4. Dez. 2017

Watson

Viele waren vom EWR-Nein eines überzeugten Europäers überrascht


Der EWR-Beitritt der Schweiz wurde vor 25 Jahren nicht nur von rechts bekämpft. Ein prominenter linker Gegner war der damalige SP-Nationalrat Andreas Gross. Im Interview schildert er, warum er gegen den EWR, aber für den EU-Beitritt war. Und warum die EU mehr direkte Demokratie benötigt.

Interview: Peter Blunschi

Sie haben den EWR-Beitritt von links bekämpft. Halten Sie das noch heute für richtig?


AG: Absolut. Ich fühle mich sogar von den Entwicklungen seit­her be­stärkt. Wir sagten damals Nein zur Entlassung der Wirtschaft aus der Demokratie. Es ist das entscheidende Problem unserer Zeit: Die aus­schliesslich nationale Demokratie ist nicht mehr in der Lage, die trans­nationale Wirtschaft zu zähmen, zu zivilisieren, sozial- und umwelt­ver­träglich zu gestalten.

Wie gross war damals das Verständnis für Ihre Einstellung?

Die Auseinandersetzungen waren tatsächlich heftig. Viele waren vom Nein eines überzeugten Europäers überrascht. Doch je tiefer die Dis­kus­sion ging, umso grösser war das Verständnis. Viele merkten, dass mit der demokratischen Balance etwas nicht stimmt und der EWR eine Kapitu­la­tion vor der eigentlichen Herausforderung ist, das Primat der Politik über die Ökonomie wieder herzustellen.

Das EWR-Nein gilt als Sieg von Christoph Blocher. Fühlen Sie sich als linker Gegner zu wenig gewürdigt?

Keineswegs. Die nationalkonservative Position dominierte tatsächlich. Das war nicht erstaunlich, weil die Schweiz die europäische Integration bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre völlig ignorierte und unter­schätz­te. Sie fand in den Zeitungen ausschliesslich auf den Wirtschaftsseiten statt. Zudem pushte der Bundesrat 1989 mit seiner unseligen Diamant-Feier zum Jubiläum des Beginns des Zweiten Weltkrieges – de facto natürlich eine Kampagne zur Verteidigung der Armee – und 1991 zur Heroisierung von 1291 die nationalistische Nabelschau. Da konnte 1992 kein kosmopolitischer, aufgeklärter Volksentscheid erwartet werden.

Können Sie den patriotischen Furor gegen den EWR heute noch nach­vollziehen?

Absolut. Wer vierzig Jahre lang Europa ignoriert, sich auf den Markt be­schränkt und 1989 und 1991 mit nationalistischen Kampagnen auf den Bauchnabel fokussiert, der muss sich nicht wundern, wenn er Ende 1992 keine Mehrheiten findet für europäische, solidarische, aufgeklärte Ein­sichten. Das setzt einen gesellschaftlichen Lernprozess voraus, an dem in der Schweiz kaum jemand gearbeitet hat.

Waren Sie und andere Verfechter des rotgrünen Neins Blochers nützliche Idioten?

Sicher nicht. Die politische Schwäche des EWR war vielen bewusst. So­gar Staatssekretär Franz Blankart, mit dem ich trotz aller Differenzen sehr verbunden war, gestand mir, dass er nach dem Scheitern der Schweiz, eine Mitbestimmungsmöglichkeit bei neuem EU-Wirtschaftsrecht in den Vertrag einzubauen, dem Bundesrat den Verzicht auf das EWR-Ab­kom­men vorgeschlagen hatte. Zudem darf man nicht vergessen, dass es ohne uns vielleicht ein Volks-Ja gegeben hätte, die Vorlage aber auf alle Fälle am Ständemehr gescheitert wäre.

In der Fernsehdebatte zum EWR sassen Sie neben Michael Dreher von der Autopartei. Hat diese unheilige Allianz bei Ihnen nie Zweifel geweckt?

Zweifel habe ich jeden Tag. Sie sind normal, sogar ständig nötig, weil die fruchtbarsten Quellen und Anstösse zum besseren, genaueren Denken. Eine Allianz war es auch nicht, ob heilig oder unheilig, einfach ein etwas gruseliger Nachbar. Doch das ist am Fernsehen nicht selten so. Die al­ter­nativen Nachbarn wären nur wenig angenehmer gewesen. Der Sankt Galler CVP-National- und spätere Ständerat Eugen David hatte mir im­mer wieder gesagt, die Demokratie sei sowieso eine gefährliche Sache, der Mensch müsse eher gebändigt werden, als dass man ihm noch mehr Demokratie zubilligen könne. Und der nach aussen sehr selbstherrliche Appenzeller CVP-Autokrat Carlo Schmid war auch einer, der kein Euro­päer sein wollte, und sich vor allem um die Wirtschaft und die schweizeri­schen Marktzugänge sorgte.

