1. Nov. 2004

Vortrag gehalten in Bern

Die EU und die Direkte Demokratie:
Ewig unvereinbar oder gar
auf einander angewiesen?


Von Andreas Gross

Ich möchte Ihnen darlegen, weshalb ich nicht nur nicht meine, dass die Direkte Demokratie unvereinbar sei mit der Europäischen Union (EU) - eine der wenigen Behauptungen, die Europäer aus Brüssel manchmal mit antieuropäischen Schweizern gemeinsam vertreten -, sondern dass die Direkte Demokratie und die Europäische Union einander sogar nötig haben1. Sie sind, wollen sie sowohl die transnationale Integration stärken als auch die Substanz und die Gestaltungskraft der Direkten Demokratie erhalten, ganz im Gegenteil sogar aufeinander angewiesen. Um dies zu erkennen, müssen die Ängste sowohl vor der Direkten Demokratie als auch vor der Europäischen Union überwunden und deren Kerne und zentralen Leistungen sorgfältiger herausgearbeitet werden als dies üblich geschieht.

1. Das kommunikative Wesen und die kommunikativen
Errungenschaften der Direkten Demokratie


Die Seele der Direkten Demokratie ist die Diskussion. 2 Eine Volksinitiative kann als das Recht einer Minderheit der aktiven Bürgerinnen und Bürger verstanden werden, der ganzen Gesellschaft eine Fragestellung und eine Diskussion aufzudrängen, welche diese unter Umständen nicht will. Das Referendum wiederum wäre das Recht einer anderen Minderheit, zusätzlich zur parlamentarischen Diskussion eine gesellschaftliche Nachdiskussion eines gesetzgeberischen Vorhabens verlangen zu können.

Die beiden wichtigsten Volksrechte erhöhen somit die gesellschaftliche Diskussionsintensität. Sie erzeugen Hunderttausende von grossen und kleinen, offiziellen und inoffiziellen, privaten und öffentlichen, organisierten und spontanen Diskussionen, Debatten und Erörterungen. Diese Diskussionen schaffen oder entziehen Legitimation. Im Falle der Volksinitiative wird versucht, dadurch für neue Projekte, Ideen oder Vorhaben neue Legitimation zu schaffen. Im Falle des Referendums wird versucht, einem parlamentarisch legitimierten Projekt die Legitimation zu entziehen, so dass es bei der Volksabstimmung durchfällt.

Diese unzähligen Diskussionsprozesse schaffen aber noch mehr. Erstens sind sie, in Anlehnung an ein berühmtes Zitat von Perikles, bessere Voraussetzungen für eine weisere Entscheidung. Mit anderen Worten: Je intensiver die öffentlichen und privaten Diskussionsprozesse zu einem politischen Vorhaben sind, desto grösser sind die Chancen, politische Fehler zu vermeiden.

Diese Diskussionen zwingen aber auch zur allgemeinen Wahrnehmung von Realitäten, die einem persönlich entgehen oder von der Öffentlichkeit bewusst oder unbewusst übersehen werden. Sie mögen kurzfristig die (zivilisierte) Konfliktintensität in einer Gesellschaft erhöhen, tragen aber dazu bei, dass Gewaltpotentiale rechtzeitig erkannt und abgebaut werden. So sind sie auch der sanfteste und effizienteste Weg zur Integration von Vielfalt, ohne dass deren Existenz in Frage gestellt wird. So meinte schon Dürrenmatt einmal, die Schweizer würden gerne beieinander bleiben, weil man ihnen ganz offiziell gestattet, alle vier Monate ihre Differenzen auszutragen.

Schliesslich reduzieren diese unzähligen Diskussionsprozesse die Distanz zwischen Politikern und Bürgerinnen, verändert die Qualität der Beziehungen zwischen Politikerinnen und Bürgern und veranlasst diese, sich immer wieder miteinander und untereinander auseinanderzusetzen. So wird eine substanziellere politische Öffentlichkeit geschaffen als in einer Demokratie, welche sich bezüglich Partizipation und Legitimation im Wesentlichen auf Wahlen beschränkt. Schliesslich erhöhen diese Diskussionen und die substanzielleren Öffentlichkeiten den allgemeinen politischen Kenntnisstand und, noch wichtiger, die politische Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Diese ist - wie unsere eigene im übrigen auch - übrigens nie so hoch oder so gut, wie wir dies uns wünschten, aber im allgemeinen doch besser als in jenen Gesellschaften, in denen Bürgerinnen und Bürger weniger gefordert und weniger eingeladen werden, immer wieder Stellung zu beziehen und an den Entscheidungen mitzuwirken.

