10. Sept. 2017

Neue Wege

Die Entmachtung der Demokratie
kann nur transnational aufgehoben werden



7 Thesen zu Demokratie und Europa


1. Der Demokratie geht es schlecht

Die Staaten haben viele eigenständige Handlungsoptionen verloren. Nicht mehr die Regierungen bestimmen die Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern die transnationalen Märkte bestimmen die Wirtschafts- und So­zialpolitiken der Staaten. Die Bürgerinnen und Bürger können ganz un­terschiedliche Parteien und Regierungsmehrheiten wählen, doch die Politik wird sich deswegen kaum ändern. Die Regierungen dienen nicht mehr den Bürgern, sondern dienen sich den Märkten an und versuchen, die Voraussetzungen für maximale Kapitalrenditen zu optimieren.

So lässt sich die tektonische Verschiebung zusammenfassen, die zur weitgehenden Entmachtung der Demokratie geführt hat. Daraus folgt, dass nationalstaatlich die Macht der Demokratie nicht restauriert werden kann. Wer die wesentlichen Versprechen der Demokratie - eine faire Verteilung der Lebenschancen und die Verhinderung der Degenerierung der Freiheit zur Freiheit der Privilegierten - nicht aufgeben will, der muss sie endlich auf der gleichen Ebene einrichten wie der Markt: Transnatio­nal, jenseits des Nationalstaates, so wie die Kantone und die Bürger 1848 die Bundesebene, die schweizerische Form des Nationalstaates, schufen.

Die Geschichte der Demokratie - ein Gesamtkunstwerk von mehr als Hundert Komponenten, Institutionen, Rechten, Verfahren, Verhältnissen und Beziehungen - war immer ein Kampf um die Demokratisierung der einzelnen Komponenten der Demokratie; ein ständiger Prozess mehrerer Elemente, in dem es immer Momente der Progression und solche der Regression gab.

Heute erleben wir in Europa gewiss insgesamt eine Regression.


2. Frankreich hat’s gemerkt

Frankreichs Demokratie hat sich als stark genug erwiesen, die seit fünf­zig Jahren den Staat und die Politik dominierenden zwei Parteien zu pulverisieren - drei Viertel der Parlamentssitze sind drei Bewegungen übertragen worden, von denen es zwei vor kurzem noch nicht einmal gegeben hat. Dies ist Ausdruck einer demokratischen Erneuerungskraft - in den Niederlanden und in Spanien haben wir Ähnliches gesehen, wenn auch viel schwächer.

In Frankreich ist ein Umbruch im Gange. Er kann auch als Sanktion jener Kräfte interpretiert werden, welche ebenso unwillens wie unfähig waren, eine demokratische Form der EU zu errichten. In Frankreich ist die Krise der Demokratie und der europäischen Integration monatelang öffentlich diskutiert worden sind – als Voraussetzung und Motor eines gesell­schaft­li­chen Lernprozesses, der unter anderem auch ein Mandat zur Total­re­no­va­tion der Brüsseler EU hervorbrachte. Diese Debatte hat in den Nieder­lan­den ebenso wenig wie jetzt in Deutschland stattgefunden. Zwar schreibt der norddeutsche Professor Hauke Brunkhorst von «Merkels Europa am Abgrund» (Blätter für deutsche und internationale Politik, Juli 2017), doch daraus ist kein Gegenstand der Wahlkampagne geworden. Für eine Bilanz aus Österreich und in der Tschechischen Republik, die beide im Oktober wählen, ist es noch zu früh (Anmerkung: Der Text wur­de im Juli geschrieben). Doch vorläufig gibt es wenig Hoffnung, dass in Brüssel die Einsichten in die notwendigen Reformen wachsen.


3. Mehr Direkte Demokratie hat
mit Plebisziten nichts zu tun


Zudem gibt es in den meisten konsolidierten Demokratien einen starken Druck, die repräsentative Demokratie um direktdemokratische Elemente zu erweitern, welche sie repräsentativer machen. Wobei: Plebiszite à la Brexit haben mit Direkter Demokratie so viel zu tun wie das Schwimmen mit dem Ertrinken. In beidem wird abgestimmt, so wie letzteres beides im Wasser stattfindet. Doch Plebiszite waren immer willkürlich eingesetzte Instrumente autoritärer Herrscher zur Legitimationsbeschaffung für eine Politik, die wenig respektiert wird. Cameron handelte zudem verantwor­tungs­los, liess auf Grund einer innerparteilichen Querele unvorbereitete Bürger über eine unausgereifte Frage entscheiden.