Wie beurteilen Sie die Rolle des Bundesrats, insbesondere das um­strit­tene Beitrittsgesuch?

Das war aus der Sicht der drei von Europa überzeugten Bundesräte Fla­vio Cotti, René Felber und Jean-Pascal Delamuraz - sie konnten Dölf Ogi einbinden und dadurch eine Mehrheit im Bundesrat finden - grundsätzlich richtig und bringt auch deren Einsicht in die Schwäche des EWR zum Aus­druck. Denn der machte wirklich höchstens Sinn als Übergang in die EU-Mitgliedschaft, wie dies damals auch die Mehrheit der Romandie be­für­wortet hat. Doch sie verkannten völlig die herrschende Mentalität in der Deutschschweiz und wohl auch im Tessin. Dort ging es auch der gros­sen Mehrheit der EWR-Befürworter nur ums Geschäft, um die Inte­gra­tion in den Markt, und da wurde das bundesrätliche Beitrittsgesuch überhaupt nicht verstanden.

Sie waren gegen den EWR, aber für den EU-Beitritt. Eine ziemlich exo­ti­sche Position.

Das war und ist noch kein Argument. Schon damals war mir klar, dass der Nationalstaat zu klein ist, um die grössten Probleme zu bewältigen. Das können wir nur gemeinsam kontinental. Gleichzeitig war ich aber auch überzeugt davon, dass die Europäische Union ungenügend aus­ge­staltet ist und demokratisiert werden muss, etwa in Form einer föde­ra­lis­ti­schen europäischen Bundesverfassung. Um diese Transformation maxi­mal voranzubringen, müssen Sie aber Mitglied sein.

Die skeptischen Schweizer konnten Sie davon nicht überzeugen.

In Österreich, wo ich auch an vielen Debatten mitwirken durfte, war diese Vorstellung gar nicht exotisch. Die österreichische Regierung hat zwei Jahre nach dem EU-Beitritt unsere Idee einer europäischen Volksmotion in die Vertragsreformverhandlungen aufgenommen. Daraus ist vor sieben Jahren die heutige Europäische Bürgerinitiative entstanden, ein sehr klei­ner Schritt gewiss, aber immerhin ein erster kleiner Anfang einer trans­na­tio­na­len, europäischen direkten Demokratie.

Sie sind ein glühender Verfechter der direkten Demokratie. Glauben Sie ernsthaft, dass die EU sich in Ihrem Sinn entwickeln wird?

Das ist keine Glaubensfrage, sondern eine Sache der Vernunft und des Willens der Europäerinnen und Europäer. Die EU muss ihre Verträge durch eine föderalistische Bundesverfassung ersetzen, wenn sie sich demokratisieren und eine direkte Beziehung zu den Bürgerinnen und Bürgern eingehen will. Und eine Verfassung als Vereinbarung der Bür­gerinnen und Bürger über die Organisation der Macht ist nur dann eine wirkliche Verfassung, wenn die Mehrheit der Mitgliedsstaaten und der Bürgerschaft sie in einem Referendum angenommen haben. Womit sie einen zentralen Baustein der direkten Demokratie bereits realisiert hätten.

Kann das in einem grossen Verbund wie der EU funktionieren?

Je grösser der Raum und je zahlreicher die Bürgerinnen und Bürger, die demokratisch organisiert sein wollen, umso mehr benötigt die reprä­sen­ta­tive Demokratie eine direktdemokratische Ergänzung. Denn bei 600 Mil­lio­nen Menschen und 700 EU-Parlamentariern ist die Repräsentativität relativ dünn. Wenn ein Parlamentarier fast eine Million Menschen ver­tre­ten muss, dann fühlen sich diese zu weit weg und schätzen eine zweite Möglichkeit, ihren Willen zum Ausdruck zu bringen. Eben das Refe­ren­dum oder die Initiativen.

In dieser Hinsicht tut sich aber wenig.

Sie haben insofern recht, als die Bürgerinnen und Bürger Europas erst noch in mächtigen Demokratiebewegungen zeigen müssen, dass sie eine demokratische EU wollen, bevor sich die EU wirklich auf diesen Weg macht. Das war auch in den vergangenen 200 Jahren in den National­staa­ten nie anders. Die Eliten liefern nie mehr Demokratie. Die müssen sich die Bürger gegen die Herrschaften erkämpfen, denn die Demokratie schmälert ja die Macht dieser Herrschaften, und diese sich schmälern zu lassen sind die Eliten nie freiwillig bereit.