In wiefern die Direkte Demokratie diese kommunikativen Leistungen mehr oder weniger erbringen kann und das kommunikative Potenzial der Direkten Demokratie ausgeschöpft wird, hängt ganz wesentlich von ihrem Design und einigen Umfeldbedingungen ab. Das Design (Verfahren, Fristen, Schnittstellen zwischen direkter und indirekter Demokratie u.v.a.m.) der Direkten Demokratie ist nicht nur entscheidend für deren Güte. Das Design kann vielmehr sogar auf mehr und bessere Kommunikation hin ausgestaltet werden. 3

2. Die demokratiepolitischen Defizite
der bisherigen europäischen Integration


In der breiten Literatur über die demokratischen Unzulänglichkeiten der bisherigen Form der europäischen Integration herrscht relativ viel Übereinstimmung in folgender Hinsicht 4. Die Benennung dieser Unzulänglichkeiten stellt die historisch einzigartigen transnationalen Errungenschaften der Europäischen Union im engeren Sinne nicht in Frage. Die Erörterung der Defizite geschieht hier ganz entschieden im Hinblick auf deren Aufhebung, also im Hinblick auf die Stärkung der EU im engeren und der europäischen Integration im weiteren Sinne.

Unbestritten ist die fehlende bis nur ab und zu und eher rudimentär vorhandene transnationale, europäische Öffentlichkeit. Ebenso die grosse Distanz zwischen den aktiven PolitikerInnen Europas einerseits und den Bürgerinnen und Bürgern andererseits. Die teilweise selbst für schweizerische Wahlverhältnisse erstaunlich tiefe Beteiligung der europäischen Bürgerschaft an den Wahlen zum Europaparlament im Juni 2004 hat diese Distanz ein weiteres Mal ebenso verdeutlicht wie sie als Erklärung für die mangelnde Wahlbeteiligung dienen musste. Daraus folgt drittens die vergleichsweise dünne Legitimation wesentlicher europäischer Entscheidungen. Entsprechend selten wird Europa in allgemeinen politischen Erörterungen und Diskussionen irgendwo in Europa zu einem positiv besetzten Diskussionsgegenstand. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich der EU gegenüber fremd. Entsprechend gering sind die Integrationsmomente und die Integrationskräfte, die über den Markt und das so generierte Kapital hinaus gehen.

3. Komplementär satt widersprüchlich

Wenn Sie sich nun die genannten kommunikativen Potenziale und Leistungen der Direkten Demokratie in Erinnerung rufen - und ebenso die hier nicht weiter auszuführenden Defizite der Direkten Demokratie bedenken, die vor allem in ihrer nationalen Beschränkung und tendenziellen Entmachtung im Zuge der allgemeinen Autonomieverluste der National- und subnationalen Gliedstaaten liegen - und diese den allgemein erkannten demokratiepolitischen Defizite der Europäischen Union gegenüberstellen, dann wird deren Komplementarität sehr deutlich. Sie könnten einander helfen, denn die eine - die Direkte Demokratie - leistet genau das, wessen die andere - die EU - demokratiepolitisch am meisten bedarf. 5

Kein Wunder also, dass sich in jüngster Zeit viele Europäer für die Erfahrungen rund um die Direkte Demokratie besonders interessieren und diese durch Europa rechteigentlich quantitativ und diskursiv einen neuen Boom erlebt. 6 Dies trotz der Hegemonie der ökonomischen Rationalität und - oder muss ich sagen wegen - der immer noch zu weit verbreiteten Selbstherrlichkeiten gewisser europäischer Eliten. Ihr Verhalten lässt mich immer wieder an das Leitmotiv einiger liberalen Gründerväter der Schweiz von 1848 denken, für welche die Sache des Volkes so wichtig war, dass sie nicht dem Volk überlassen werden durfte. Es war genau diese Geringschätzung des Volkes, mit dem viele ihrer Exponenten sich den Erfolg der Demokratischen Bewegung in Zürich erklärten, die 1869 gegen die Liberalen die direktdemokratischste Verfassung der Welt schuf. 7

4. Statt Bedenken Sorgfalt bei der transnationalen
Ausgestaltung der Direkten Demokratie


Prinzipiell gibt es meines Erachtens keine gültigen Einwände gegen die Einführung direktdemokratischer Elemente auf transnationaler, europäischer Ebene. Umso notwendiger ist freilich die Sorgfalt bei der Ausgestaltung der Direkten Demokratie auf transnationaler Ebene - denn diese hat die Eigenheiten jeder Ebene, der kommunalen, kantonalen und nationalen besonders zu beachten. So zeigt sie sich im Ebenenvergleich denn auch sehr unterschiedlich und die Volksrechte sind, wie Sie wissen, auf kantonaler Ebene meist viel weiter ausdifferenziert und feiner ausgestaltet als auf Bundesebene.