In einer Direkten Demokratie haben Minderheiten die Möglichkeit über Gesetze und Verfassungsänderungen abzustimmen, die vorher im Par­la­ment und in der Öffentlichkeit ausführlich debattiert worden sind. In einer Direkten Demokratie kann keine Regierung von sich aus irgendwelche Befragungen ansetzen. Die DD baut Herrschaft ab, erweitert die Demo­kra­tie über die Wahlrechte hinaus und ermöglicht viel mehr Freiheit als in der ausschliesslich indirekten Demokratie.


4. Eine föderalistische europäische Verfassung
mit transnationaler Demokratie ist möglich


National kann weder die Demokratie gerettet, noch der Kapitalismus zi­vi­li­siert werden; dazu muss die Demokratie transnational als politische Ge­genmacht zum Markt konstituiert werden. Das heisst wir bedürfen der EU um der Demokratie willen. Das mag für viele Schweizer paradox klingen. Doch sie muss umgebaut werden, von Verträgen auf eine Verfassungs­grund­la­ge gelegt werden. Erst dann kann die EU kontinental kompen­sie­ren, was heute national an Demokratie verloren geht.

Selbst die Franzosen haben sich davon überzeugen lassen, dass eine bessere Sozialpolitik nur über Europa realisiert werden kann. Dafür muss allerdings auch die Machtstruktur des Euro-Raums verändert, umgebaut und demokratisiert werden. Das meint der französische Präsident Emma­nuel Macron, wenn er von einer Neufundierung [Neugründung] der EU spricht. Wie der Ökonom Thomas Piketty verlangt er, dass die Euro-Fi­nanzminister ihre Macht einer parlamentarischen Versammlung aus Mit­gliedern der nationalen Parlamente der Euroländer übergeben.


5. Die EU ist absolut notwendig -
bedarf allerdings der Totalrenovation


Grundsätzlich darf nicht länger gelten, dass neoliberale Prinzipien wie Markt, Wettbewerb und Konkurrenz vom Luxemburger Gerichtshof ab­so­lut gesetzt werden und so noch weniger reformier- oder relativierbar sind als nationalstaatliche Verfassungsnormen. An diese Prinzipien ist gegen­wär­tig auch die Brüsseler Kommission gebunden; wenn sie davon ab­rücken und ein betroffenes Unternehmen gegen sie klagen würde, dann würde das Unternehmen vom Luxemburger Gerichtshof Recht be­kom­men. Denn der Gerichtshof setzt diese ordoliberalen Grundsätze schon seit Mitte der sechziger Jahre absolut, und sie lassen sich auch durch Mehrheiten im Europa-Parlament nicht überwinden. Wir haben es in der EU mit einem Strukturproblem zu tun und können nicht auf andere Mehr­heitsverhältnisse in der Kommission oder im EU-Parlament hoffen.

Ob die EU in ihrer heutigen Form eine Totalrenovation realisieren kann, werden wir in den kommenden anderthalb Jahren anhand der Macron’ schen Reformanstrengungen sehen. Sollten diese nicht genügen, kom­men wir um einen ganz neuen, direkt gewählten Verfassungskonvent nicht herum. Am Ende dieses Konvents wird im Rahmen eines euro­päi­schen Völkerreferendums mit doppeltem Mehr abgestimmt, und jenen Staaten, die die neue föderalistische Verfassung ablehnen, steht es frei, aus der EU auszutreten.

Freilich müssen wir uns bewusst sein, dass mehr Demokratie immer eine feinere Verteilung der Macht bedeutet. Und dies werden jene, die heute Macht, zu viel Macht, haben, nicht ohne weiteres zulassen. Sie werden erst bereit sein, in diese Neu- und Umverteilung einzusteigen, wenn sie Angst haben, anderenfalls gar keine Macht mehr zu haben. Das heisst beispielsweise vor den Wahlen, den Parlamentariern zeigen, dass sie nicht mehr gewählt würden, wenn sie sich nicht für eine neue europäi­sche Demokratie engagieren nach ihrer Wahl.

Das heisst jene, die mehr Demokratie wollen und eine neue feinere Macht­verteilung, müssen dafür was tun, auf die Strassen gehen, eine Demokratiebewegung etablieren. Zuallererst in den Hauptstädten, bei­spielsweise eben im Hinblick auf nationale Wahlen und später auch ge­samteuropäisch, beispielsweise, aber nicht nur, vor den Wahlen zum Eu­ropaparlament. Ohne solche breiten mächtigen Demokratiebewegungen wäre es nirgends zu demokra­ti­schen Verfassungen und zu demo­kra­ti­schen Fortschritten, beispielsweise auch nicht zu den schweizerischen Volksrechten, gekommen.