Ein erster Anlauf für eine europäische Verfassung scheiterte 2005 aus­gerechnet an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden.

Das war doch keine Verfassung, sondern ein weiterer Vertrag von 440 Sei­ten, dem man aus PR-Gründen die Etikette «Verfassung» anklebte und den unsinnigen Pleonasmus «Verfassungs-Vertrag» kreierte - ein verantwortungsloser Etikettenschwindel. Ich verstand vor allem das französische Nein, das im Unterschied zum niederländischen die Frucht einer enormen, langen, tiefen und sehr differenzierten Debatte war und genau dieser undemokratischen, entpolitisierten EU galt, welche, statt die nationalstaatlichen Defizite zu kompensieren, die Entmachtung der De­mo­kratie und die Marginalisierung der Politik gegenüber der Ökonomie fortsetzte und so jegliche dringenden sozialpolitischen Fortschritte verunmöglichte.

Das Brexit-Votum dürfte für die direkte Demokratie in der EU eher ein Rückschlag gewesen sein.

Ja und Nein. Ja, weil dieses selbstherrliche Plebiszit von zu vielen mit der direkten Demokratie verwechselt wird. Obwohl es ganz verschiedene Dinge sind. In einer direkten Demokratie kann nie von oben einfach so eine Volksabstimmung beantragt werden, wie dies Premierminister David Cameron aus rein innerparteilichen Gründen gemacht hat. In einer di­rek­ten Demokratie sind es immer kleine Bürgergruppen, die eine Volks­ab­stim­mung auslösen über ein ganz konkretes Gesetz oder eine Verfas­sungs­änderung.

Und warum war es kein Rückschlag?

Weil die EU ohne die Briten einfacher demokratisiert werden kann. Gross­britannien war immer der grösste Verfechter einer Reduktion der EU auf eine Marktorganisation und wird wohl das Land in Europa sein, das sich am längsten der Einsicht verwehren wird, dass zur Rettung der Demokratie deren suprastaatliche und transnationale Verfassung not­wendig ist. Es kennt ja selber noch keine schriftliche Verfassung.

Laut dem jüngsten Europa-Barometer ist der EU-Beitritt in der Schweiz weiterhin chancenlos, der EWR aber potenziell mehrheitsfähig.

Beides kann kaum verwundern. Die EU ist in einem ausgesprochen schlech­ten Zustand, viele fürchten gar um ihre Zukunft. Zudem sind zwei Einsichten in der Schweiz kaum verbreitet, und es wird auch wenig dafür getan: Erstens sind sich in der Schweiz nur wenige bewusst, dass die Demokratie nationalstaatlich nicht gerettet und neu ermächtigt werden kann. Anders als transnational lässt sich dies nicht machen. Und zwei­tens sind sich in der Schweiz auch nur wenige bewusst, dass sich die EU total renovieren liesse, was eine Demokratisierung und Föderalisierung mit sich bringen würde.

Und was ist mit dem EWR?

Diese Perspektive ist anachronistisch geworden. Mit unseren über 100 Verträgen haben wir heute eine andere Beziehung zur EU. Eine Neu­auf­la­ge des EWR würde eher eine Regression bedeuten.

Norwegen und Liechtenstein scheinen mit dem EWR ganz gut leben zu können.

Das mag von aussen so aussehen. Wobei man sich in Liechtenstein mehrheitlich mit einer obrigkeitlich domestizierten Demokratie begnügt, kann doch der Fürst jeden Volksentscheid mit einem Veto ausser Kraft setzen. Da sind die demokratischen Ansprüche also schon lange kleiner als in der Schweiz. Und in Norwegen ist die Demokratiedebatte noch weit mehr im Eimer als anderswo. Wobei mir damals viele sagten, dass die Norweger mehrheitlich nicht nur den EU-Beitritt, sondern auch den EWR abgelehnt hätten, wenn sie 1992 auch hätten abstimmen dürfen.

Der bilaterale Weg entpuppt sich aber zunehmend als Sackgasse. Wäre der EWR aus pragmatischer Sicht nicht die bessere Lösung gewesen?

Keineswegs. Die Bilateralen Verträge brachten uns weiter und erfolgten im Einklang mit der Demokratie. Dass sich der bilaterale Weg längerfristig als Sackgasse entpuppt, war logisch und von Anfang an absehbar. Des­halb ist der Diskurs von FDP und CVP auch so irreführend, die den bi­la­te­ra­len Weg als Königsweg bezeichnen. Die Alternative ist aber nicht der EWR, sondern der Beitritt und das Engagement zur Demokratisierung und Föderalisierung der EU. Als Bürger engagiere ich mich seit über 25 Jahren für diese Veränderung der EU, weil ich weiss, dass ich nur dann in der Schweiz eine Mehrheit vom Beitritt überzeugen kann, wenn die EU demokratischer funktioniert und föderalistischer organisiert ist.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Debatte zu den Bilateralen, insbesondere dem institutionellen Rahmenabkommen?

