10. Okt. 2017

Weltwoche

Brüsseler Spurensuche


Wieviel ist das bisschen mehr an Demokratie, das die Europäische Kommission (EK) der Europäischen Union (EU) zuführen möchte? Selbst EK-Vizepräsident Timmermanns antwortet: Kaum aus­rei­chend!

Von Andreas Gross
Politikwissenschaftler; er leitet das Atelier für Direkte Demokratie in St-Ursanne (JU) und gehörte zur im Text genannten Bürgerbewegung eu­rotopia und der EBI-Rettungsmannschaft, die Frans Timmermanns Ende August zu einer Aussprache empfing.


Demokratie gehört in Brüssel zu den grössten Raritäten. Es gibt sie dort nur sehr indirekt. Direkt von den Bürgern gewählt ist bloss das Euro­päi­sche Parlament (EP). Doch das EP verfügt trotz des Bedeutungs­zu­wach­ses der vergangenen Jahre immer noch nicht wie jedes andere Parla­ment in einer Demokratie über die abschliessende Gesetzgebungshoheit, das Gesetzesinitiativrecht und die Budgethoheit. Das zweite über die EU-Gesetze beschliessende Organ ist der EU-Rat, die versammelten na­tio­nalen Ressortminister. Sie sind dazu nur indirekt demokratisch legitimiert insofern sie nationalen Regierungen angehören, die demokratisch ge­wähl­ten nationalen Parlamenten verantwortlich sind. Entsprechend sind sie aber vor allem nationalen Interessen verpflichtet; europäische Be­dürf­nis­se bleiben sekundär. Die dritte gesetzesmitgebende Gewalt, die EU-Kommission, verfügt immer noch über das Monopol der Gesetzes­ini­tia­ti­ve und ist gleichzeitig verantwortlich für die EU-Verwaltung. Bezüglich Montesquieus Ansprüchen an Gewaltenteilung also eher ein Ungetüm. Auch deren demokratische Legitimität ist sehr indirekt: früher auf Vor­schlag der nationalen Regierunen ernannt vom EU-Präsidenten, seit 2015 der Gewinner der EP-Wahlen, und in corporé abgesegnet vom EP.

Seit April 2012 findet sich in den EU-Verträgen auch ein klitzekleines direktdemokratisches Kind, die sogenannte Europäische Bürger-Initiative (EBI), sogar im weltweiten Vergleich eine direktdemokratische Pionier­leistung. Mitte der 1990er Jahren liessen sich italienische und öster­rei­chi­sche in der Europapolitik tätige Beamte von einer massgeblich schwei­ze­risch geprägten Bürgerbewegung für eine europäische föderalistische Verfassung mit direktdemokratischen Elementen (Eurotopia) inspirieren, brachten die EBI-Idee in die EU-Reformdebatte ein, wo sie vom EU-Konvent zu Beginn des neuen Jahrtausends beschlossen wurde, alle darauf folgenden Vertragsrevisionen überlebte und dann 2012 in Kraft trat. Mit der schweizerischen Initiative, mit der eine Volksabstimmung provoziert werden kann, hat die EBI zwar nicht mehr gemein als das Unterschriftensammeln. In der schweizerischen Begrifflichkeit gleicht sie eher einer Volksmotion, wie sie in den Kantonen Solothurn und Nid­wal­den existiert: Bürger können der gesetzgebenden Behörde eine entspre­chen­de Anregung unterbreiten. Im Falle der EBI braucht es dafür innert einem Jahr eine Million Unterschriften aus mindestens einem Viertel der EU-Mitgliedstaaten.

Im Frühjahr 2012 waren die Erwartungen in die EBI hoch. «Sie soll den Graben zwischen der EU und den über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der EU» schliessen, meinte der zuständige Kommissar aus der Slowakei. Innert fünf Jahren wurden 66 EBIs angemeldet, 44 davon re­gistriert aber bloss vier schafften die Millionen-Hürde. Sie betrafen das Recht auf Leben, einen einzigen Sitz für das EP, das Verbot der Vivi­sektion sowie die Schaffung eines Menschenrechtes auf Wasser. Doch eine Gesetzesinitiative der Kommission vermochte keine einzige EBI auszulösen. Entsprechend gross die Frustration unter den Bürgern und die Ernüchterung in einem Teil des Brüsseler Establishments. Das EP verabschiedete eine kritische Zwischenbilanz über die EBI und beauf­tragte die Kommission, die Verfahren zugunsten engagierter Bürgerinnen und Bürger zu erleichtern. Der zuständige EU-Kommissar, der nieder­län­di­sche Vizepräsident Frans Timmermans, nahm den Ball dankbar auf. Er ist sich bewusst, dass «wir in postpaternalistischen Gesellschaften leben, unser Regierungssystem aber immer noch sehr paternalistisch geprägt ist» und die Bürgerinnen und Bürger somit mit Recht mehr direkte, unmittelbare Einflussnahme und Entscheidungen verdienen.

In seinem mit modernder niederländischer Malerei wunderbar bestückten Büro in der zweitobersten Etage des eben frisch renovierten riesigen Kom­missions-Gebäude geht Frans Timmermans sogar noch weiter. Ge­gen­über einer Delegation des EBI-Rettungs-Teams sagte er sogar, dass er überzeugt sei, dass die EU nur mit mehr Demokratie gestärkt, ja ge­rettet werden könne. Doch er sei umgeben von Menschen, die nicht alle diese Überzeugung teilen würden. Im Gegenteil. Einige fürchteten sich sogar vor mehr Demokratie. Sie glauben, die EU benötige keine enga­gier­ten Menschen. Er, Timmermans, möchte aber sogar eine enge Zu­sammenarbeit mit mehr engagierten Europäern.

Die Reformvorschläge, welche Timmermans Mitte September vorlegte, symbolisieren diese gespaltene EU-Spitze. Das Mindestalter zur Un­ter­zeichnung von EBIs soll auf 16 reduziert werden, was zehn Million po­tenzielle Unterzeichner mehr bedeutet. Ein kostenloses Online-sam­mel-System soll das Unterschriftensammeln erleichtern und die Kommission garantiert die Übersetzung der Initiativtexte in alle EU-Landessprachen.

Obwohl EK-Präsident Junker meinte, «die EU benötigt einen demo­kra­ti­schen Sprung», bezeichnete Die Presse aus Wien Timmermans Re­form­vorschläge als «demokratische Babyschritte der EU». Ob diese aus­rei­chen, bezweifelt aber sogar er höchstpersönlich: «Ich bin nicht sicher, ob wir so die EBI retten können. Doch wir versuchen es!» Immerhin. Aber eine Demokratisierung sähe anders aus.


Kontakt mit Andreas Gross



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