25. Mai 2017

BaZ

«Was immer geschieht, passiert eben»


Von Andreas Gross (Clacton-on-Sea/Essex)

Probleme haben beide mehr als genug. Und sie gleichen einander sogar sehr: Wirtschaftliche Rezession, das Gefühl vergessen und verloren zu sein, abgehängt vom Fortschritt, verlassen von allen guten Geistern. Doch die Reaktionen darauf im Hinblick auf Wahlen, in denen wichtige Weichen neu gestellt werden könnten, scheinen diametral verschieden zu sein. Während selbst in der tiefsten französischen Provinz die kri­ti­schen Worte so heftig aus den Kehlen der Bürger purzeln, dass sie scheinbar kaum mehr beruhigt werden können, zucken viele Engländer eher mit den Schultern und möchten kaum Worte verlieren über die in weniger als zwei Wochen anstehenden Wahlen zum Parlament in West­minster, Grossbritanniens absolutem politischen Machtzentrum. Und nur wenige möchten den politischen Diskurs im Hinblick auf die Wahlen mit ihrer misslichen Lage in Verbindung bringen oder gar darüber nach­den­ken, wie man am 8. Juni für eine andere, hilfreichere Politik sorgen könnte.

Dabei sind die misslichen Verhältnisse in der Kleinstadt Clacton an der Nordsee-Küste nicht zu übersehen: Viele leerstehende Ladenräume, her­untergekommene Häuserfassaden, verrostete Installationen in ver­nach­lässigten Parkanlagen, schäbige Hotels, manche trotz unmittelbar bevor­stehender Hochsaison immer noch verschlossen, viele Ramschläden, einfache Imbissbuden. Clacton-on-Sea ist die östlichste Stadt der Graf­schaft Essex, wörtlich als Ost-Sachsen übersetzbar, nordöstlich von London gelegen, etwas mehr als zwei Autostunden von der City entfernt ... Und doch eine ganz andere, kleine, beschauliche, von älteren und ärmeren Menschen geprägte Welt. Seit 1979, der ersten Wahl Margaret Thatchers, fest in konservativer Hand. So sehr sogar, dass die Stadt Clacton zum ersten und bisher einzigen der 650 britischen Wahlkreise wurde, in dem sich 2015 ein Mitglied der United-Kingdom-Independence-Party (UKIP) eine Mehrheit verschaffen konnte. Kein Wunder deshalb, dass der Brexit, der Austritt Grossbritanniens aus der EU, vor einem Jahr in Clacton von mehr als zwei Dritteln der Abstimmenden begrüsst wurde.

Mehr als genug politischen Stoff zur Diskussion vor Wahlen, könnte man also meinen. Denn der Ex-UKIP-Abgeordnete tritt nicht mehr zur Wahl an. Die konservative Anti-Brexit-Mehrheit ist aus der Öffentlichkeit ver­schwunden. Und die an sich europafreundliche Labour-Partei will zumin­dest offiziell und mehrheitlich auch nicht mehr länger über dem Brexit brüten. Doch deren linker Präsident Jeremy Corbin, der übrigens von den schweizerischen Sozialdemokraten den Wahlslogan übernommen hat («Für alle, statt für wenige») wird intern so sehr angefeindet, dass die führende Wochenzeitschrift Economist schon die Abspaltung eines Grossteils der neu gewählten Labour-Abgeordneten propagiert. Die jetzt auf den «harten» Brexit pochende Premierministerin und führende kon­servative Wahlkämpferin Theresa May scheint Kreide gefressen zu haben und buhlt in betont anti-thatcherischer Manier mit viel staatlicher Sozialpolitik um die Stimmen der kleinen Leute, die sich von Corbyns radikaler Sozialpolitik und neuer, weniger aggressiven Aussenpolitik er- und abgeschreckt fühlen könnten.