6. Die grosse europäische Demokratiebewegung zur Europäisierung
der Demokratie und der Demokratisierung der EU ist noch nicht da

Die notwendigen transnationalen BürgerInnenbewegungen gibt es bisher erst rudimentär und vereinzelt (DIEM, Democracy International u.a.). Doch was nicht ist, kann aber noch werden. Die Potenziale sind da. Vor allem müssen die notwendigen handlungsmotivierenden Analysen und Einsichten noch viel deutlicher gemacht und unter die Leute gebracht werden. Ebenso wie die Einsicht, dass eine neue Zuwendung zum Na­tio­nalstaat keine Alternative mehr sein kann. Erinnern wir uns, dass die mächtigsten europäischen Bewegungen der vergangenen 50 Jahre auch meist unvorhergesehen und überraschend zum Durchbruch kamen. Sie sind wie die Kristalle, die sich bilden, wenn die Flüssigkeit gesättigt ist und sich plötzlich abkühlt. Dieser Moment kann näher sein als wir uns bewusst sind. Doch wir müssen darauf nicht einfach warten, sondern entsprechend schon heute handeln und in diesem Sinn tun, was wir zu leisten vermögen.


7. Die Direkte Demokratie bedarf
auch in der Schweiz mehr Zuwendung


Ohne die Direkte Demokratie wäre die Schweiz zum Verzweifeln. Dank ihr konnten fortschrittliche Massnahmen durchgesetzt werden, die im Par­lament keine Mehrheit gefunden hätten. Zudem hätte das Parlament den in der Schweiz glücklicherweise noch lebendigen Service Public weit mehr beschnitten; dank des Instruments des Referendums konnte man­cher Abbau verhindert werden.

Das Problem unserer direkten Demokratie ist aber, dass wir ihr zu wenig Zuwendung schenken: Ihre Infrastruktur (Bildung, Öffentlichkeit, Orga­ni­sa­tionsfähigkeit, Diskurskapazitäten u.a.) geht kaputt, sie wird zu wenig verfeinert, ihre Kolonialisierung wird nicht verhindert.

So haben viele Schweizerinnen und Schweizer haben den Eindruck, auch ihre Volksrechte seien zu Rechten Vermögender geworden. Ihr Ge­brauch bedarf des Geldes und nicht alle besitzen genug Geld, um davon auch etwas in politisches Handeln zu investieren. Deshalb unterstützt in vielen entwickelten Demokratien die Gesellschaft politisches Enga­ge­ment und honoriert es so auch. Es braucht zum Beispiel auch Geld um der eigenen Argumentation und den trefflichen Argumenten Gehör zu verschaffen; einige können und tun dies sehr, andere werden überhört, weil sie zu wenig Mittel haben, um sich auszudrücken. Dies führt sowohl zu einer enormen Verzerrung der öffentlichen Debatte, behindert die de­mokratische Meinungsbildung und entzieht dem Ergebnis viel Legiti­ma­tion.

In diesem Unwillen der etablierten Mehrheiten in den Räten, in eine ge­sun­de Direkte Demokratie zu investieren, kommt zum Ausdruck, dass die Eliten bis heute auch in der Schweiz die Direkte Demokratie mit ihren Volksrechten, Errungenschaften des ersten grossen Bündnisses der Zu­kurzgekommenen gegen das liberale Establishment des jungen Bundes­staates (1860-1895) nicht verinnerlicht, vielleicht nicht einmal richtig ak­zeptiert haben. Die Schweiz ist heute das einzige Land unter den 35 de­mokratischen Staaten Europas, das kein Gesetz kennt, welche den Ein­fluss des Geldes in der Politik regelt, ausgleicht, öffentlich macht oder minimiert.

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Dieser Text basiert auf einem langen Gespräch, das Andi Gross im Hin­blick auf den Europa-Kongress mit WOZ-Redaktor Stefan Howald geführt hat. Für die Neuen Wege entstand eine neue und ergänzte Fassung. - Andreas Gross (65) ist Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter; sein Arbeitsschwerpunkt liegt seit 40 Jahren bei Fragen der Direkten Demo­kra­tie und der Europäischen Verfassung. Er gehörte zu den Gründern der GSoA (1981-1995) und von eurotopia, war National- und Europarat. Sein letztes Buch: Die unvollendete Direkte Demokratie.


Kontakt mit Andreas Gross



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