Sie bringt die Endlichkeit der Logik des Bilateralismus ebenso zum Ausdruck wie das Dilemma des EWR, dass die EU der Schweiz kein Recht zugestehen kann, die europäische Rechtsetzung zu beeinflussen wie ein EU-Mitgliedstaat. Vielleicht wird sich der Beitritt halt doch als bessere Option erweisen. Freilich wäre gerade zur Überwindung der Guillotine-Klausel ein Rahmenabkommen, oder wie Herr Juncker meint, ein «Freundschaftsabkommen», das alle Teilverträge zusammenfasst, sicher sinnvoll. Doch eines, das wie der EWR eine fast automatische Übernahme von neuem EU-Recht beinhaltet, wird in der Schweiz keine doppelte Mehrheit bei Volk und Ständen finden. Da braucht es noch mehr Fantasie, wie dies Didier Burkhalter immer versucht hat.

Sei Nachfolger Ignazio Cassis will den Reset-Knopf drücken. Ist das die richtige Strategie?

Einen solchen Knopf und eine solche Strategie gibt es doch gar nicht. Nicht einmal eine Revolution ist ein Neubeginn von Null an. Die Gegen­wart ist immer voller Geschichte, die nie ausgelöscht oder vergessen werden kann. Wir können nicht anders, als auf ihr aufbauen. Vielleicht meint Cassis, dass wir neue Wege gehen sollten, eine neue Form der Beziehung aufbauen. Ich weiss es nicht. Es wäre freilich mehr als sinn­voll, wenn wir in der Schweiz beginnen würden, uns selber und die anderen, die gar nicht so anders sind als wir, neu zu betrachten. Wir würden mehr erkennen und besser herausfinden, was wir in unserem gemeinsamen Interesse besser tun könnten.

Hat der Bundesrat richtig entschieden, der neuen Kohäsionsmilliarde ohne Gegenleistung zuzusagen?

Die Gegenleistung wird doch schon lange von der EU erbracht, täglich und stündlich. Die Schweiz bezahlte und bezahlt für die Leistung der EU seit 1957 und vor allem seit 1989 in Europa: Einen grossen Markt, in dem die Schweizer Firmen viele und gute Geschäfte machen können, sowie friedliche Zustände auf dem Kontinent, die auch der Schweiz viel Leid und Schmerz erspart haben. Zudem leistet die EU in Mittel- und Ost­eu­ro­pa enorme Nachholinvestitionen, welche auch im Interesse der Schweiz sind, die sich so daran beteiligt. Das müsste der Bundesrat halt viel mehr und genauer erklären, wie manch anderes auch. Der Bundesrat vergisst, was mein alter FDP-Kollege Ernst Mühlemann immer anmahnte: 50 Pro­zent der Politik - vor allem in der Exekutive - ist Pädagogik!

Sie haben den Gegensatz zwischen nationaler Demokratie und glo­ba­li­sierter Wirtschaft betont. Er wird seit Jahren diskutiert. Trotzdem hat man nicht den Eindruck, die Staatengemeinschaft habe bei der Entwicklung gemeinsamer Regeln Fortschritte gemacht.

So lange wird dies noch nicht diskutiert. Zehn Jahre sind ganz kurz, wenn es um geschichtliche Lernprozesse geht. Frankreich etwa hat erst dieses Jahr dank dem enormen Engagement von Präsident Emmanuel Macron gelernt, dass Sozialstaat und Demokratie nur via Europa gerettet be­zie­hungs­weise re-etabliert und gefestigt werden können. Deshalb Macrons Reformvorschläge für die EU, die in Deutschland oder Holland aber bis­her kaum diskutiert worden sind.

Man hat den Eindruck, dass in Europa derzeit eher die Nationalisten Auftrieb haben.

Die erstarkten nationalistischen Strömungen in Europa sind Ausdruck des Problems und fast so etwas wie ein normaler Reflex. Wir brauchen noch mehr Zeit und vor allem Debatten, um zu merken, dass dieser Re­flex nicht reicht, sondern den transnationalen Märkten nur transnationale Leitplanken gesetzt werden können. In diese gesellschaftlichen Lern­pro­zesse gilt es zu investieren und sich anzustrengen. Auch dies macht die Schweiz viel zu wenig. In den EU-Ländern sind diese Erkenntnisprozesse schon weiter, wenn auch nicht so weit, wie sie sein sollten.


Kontakt mit Andreas Gross



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