Falle eines EU-Beitritts ihre direkte Demokratie retten oder gar zur einer Demokratisierung der Union beitragen? Die BaZ sprach darüber mit SP-Nationalrat Andreas Gross. Der Politologe ist Leiter des Wissenschaftlichen Instituts für direkte Demokratie in Zürich und Mitglied der vorberatenden Kommission zur Reform der Volksrechte.

Interview Lukas Schmutz und Thomas Gubler

BaZ: Herr Gross, unser Nachbarland Österreich droht im Zusammenhang mit den Sanktionen der 14 anderen EU-Mitgliedern der EU mit den Volksrechten. Ist das nicht eigentlich ein klares Zeichen dafür, dass sich die Europäische Union mit der direkten Demokratie allgemein schwer tut?

Andreas Gross: Meiner Meinung nach kann im Fall der von Österreich geplanten Volksbefragung weder von Drohung noch von direkter Demokratie beziehungsweise von Volksrechten die Rede sein. Hier handelt es sich vielmehr um ein klassisches Plebiszit im negativen Sinne. Die Macht hat die Gnade, dem so genannten Volk eine wahrscheinlich eher suggestive Frage zu stellen, um die Zustimmung zu einer Haltung gegenüber Sanktionen zu bekommen, von denen jedermann weiss, dass sie von den Österreichern abgelehnt werden. Ich erachte dieses Vorgehen insofern als undemokratisch, als in einer direkten Demokratie mit wirklichen Volksrechten das Parlament dem Volk nicht nach Gutdünken Fragen vorlegen kann. In einer direkten Demokratie wie der schweizerischen wird dann abgestimmt, wenn die Verfassung geändert wird oder wenn das Volk über ein Gesetz abstimmen will. In Österreich aber sucht die Macht die Gelegenheit, eine zusätzliche Legitimation zu erhalten.
Der Sinn dieser Volksbefragung ist daher primär ein innenpolitischer, um die Opposition unter einen vaterländisch-patriotischen Druck zu setzen. Das Plebiszit ist deshalb auch als Instrument zur Schwächung der Opposition gedacht und somit doppelt undemokratisch. Der Sinn der Demokratie ist die Teilung der Macht und nicht deren Kumulation oder Konzentration.

In Österreich und auch in der Schweiz entstand ein Missbehagen gegenüber einer EU, die zwar verordnet, demokratisch aber schwach verankert ist. Ist es da nicht verständlich, dass Bundeskanzler Wolfgang Schüssel den plebiszitären Weg beschreitet?

Bundeskanzler Schüssel ist in dieser Frage ein getriebener. Es war Jörg Haider, der diese Volksbefragung ausgeheckt hat. Was nun die Sanktionen betrifft, so müssen wir sehen, dass in mindestens fünf europäischen Ländern (Dänemark, Belgien, die Schweiz, Österreich und Frankreich) rund 25 Prozent der Wählerinnen und Wähler Parteien wählen oder wählen würden, die antieuropäische Werte propagieren. Da muss man eine gewisse "kritische Begleitung" Österreichs schon verstehen. Auf der anderen Seite bin aber auch der Meinung, dass die Sanktionen Ausdruck eines zu starken Zentralismus und eines unausgereiften Föderalismus sind.
Im Weiteren gilt es aber auch zu beachten, dass es nicht die EU ist, die Sanktionen gegenüber dem Mitgliedsstaat Österreich verhängt hat, sondern die Regierungen der 14 anderen Mitglieder. Die Sanktionen laufen nur auf nationaler, bilateraler Ebene. Die Union selbst hat gerade verhindert, dass Österreich isoliert wird. Verständnis für den plebiszitären Weg kann man schliesslich deswegen nicht aufbringen, weil man gegen einen aus demokratischer und föderalistischer Sicht fragwürdigen Sanktionsbeschluss nicht mit einem demokratisch ebenso fragwürdigen Mittel vorgehen sollte.

Wie auch immer, der Eindruck bleibt, dass sich die Europäische Union mit einer direkten Demokratie schwer tut.

Grundsätzlich hat jede Regierung Mühe mit Volksrechten, denn wenn das Volk wirklich etwas zu sagen hat, dann ist das Regieren eben sehr viel schwieriger. Es ist nachgerade der Kern der direkten Demokratie, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur ein Wahlrecht haben, sondern auch in Sachfragen mitbestimmen und die Souveränitätsdelegation ans Parlament immer wieder zurücknehmen können. Das aber macht das Regieren nicht einfach. Dies kann jedoch nie ein Argument dagegen sein. Für uns Schweizer stellt sich aber die Frage, wie können wir die potenziellen Leistungen eines direkt-demokratischen Verfahrens im Rahmen einer europäischen Verfassung deutlich machen. Das ist mit Sicherheit nicht so einfach, weil die theoretischen Erkenntnisse im Zusammenhang mit der direkten Demokratie noch viel zu wenig ausgearbeitet sind.