Zuerst aber noch eine Erwiderung auf die drei meistgenannten prinzipiellen Gründe, welche gegen die Einführung von Volksrechten auf europäischer, transnationaler Ebene vorgebracht werden. Sie sind an anderer Stelle ausführlich erörtert worden, deshalb hier nur einige Hinweise. 8 Der erste Einwand kreist um die zu grosse Grösse der EU - ein gleichsam klassisches Argument in einer klassischen Diskussion über die Frage, welche Grösse einer Demokratie angemessen ist. Meines Erachtens wird hier zu quantitativ - sei es in Bezug auf die Fläche oder die Bevölkerungsmenge - argumentiert und zu wenig qualitativ. Ich bin davon überzeugt, dass wenn in einem Dorf Menschen wohnen, die weder reden noch schreiben können, autistisch sind und ebenso eigensinnig wie eigenbrötlerisch, dann wäre für eine demokratische Organisation bereits dieses Dorf zu gross. Denn die plausible Möglichkeit der demokratischen Ausgestaltung einer Gesellschaft, beziehungsweise verschiedener Gesellschaften, hängt nicht vom Raum oder der Bevölkerungsdichte ab in der sie siedeln, sondern von den kommunikativen Fähigkeiten der Menschen, wozu auch Bildung, Ausbildung und die vorhandenen technologischen Kapazitäten gehören.

In diesem Sinne vertrete ich die These, dass es heute weniger Mut braucht, für das grosse Europa der 25 bis 35 Mitgliedstaaten und ihrer über 500 Millionen Menschen ein europäisches Referendum zu organisieren, als es nötig war, um sich ein solches 1793 für Frankreich oder 1803 für die Schweiz vorzunehmen. Die heutigen Europäerinnen und Europäer verfügen über Kenntnisse, kommunikative Fähigkeiten und Möglichkeiten ebenso wie über einen Grad an Informiertheit und Beurteilungsvermögen, dass ihnen die erfolgreiche Teilnahme und die Organisation eines Referendums beispielsweise über eine europäische Verfassung oder ein Begehren um eine europäische Verfassungsrevision ohne weiteres zugetraut werden kann.

Hierzu braucht es auch kein "Staatsvolk" im deutschen Sinne oder im Hinblick auf die Diskussion und die gegenseitige Verständigung eine gemeinsame Muttersprache, wie vor allem in Deutschland eingewendet wird, wie ein Blick auf die Schweiz (Bereits im kleinen eine Art multinationaler oder transnationaler Bundesstaat) oder Kalifornien beweist, wo das Abstimmungsbüchlein im Unterschied zur Schweiz immer dreisprachig daherkommt, nämlich mit einem englischsprachigen, spanischen und chinesischen Teil.

Die Frage ist nicht, ob man in der EU die Direkte Demokratie einführen kann, sondern ob man sie einführen will. Und wenn wir dies wollen, dann könnten wir dies heute durchaus auch tun. Im Interesse sowohl der Fundierung und Verankerung der europäischen Integration etwa im Sinne der Reaktion des damaligen EU-Kommissions-Präsidenten Delors auf die nur knappe Annahme des Maastrichter-Vertrages durch das französische Volk. Delors meinte damals, von jetzt an gelte es, in der EU nicht nur Staaten sondern auch Völker zu integrieren (Libération vom 22. September 1992). Es gibt keinen besseren Weg zur Integration von Menschen als den, sie gleichberechtigt am Ganzen teilhaben zu lassen. Dies könnte in Zukunft auf demokratiepolitischem Weg deswegen besonders angebracht und noch dringender sein als in den vergangenen 20 Jahren, als der europäischen Wirtschaft angesichts ihrer gegenwärtigen Form und der Grösse der Herausforderung diese Aufgabe gegenüber den mitteleuropäischen neuen EU-Mitgliedern weniger schnell und gut gelingen könnte als in Bezug auf Südeuropa in den 1980er Jahren und diese Aufgabe in Zukunft deswegen auch politisch mitgetragen werden sollte.