Doch davon ist in den Cafés von Clacton wenig zu hören. Im kleinen Oli­ve Tree an der Einkaufsstrasse meint Bob, ein pensionierter Sicherheits-Fachmann, immerhin, jetzt werde er wieder Labour wählen, nachdem er das letzte Mal aus taktischen Gründen den jetzt nicht mehr antretenden UKIP-Mann unterstützt habe. Doch «jetzt sind die Konservativen viel zu weit nach rechts abgedriftet, trotz den Schalmaien-Tönen der Premier­mi­nis­te­rin. Jetzt brauche diese eine starke Opposition und die könne nur Labour werden, wenn wieder mehr Leute Labour wählen würden», meint Bob. Corbyn sei vielleicht tatsächlich nicht so überzeugend, doch er wähle das Programm von Labour und nicht deren Vorsitzenden. Wobei, so sagt Bob noch, unter Corbyn hätte Grossbritannien wie Deutschland nicht mitgemacht im Irak- oder Libyen-Krieg und wäre deswegen wohl auch weniger der Terrorgefahr ausgesetzt als es nun ist. Bob weist auch darauf hin, dass Clacton der Bezirk innerhalb der EU sei, der am dritt­schlimmsten von sozialen Problemen gepeinigt werde: Kriminalität, Dro­gensucht, Arbeitslosigkeit seien hier erdrückend. Die EU habe zwar schon 24 Millionen Euro ausgegeben, um nach Ursachen und Alter­na­ti­ven zu forschen, doch herausgekommen sei dabei wenig; und man habe es ihr - Stichwort Brexit – denn auch nicht gedankt hierzulande.

Terry, Bobs Freund und Autoverkäufer, glaubt zwar nicht an den Brexit. Die Regierenden schauen doch nur auf die eigene Geldbörse, meint er, und zwar alle. Entsprechend weiss Terry auch nicht, wen wählen. Viel­leicht doch Labour, doch auch sie hätten ja nun den vom ehemaligen Premierminister Cameron leichtfertig provozierten Volksentscheid ak­zep­tiert und wollten keine Wiederholung des Referendums. Aber immerhin könne er so den Konservativen eins auswischen.

Theresa, eine Marktfrau, nicht ganz 50 Jahre alt, die weiter unten an der Strasse Kleider verkauft, wendet sich zunächst ab, als ich sie nach ihrer Meinung zu den Wahlen frage. «Seit mein Dad gestorben ist, gehe ich nicht mehr wählen», sagt sie dann doch. «Er sagte mir immer, was ich wählen soll. Jetzt tut dies niemand mehr, und ich verstehe von der Politik zu wenig. Dad war ein typischer Essex-man – ein alter Labour, den später Frau Thatcher von den Konservativen überzeugt hat. Doch ich befasse mich nicht mit Politik und verstehe deshalb nicht, was ich bei den Wahlen tun soll.» An der Brexit-Abstimmung hätte sie dann aber doch mitgemacht, sagt Theresa auf Nachfrage. «Ich habe für die weitere Mitgliedschaft in der EU gestimmt, denn uns von der EU abzuwenden ist doch zu dumm», sagt sie – ohne auf weitere Konsequenzen aus dieser Einsicht für die anstehenden Wahlen einzugehen.

Auf der sonnige Terrasse des Freedom House, einem grossen und gut gefüllten Pub an der Küstenstrasse, treffe ich auf eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind sowie auf eine werdende Mutter. Letztere, Rahel, lässt enttäuscht die Mundwinkel hängen, als ich sie auf die kommenden Wahlen anspreche: «Ich gehe nie wählen; meine Stimme ändert doch nichts. Was immer geschieht, passiert eben, da können wir doch nichts ändern.» Und ihre Freundin meint, beim Brexit habe sie zwar für den Abschied von Europa gestimmt, doch jetzt gehe sie nicht wählen. Sie beide hätten mit dem lebenden und dem noch zu gebärenden Kind mehr als genug tu tun!

Im Pub selber sagt mir Malcolm mit dem seinem Bier in der Hand: «Ich werde wieder Labour wählen, so wie immer und so wie es schon mein Vater getan hat.» Während Cordy, ein bei der Kehrichtabfuhr beschäf­tig­ter gewitzter Mann mit einem verschmitzten Lächeln, meint: «Ich helfe den Grünen. Die wollen nicht einfach nur Macht, sondern setzen sich auch für das Gute ein: Gesunde Nahrung, gesunde Luft, gesundes Wasser, die Basics.» Für den Brexit habe er natürlich auch gestimmt, sagte Cordy noch, sein Onkel sei doch für das Land gestorben und England sei nun einmal britisch und das müsse so bleiben. Alan, ein Buchhalter, sagt, er werde wieder konservativ wählen, es sei doch richtig, dass die neue Premierministerin eine eigene Legitimität wolle; und die solle sie von ihm auch bekommen.

Doch alle – Bob, Terry, Cordy, Malcolm oder Alan – mögen wissen, was sie tun wollen am 8. Juni bei den Polls, den Wahlen, - doch im Unter­schied zu ihren französischen Mitbürgern jenseits des Kanals scheinen sie dies ohne grosse Hoffnung oder gar Enthusiasmus zu tun, dass sich durch ihre Wahl etwas ändern könnte an ihrer durchaus als misslich und wenig erhebend empfundenen Situation.


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