Inwiefern und warum fehlen diese theoretischen Erkenntnisse?

Das kommt daher, dass diejenigen Wissenschaftler, die sich mit der Demokratie befassen, nicht gerade die grössten Verfechter der direkten Demokratie sind. Hinzu kommt, dass die Schweiz ein theoriefeindliches Land ist. Sie verwechselt immer akademisch mit theoretisch oder abstrakt mit theoretisch. Dabei gibt es nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Eine Theorie über die direkte Demokratie würde beispielsweise zeigen, dass eine ihrer grössten Leistungen ihre Fähigkeit ist, vielfältige Bevölkerungsgruppen zu integrieren. Im Weiteren schafft sie Diskussion. Niemand kann befehlen, alle müssen überzeugen. Drittens kreiert die direkte Demokratie eine riesige politische öffentlichkeit und viertens konstituiert sie die Basis einer transnationalen Demokratie. Und wenn wir diese vier grossen Leistungen der direkten Demokratie anschauen, dann stellen wir fest, dass es genau diese vier Elemente sind, die der europäischen Integration heute fehlen.

Wann aber wird unter diesen Umständen das Europa Prodis, Chiracs und Fischers bezüglich Demokratie einen Standard erreicht haben, der mit dem schweizerischen in etwa vergleichbar ist?

Allein durch den Umstand, dass nun offen über eine europäische Verfassung diskutiert wird, wird die EU sicher noch nicht demokratischer, zumal der deutsche Aussenminister Joschka Fischer nicht eben ein Freund der direkten Demokratie ist. Demokratie wird nie pfannenfertig ins Haus geliefert. Diejenigen, die sie fordern, müssen etwas dafür tun. Die Teilung der Macht erfolgt nur bei genügend Druck von unten. Erst wenn Politiker Angst davor haben, alle Macht zu verlieren, sind sie bereit, einen Teil davon abzugeben. Und dieser Punkt ist für die EU noch nicht erreicht.

Aber sehen Sie diesbezüglich in Europa genügend Kraft, dass man diese in der Schweiz als Beitrittsargument für die Schweiz verwenden könnte?

Ja. Es gibt sehr viele Leute, die davon überzeugt sind, dass es Europa braucht und dass Europa sogar stärker werden muss. Stärker kann aber Europa nur werden, wenn teilweise noch mehr Souveränität transferiert wird. Das schliesst indessen nicht aus, dass gleichzeitig auch Souveränität wieder an die Regionen oder Nationalstaaten zurückgegeben wird. Ersteres kann jedoch in keinem Land mehr auf Kosten der Demokratie gehen. Aus dieser Erfahrung werden sich noch mehr Menschen für die Demokratisierung engagieren. Und je mehr das tun, desto eher wird etwas geschehen, das uns in der Schweiz hilft, eine Mehrheit für den EU-Beitritt zu finden.

Hierzulande entsteht der Eindruck, dass die schweizerischen Volksrechte deshalb reformiert werden müssen, weil es von der europäischen Seite für ein allfälliges Zusammengehen gefordert wird. Wie gross ist der Anpassungsdruck von Europa auf die Schweiz in Bezug auf Volksrechte?

Es sind nicht die Europäer, die uns zu irgendetwas zwingen. Die EU als übernationale Rechtssetzungsinstanz erfordert von den ihr freiwillig beitretenden Gemeinwesen gewisse Reformen. Wenn ein neuer Kanton der Schweiz beitreten würde, müsste er auch die Bundesregelungen akzeptieren. Im Falle der EU geht eben europäisches Recht vor. Und das hätte Konsequenzen für die Schweizer Volksrechte. Der primäre Anpassungsbedarf liegt jedoch eindeutig bei der Regierungsreform. Frau Bundesrätin Dreifuss beispielsweise vereinigt in ihrem Departement Bereiche, die in anderen Ländern auf mindestens fünf Ministerien aufgeteilt sind. Das hiesse, dass Frau Dreifuss die meiste Zeit in Brüssel verbringen müsste. Und das kann nicht sein.

Aber auch bei den Volksrechten wären Modifikationen unabdingbar?

Bei den Volksrechten ist es so, dass Initiativen nicht mehr ganz frei ergriffen werden könnten, weil nicht mehr alles Recht dem Willen des Schweizervolkes beziehungsweise dem der Kantone allein unterstellt ist. Eine Landwirtschaftsinitiative etwa würde schwierig werden, weil in diesem Bereich die Rechtssetzungskompetenz in Brüssel sehr hoch ist.

Aber das ist es doch, womit die Schweizer Mühe haben. Wie soll man damit umgehen?