Freilich müssen wir von Anfang an nicht unbedingt das ganze Spektrum der Direkten Demokratie auf der EU-Ebene einbürgern wollen. Das obligatorische Verfassungsreferendum und die Möglichkeit eines Völkerbegehrens zur Teilrevision der Verfassung könnten zum Anfang ausreichen und auf das Gesetzesreferendum könnte verzichtet werden. Dafür gälte es, die Verfahren zum Zustandekommen des Völkerbegehrens wie auch der europäischen Referendumsabstimmung so zu gestalten, dass die transnationalen zivilgesellschaftlichen Kommunikations- und Handlungsprozesse ermutigt und gefördert werden und mit gewichteten doppelten Mehrheitserfordernissen (Mehrheit der teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger sowie Zweidrittels-Mehrheit der Staaten, wobei Luxemburg eine Stimme und Deutschland beispielsweise fünf zukommen könnten) verhindert wird, dass die kleinen EU-Staaten, beziehungsweise ihre Völker sich einfach überstimmt fühlen. Vorzusehen wäre aus dem Set der Volksrechte in der Direkten Demokratie für die EU auch eine Art Völker- oder Bürger-Antrag, mit dem beispielsweise 100'000 Europäerinnen und Europäer aus acht Staaten (minimaler Anteil 5000 Unterschriften) dem Europaparlament einen Antrag unterbreiten können, der von ihm behandelt werden muss wie eine Einzelinitiative im Kanton Zürich oder eine Volksmotion im Kanton Solothurn.

5. Der Art. I-46 als direktdemokratische Pionierleistung

Der Verfassungsvertrag für die EU, wie er Ende Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet worden ist, enthält im Artikel I-46 bekanntlich erstmals in der Geschichte der Demokratie eine Art transnationales partizipatives Bürgerrecht. Eine Million Bürgerinnen und Bürger aus mindestens acht Staaten sollen das Recht bekommen, der EU-Kommission eine Art Gesetzgebungsantrag stellen zu dürfen. 9

Einige tun dieses neue, bisher kaum richtig beachtete Recht als Petitionsrecht ab. Sie verkennen aber, dass mit diesem Recht einer Million Europäerinnen und Europäer zugestanden wird, was bisher nur der Mehrheit des Europaparlamentes zustand: Das Recht, der Kommission, die auch gemäss dem Verfassungsvertrag über das Gesetzesinitiativmonopol verfügt in der EU, einen Gesetzgebungsvorschlag unterbreiten zu dürfen. Immerhin ist mit dem neuen Artikel i-46 das Europaparlament also bereit, das Recht seiner Mehrheit zu teilen mit einer Million Bürgerinnen und Bürger. Genau diese Kultur des Teilens der Macht zwischen Institutionen und aktiven BürgerInnen ist es aber, was eines der Kulturelemente der Direkten Demokratie ausmacht.

Nicht zu unterschätzen ist das Vorhandensein eines solchen transnationalen Bürgerrechtes vor allem auch im Hinblick auf das Entstehen und Gehörtwerden von transnationalen europäischen Bürgerbewegungen, die wiederum die Voraussetzung wären für den weiteren Ausbau und die Stärkung der europäischen, indirekten wie direkten Demokratie. Denn dieser Artikel bietet einen legitimen kollektiven Handlungsansatz. Mit ihm steht ein institutionelles Recht zur Verfügung, mit dem Bürgerbewegungen für ihre Anliegen mobilisieren und sich organisieren können, ohne wie in der Vergangenheit so oft mit der Gewalt als Sprache zu liebäugeln, um sich ein breites Gehör zu verschaffen. Schon oft hat in der Vergangenheit auch der schweizerischen Demokratiegeschichte ein vermeintlich eher schwaches, "von oben" konzediertes Recht unter anderen Umständen eine Dynamik und ein Reformpotenzial entwickelt, die sich dessen Urheber nicht vorgestellt haben. 10

6. Von kalifornischen Erfahrungen lernen

Bei der Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren und deren Schnittstellen mit der parlamentarischen Demokratie lässt sich für die EU im Guten wie im Schlechten von Kalifornien lernen, der bisher weltweit grössten Direkten Demokratie.

