3. Okt. 2017

Weltwoche

Gewalt schafft keine Einheit


Zum spanisch-katalanischen Verfassungskonflikt

Die Qualität einer Verfassung lässt sich an zwei Fragen messen: Erlaubt sie der Gesellschaft, die sich auf diese Verfassung verständigt hatte, die in dieser Gesellschaft virulenten und möglicherweise neu aufkommenden Konflikte gewaltfrei zu lösen? Sieht diese Verfassung Wege zu ihrer Er­gän­zung und Veränderung vor, die ihr erlaubt, aufkommende Konflikte gewaltfrei zu lösen?

Die Gewalt auf den Strassen Barcelonas und anderen Städten Katalo­niens vom vergangenen Wochenende stellt in diesem Sinn der spa­ni­schen Verfassung von 1978, welche die nach der Franko-Diktatur von 1938 bis 1975 neue spanische Republik und Demokratie begründen sollte, ein schlechtes Zeugnis aus. Konflikte sind nicht nur nicht gelöst worden, sondern sind dramatisch eskaliert. Man wirft sich gegenseitig Rechtsbruch, illegales Handeln und mangelnde Legitimität vor. Will man den verschiedenen Rufen nach externer Vermittlung Glauben schenken, dann sind die eigenen Konfliktbewältigungskapazitäten erschöpft.

Das Problem dieser spanischen Verfassung: Sie wollte einer multi­na­tio­na­len Gesellschaft ein einheitsstaatliches Korsett verpassen. Zwar brach­te sie den zentralen Widerspruch auf den Punkt in dem sie einer­seits den Katalanen, Basken und Galizien ihre eigene nationale Identität und somit auch Autonomie zugestand. Anderseits insistierte die Verfassung aber auch auf der «unauslöschlichen Einheit der spanischen Nation, gemein­sames und unteilbares Vaterland aller Spanier.» Das konnte nicht gut ge­hen. Der Konflikt war eingestanden. Wege der gewaltfreien Aufhebung dieses Grundwiderspruchs wurden verdrängt. Ebenso fehlt die Mög­lich­keit, die Verfassung ohne parlamentarische Mehrheiten zu ergänzen, bei­spielsweise durch eine Revisionsinitiative und einem Verfassungs­re­fe­ren­dum aus dem Volk.

Wie immer seit 1714, als kastilische Truppen Barcelona eroberten, ver­such­ten die Katalanen auch diesmal demokratische Zeiten zur Aus­hand­lung eines besonderen Autonomie-Status innerhalb des spanischen Staa­tes zu nutzen. 2006 stand diese Autonomie, aushandelt im spa­ni­schen Parlament, abgesegnet in einem katalanischen Referendum. Doch die spanische Rechte versuchte den Kompromiss mittels einem ver­fas­sungs­widrig zusammengesetzten Verfassungsgericht und dessen Prio­ri­sierung des oben zitierten Artikels zu unterlaufen: Das Gericht strich 14 zentrale Artikel des Autonomiestatutes und korrigierte 20 andere. Damit eskalierte der Konflikt.

Erst jetzt bekamen die Separatisten Rückenwind. Millionen gehen seit 2010 jeweils im September für die Katalanische Eigenständigkeit auf die Strasse. Deshalb auch die zwei selbstorganisierten Plebiszite des kata­la­ni­schen Parlamentes von 2014 und dem vergangenen Sonntag, die ver­fassungsrechtlich natürlich noch keine Sezession legitimieren können. Nun braucht es aber zur Vermeidung neuer und immer schwerer Gewalt und zum Einstieg in einen Verständigungsprozess eine weise Ent­schei­dung des spanischen Parlamentes. Beispielsweise kann es das ur­sprüng­li­che Autonomiekonzept von 2006 wieder in Kraft zu setzen, ge­meinsam mit den Katalanen aktualisieren und einer neuen Volks­ab­stim­mung in Katalonien zu unterbreiten. Zu dem gilt es die Widersprüche in der spanischen Verfassung derart aufzuheben, dass der falsche weil wirklichkeitsferne Anspruch nach Einheitsstaatlichkeit durch eine Bundes­staatlichkeit mit unterschiedlichen, asymmetrischen Autonomien ersetzt würde. So liesse sich Einheit in der Vielfalt schaffen. Die Alternative dazu wäre: Erst viel Leid und Gewalt und anschliessend Verlust der Einheit sowie der Vielfalt.


Kontakt mit Andreas Gross



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