Es gibt das perfektionistische und das eher pragmatische Vorgehen. Ich selbst bin für das pragmatische: Man könnte über eine teilweise mit EU-Recht in Widerspruch stehende Initiative abstimmen lassen und zum vornherein deutlich machen, welche Teile bei einer Annahme konfliktträchtig beziehungsweise aus Kompetenzgründen nicht realisierbar wären. Diese Teile wären dann als Auftrag zu verstehen, innerhalb der EU auf parlamentarischer und Ministerebene auf entsprechende änderungen des EU-Rechts im Sinne der Initiative hinzuwirken. Man könnte aber auch - und das ganz ohne europäischen Druck - noch etwas anderes machen; nämlich die Volksrechte diversifizieren. Ich denke da etwa an die Ermöglichung des konstruktiven Referendums oder an die Schaffung eines Volksauftrages - einer Euro-Motion - für die transnationale Ebene.

Wo sehen Sie den Anwendungsbereich eines konstruktiven Referendums?

Wenn die EU Recht nicht in Form der Verordnung, sondern in Form von Richtlinien setzt, dann gibt es nationalen Spielraum bei den Umsetzungsmöglichkeiten. Und da wäre das konstruktive Referendum ein ideales Volksrecht. Wenn wir also die schweizerische direkte Demokratie rechtzeitig verfeinern, dann muss man in der Schweiz erst recht keine Angst vor einer Beschränkung der direktdemokratischen Potenziale haben. Dies zumal dann nicht, wenn wir als EU-Mitglied diese Union auch föderalisieren und demokratisieren wollen.

Heisst das, dass die Volksrechte eigentlich gar nicht radikal verändert werden müssten, wenn wir davon ausgehen, dass die Schweiz ein aktives EU-Mitglied würde, das auch partikuläre Interessen im Gesamtverband vertreten könnte?

Da wäre ich ein bisschen vorsichtig. Man soll keine falschen Hoffnungen wecken, sondern ehrlich darlegen, dass die Schweiz die EU nie so wird reformieren können, wie wir sie am liebsten hätten. Denn wir sind nicht nur der direkt-demokratischste Staat, sondern auch der föderalistischste Staat Europas. Die Schweiz wäre ein Teil dieser EU, der eine Reform mitgestalten kann. Auf der anderen Seite dürfen wir aber etwas nicht ausser Acht lassen: Der Nationalstaat kann die Demokratie, auch diejenige, die wir bisher hatten, nicht alleine verteidigen. Das heisst, ein Nein zu Europa rettet kein Stück unserer Demokratie. Angesichts der zunehmenden Macht der transnationalen Märkte erodiert die nationale Demokratie, ob man nun in der Union ist oder nicht. In der EU besteht indessen die Chance, diese Erosion aufzufangen. So haben etwa die Kantone bei der Gründung des Bundesstaates 1848 an Souveränität eingebüsst. Die kantonalen Bürger haben aber an Souveränität gewonnen, weil sie zusätzlich zur kantonalen eine eidgenössische realisieren konnten.

Diese Situation würde aber eine Reform der Volksrechte in der Schweiz dringend erfordern. Tatsache ist aber, dass diese Reform heute wegen den Unterschriftenzahlen blockiert ist.

Sie ist heute wesentlich weniger blockiert als noch vor einem halben Jahr. Dabei möchte ich betonen, dass ich nie gegen eine Reform der Volksrechte war. Ich habe im Gegenteil immer auf den Verfeinerungsbedarf hingewiesen. Hingegen war ich immer gegen eine Erhöhung der Unterschriftenzahlen. Und in der neuen Subkommission der beiden Kammern ist mittlerweile auch eine klare Mehrheit für eine Reform und gegen diese Erhöhung. Denn in den letzten fünf Jahren wurde eben diese Unterschriftenzahl auf kaltem Weg um rund 70 Prozent allein dadurch erhöht, dass die Leute heute in grosser Zahl nicht mehr an der Urne, sondern am Briefkasten ihre Stimme abgeben. Das hat das Sammeln von Unterschriften erheblich erschwert. Denn das Urnenlokal war der beste Platz zum Sammeln, weil sich dort die aktiven und politisch interessierten Stimmberechtigten einfanden.

Es gibt aber auch Stimmen, die vorauseilende Reformen im Hinblick auf einen Beitritt für den falschen Weg halten und davon ausgehen, dass dann, wenn der politische Wille für einen EU-Beitritt vorhanden ist, sich die politischen Reformen quasi von selbst ergeben.

Das ist eine legitime, meines Erachtens aber nicht sehr weitsichtige Haltung. Denn die Differenzierung und Verfeinerung der Volksrechte ist auch innenpolitisch sinnvoll. Und abgesehen davon könnte die Verfeinerung der direkten Demokratie zehn bis zwanzig Prozent Skeptiker davon überzeugen, dass wir der Europäischen Union beitreten sollen.
Deshalb ist eine Verfeinerung der Volksrechte nicht vorauseilender Gehorsam, sondern eine Möglichkeit, Europa und Demokratie rechtzeitig auf die gleiche Seite der Barrikade zu bringen. Denn wenn wir die Demokratie den Nationalisten überlassen, dann können die Europäer in der Schweiz nicht gewinnen.


Andreas Gross



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