Im Unterschied zur eher kooperativ ausgestalteten Direkten Demokratie in der Schweiz sind die direktdemokratischen Verfahren in Kalifornien eher antagonistisch, konfrontativ und desintegrierend geregelt. 11 Dies sollten wir in der EU vermeiden. Das heisst, die entscheidenden Verfahrenselemente (Fristen, Dialogpartner, Interaktionen, Quoren u.a.m.) sollten ohne falsche (deutsche) Ängste vor aktiven BürgerInnen und kommunikationsfördernd ausgestaltet werden und nicht primär auf Tempo, Effizienz und Durchschlagskraft wie im Westen der USA.

Andererseits gilt es sich aber bezüglich Fairnessregeln (Kostenbeiträge an Initiativen zur Verhinderung von zu grossen Ungleichheiten im Zugang zur Öffentlichkeit), Transparenzgeboten, Ressourcenausgleich, Beschränkung der TV-Werbung sowie der Prüfung der Inhalte von Revisionsbegehren auf die Verfassungsmässigkeit durch den EUGH in Luxemburg von den Vorschlägen der verschiedenen einschlägigen Reformkommissionen des Staatssekretärs von Kalifornien ebenso zu inspirieren wie von entsprechend positiven Erfahrungen in deutschen Bundesländern. 12

7. Die Pointe: Je grösser die Demokratie, umso mehr
bedarf die indirekte Demokratie der Stärkung
durch direktdemokratische Ergänzungen


Immer ist die indirekte, parlamentarische Demokratie ein wesentliches und unverzichtbares Element der Direkten Demokratie. Die Bedeutung eines starken Parlamentes für eine gesunde, lebendige Direkte Demokratie zu unterschätzen ist eine alte Eigenheit der schweizerischen politischen Kultur, die zu übernehmen die europäische politische Kultur freilich nicht Gefahr läuft.

Diese folgt paradoxerweise ebenfalls noch der alten, meines Erachtens falschen Maxime Rousseaus, welche Kleinräumigkeit als positive Voraussetzung für die demokratische Entwicklung hielt. So übersieht die EU gleichsam die Pointe im Verhältnis zwischen Grösse und Direkter Demokratie. Denn je grösser der Raum, in der Demokratie herrschen soll und je mehr Menschen in diesem Raum Demokratie wirklich erfahren und leben möchten, um so mehr bedarf die indirekte, rein parlamentarische Demokratie der direktdemokratischen Ergänzung.

Denn ob nun 300, 400, 600 oder gar 800 Millionen Menschen einmal in einem integrierten Europa leben, ihr direkt gewähltes Europaparlament kann aus praktischen Gründen nicht viel mehr als etwa 750 Abgeordnete umfassen. Wenn aber eine oder eine dreiviertel Millionen Menschen nur noch einen Abgeordneten wählen können, dann wird die Repräsentativität dieses Hauses der Repräsentanten zu dünn. Um in diesen Dimensionen dann die Demokratie nicht zu einem leeren Versprechen verkommen zu lassen, bedarf die indirekte Demokratie eben der direktdemokratischen Ergänzungen und Erweiterungen um das fakultative Verfassungsreferendum, der Verfassungsrevisions-Initiative und des BürgerInnenantrags ans Europaparlament. Die Grösse ist also nicht nur kein Hindernis für den Einbau der Direkten Demokratie sondern macht dies der notwendigen Schwäche der Repräsentativität und der Stärkung der Demokratie ganz generell wegen sogar notwendig.

Nur so, mit einer klugen Verbindung direkter und indirekter demokratischer Elemente können wir der EU die notwendige Legitimation verschaffen, die sie zur ihrer Stärkung und zur Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen auf transnationaler Ebene benötigt. So gewinnt die EU die Legitimität, die sie zur Zivilisierung und Humanisierung der Märkte im Interesse der Menschen und der Natur benötigt. Anderseits entkommt so aber auch die Direkte Demokratie aus ihrer Nische, vermag ihr Potenzial zu entfalten und wird nicht mehr länger mit plebiszitären Elementen verwechselt, denen sich Eliten zur Stabilisierung ihrer Herrschaft 13 bedienen, statt dass sie Menschen helfen, an Souveränität zu gewinnen. Der sorgfältige Einbau direktdemokratischer Elemente in die europäische Verfassung würde diese von einem «neuen grossen Projekt der Demokratieverhinderung» umwandeln in ein Projekt, das die Europäische Integration ebenso stärkt wie die Demokratie auf allen Ebenen der Politik.

Andreas Gross



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Anmerkung 8



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Anmerkung 13

Dieser Vortrag ist auf der Basis einiger Notizen frei gehalten worden. Ich habe versucht, auf der Basis dieser Notizen den Vortrag zu rekonstruieren, mich dabei aber bemüht, den Vortragsstil beizubehalten. In den Fussnoten sind Hinweise auf wissenschaftliche Texte enthalten, die ihrerseits auf weitere einschlägige Literatur weisen.

Obwohl ich hier begrifflich in Anlehnung an die schweizerische Wirklichkeit argumentiere, sollte die Direkte Demokratie nicht einfach mit der Schweiz gleichgesetzt werden. Man kann die Direkte Demokratie schätzen und die Schweiz kritisieren, das eine ist mehr als das andere. Vergleiche dazu: Andreas Gross "The Swiss Experience with Direct Democracy; Lessons to be learnt and lessons not to be learnt by the EU from Switzerland", in: The European Constitution, Bringing in the People, ed. By Fbrice Filliez and Bruno Kaufmann, Bruxells/Bern, 2004, p.34-42.

Siehe dazu den Aufsatz Andreas Gross, Das Design der Direkten Demokratie und deren Qualitäten, in Schiller/Mittendorf, Direkte Demokratie, Forschung und Perspektiven Wiesbaden , 2002.

Heinz Kleger ua Europäische Verfassung, Zum Stand der europäischen Demokratie im Zuge der Osterweiterung, Münster, 2001, Larry Siedentrop, Democracy in Europe, London 2000, J.H.H.Weiler, The Constitution of Europe, Cambridge, 1999, Andreas Gross, Auf der politischen Baustelle Europa, Zürich, 1996. Roland Erne ua., Transnationale Demokratie, Zürich 1995.

Diesen Aspekt habe ich ausgeführt in Andreas Gross, Vom Hindernis zur Morgengabe, Die Direkte Demokratie und die EU bedürfen einander, in: NZZ , Staatspolitisches Forum, 18. Februar 2004.

Zwischen 1972 und 2003 gab es wegen Europa in Europa 41 Referenden - mindestens weitere zehn sind im Zuge der Ratifikation des neuen europäischen Verfassungsvertrages zu für 2005 und 2006 zu erwarten. Vergleiche dazu Initiative&Referendum Monitor 2004/2005, ed.by Bruno Kaufmann for IRIE, Amsterdam 2004.

Vergleiche dazu Andreas Gross, Die Renovationsmöglichkeiten eines direktdemokratischen Gesamtkunstwerkes, in: ed von Alfred Kölz und Markus Notter Zürich 2000.

Siehe Andreas Gross, Föderalismus und direkte Demokratie, 8 Impulse aus der Schweizer Verfassungsgeschichte des 19.Jahrhunderts für den europäischen Verfassungsgebungsprozess in: Die Union, 4/98 Zeitschrift der EU-Kommission in Wien.

B.Kaufmann/A.Lamassoure/J.Meyer, Transnational Democracy in the Making, IRI Europe Handbook 2004, Amsterdam 2004, und Andreas Gross, Perspektiven der Direkten Demokratie für Europa, Basler Vortrag in 12 Thesen, Februar 2004.

Siehe zur Rolle des von der Regierung zur Ruhigstellung der entstehenden Opposition 1865 in Zürich eingeführten Volksinitiativrechtes zur Totalrevision für die Zürcher Demokratiebewegung von 1867 bis 1869 in Andreas Gross, Wer ist hier der Souverän, in: Weltwoche vom April 1996.

Siehe zu den historischen, praktischen und konzeptionellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der Direkten Demokratie in der Schweiz und Kalifornien Andreas Gross, Direkte Demokratie in Gliedstaaten der USA, Reformwelle vor 100 Jahren - Parallelen zur Schweiz, NZZ, Staatspolitisches Forum 14. August 1999 (gleicher Text in Niederländisch) und Andreas Gross, Kalifornien nahm sich die Schweiz als Vorbild, Tages-Anzeiger Zürich, 19.8.2002.

Vergleiche dazu Andreas Gross, Die Volksinitiative - zu den Renovationsmöglichkeiten eines avantgardistischen Gesamtkunstwerks, in: Dähler/Kölz/Notter, Parlament, Regierung und Volksrechte, Materialien zur Zürcher Verfassungsreform, Zürich 2000 und Elisabeth Gerber, Populist paradox, Los Angeles, 2002.

Oliver Eberl, Europäische Verfassung und deutscher Sonderweg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn 11, 2004, S.1374.

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