7. Juni 2017

BaZ

Die Schotten wählen morgen anders –
den Ausgang der britischen Wahlen
entscheiden sie nicht



Von Andreas Gross (North Berwick/Dunbar)

Gleicher Staat, gleiches Meer, gleiche Küste – und doch eine andere Welt. North-Berwick und Dunbar sind zwei kleine, schmucke und alte Fischerstädtchen am Edinburgher Fjord an der Nordseeküste Gross­bri­tan­niens. Die innerbritische Landesgrenze zwischen Schottland und England verläuft etwas weiter südlich, keine 50 Kilometer weg. Ebenso weit entfernt, jedoch westwärts, liegt Edinburgh, die schottische Haupt­stadt. Die je 6000 Einwohner von North-Berwick und Dunbar bereiten sich wie alle in Grossbritannien auf die morgigen Wahlen zum britischen Par­la­ment in London vor. In den Pubs sind die Diskussionen unüberhörbar. Zwar sind die konkurrierenden Parteien mit einer Ausnahme die gleichen wie in England oder Wales, auch die wichtigsten zwei Kandidaten für das Amt des britischen Premierministers sind die gleichen, ebenso das läh­mende Gefühl einer tiefen Verletzung durch die drei Terroranschläge in den letzten drei Monaten in London und Manchester - und doch ist die politische Kultur hier ganz anders, der politische Diskurs ebenso.

Den meisten der etwas mehr als vier Millionen Schotten geht es ver­gleichs­weise gut. Viel besser jedenfalls als vielen der über 20 Millionen Engländer, die nicht im Grossraum London arbeiten. Die Schulen sind besser, Bus und Züge fahren dichter und günstiger – obwohl die Schot­ten, die nur etwa acht Prozent der britischen Bevölkerung stellen, in einem grossen und weiten grünen Raum wohnen, der nicht weniger als ein Drittel der Fläche des Vereinigten Königreichs ausmacht. Während in London seit drei Jahrzehnten Neoliberale unterschiedlicher Parteifarben den Ton angeben, dominiert im schottischen Parlament seit zehn Jahren die Schottische Nationale Partei (SNP), die sozialdemokratischer ist als die sozialdemokratische Labour-Partei Grossbritanniens. Nachdem die SNP im Jahr 2014 das Referendum für die Unabhängigkeit Schottlands fast für sich entscheiden konnte, vermochte sie sich bei den letzten Wahlen 2015 zum Londoner Parlament vollständig durchzusetzen: Mit vier Ausnahmen gewann die SNP alle 59 Sitze Schottlands im britischen Parlament und entthronte die jahrzehntelang dominierende Labour-Partei fast vollständig. Entsprechend anders stimmte die grosse Mehrheit der Schotten im vergangen Juni zum Brexit-Referendum. Im Unterschied zur britischen Mehrheit sprachen sich die Schotten für den Verbleib in der Europäischen Union aus.

Linda sitzt mit ihrem Mann Christopher vor dem Pub Ship Inn in North-Berwick. Beide fühlen sich hier zu Hause, obwohl sie mit Labour oder gar mit der SNP nichts zu tun haben. Linda, die Leiterin einer Primarschule meint: «Zum ersten Mal in meinem Leben wähle ich die Konservativen. Nicht weil ich sie besonders schätze, sondern ich will unbedingt die Wahl eines Labour-Abgeordneten verhindern. Er würde bloss die Steuern er­höhen, die Wirtschaft noch mehr belasten; die Zukunft würde noch düste­rer als sie ohnehin schon ist.» Ihr Gatte Christopher will zwar nicht ver­ges­sen, dass er dem ehemaligen Labour-Premier Edward Wilson enorm dankbar ist, weil er sich den USA und deren Vietnamkrieg verweigert hatte und ihn, der damals im Militär war, wohl vor viel Leid und Unheil bewahrt hatte. Dennoch hält auch er von den heutigen Linken wenig und möchte das Land, das ganz schwierigen Zeiten entgegensehe, nicht auch noch den wieder sehr links gewordenen Labour-Leuten überlassen. «Die Konservativen mit Theresa May mögen nicht gut sein, doch die Labour Partei würde es noch schlechter machen,» sagt Christopher mit Bedacht. Wie Linda ist er überzeugt, dass der Brexit heilsam sein wird für Grossbritannien; in der EU wäre alles noch viel schlimmer gekom­men, jetzt seien sie wenigstens wieder selber verantwortlich für das, was geschehe.

Im Black Agnes-Pub oberhalb des alten Hafens von Dunbar sitzt Peter, ein alter Rugby-Profi, wie ein alter fitter Kapitän kurz vor dem Auslaufen seines Schiffes. Er ist sich zwar bewusst, dass die konservative Pre­mier­ministerin May einen miserablen Wahlkampf hinter sich hat, den Debatten mit ihren Kritikern aus dem Weg ging und sich in Wider­sprü­chen zwischen ihren neuen sozialen Ansprüchen und den unsozialen Taten verheddert hat - aber dennoch ist er der Überzeugung, dass Mays Hoffnung auf eine stärkere konservative Mehrheit im neuen Parlament aufgehen wird. «Sicher hat der von vielen Medien beschimpfte Labour-Chef Corbyn eine viel bessere Kampagne geführt als Frau May und vor allem viele Junge begeistern können durch seinen Einsatz für mehr Gerechtigkeit und für bessere öffentliche Einrichtungen», sagt Peter, «doch viele ehemalige UKIP-Wähler werden jetzt nach dem Brexit nun wieder zu den Konservativen kommen. Zudem hat die SNP-Chefin Nicola Sturgeon mit ihrer Fixierung auf ein zweites Unabhängigkeits-Refe­ren­dum übermarcht und wird selbst hier in Schottland die Konservativen neue Sitze gewinnen lassen. So wird es für die Konservativen mehr als gut kommen.« Persönlich hätte er gerne wieder für eine tüchtige Labour-Abgeordnete gestimmt, doch die habe leider nicht kandidieren wollen in seinem Wahlkreis, meinte Peter auch noch, fast besänftigend und tröstend.

Der Geograph Uween ist eben aus der Uni in Edinburgh nach Dunbar heim gekommen und genehmigt sich noch einen Drink, bevor er nach Hause geht. «Ich befürchte, dass der Terror vielen Wählern noch mehr Angst macht und sie noch mehr in die Hände der etablierten Ordnungs­hü­ter treibt», sagt er. Und: «Solche Katastrophen nützen immer den Herrschenden; verängstigte Bürger tendieren zu autoritären Politikern. Ich fürchte mich viel mehr vor den negativen Folgen, die dies für unsere Demokratie haben wird.» Auch Uween glaubt, dass die SNP ihren gros­sen Erfolg von vor zwei Jahren nicht halten kann. «Es kann durchaus sein, dass einige wieder zurückfinden zu Labour, denn deren Chef Cor­byn verteidigt die klassisch sozialdemokratischen Positionen, welche die Schotten schätzen, viel entschiedener als seine Vorgänger; und die SNP-Regierungschefin hat gerade in Sachen Schul- und Gesundheits­po­li­tik einige Defizite offenbart, welche manch einen Schotten enttäuscht hat.» Doch, so meint Uween auch, die Wahlkampagne könnte sich für Corbyn auch als zu kurz erweisen: «Es fehlt ihm die Zeit, um noch mehr Bürger davon zu überzeugen, dass er zu unrecht als ausgedienter, ver­schrobener alter linker Kauz dargestellt wird, und viel überzeugender ist, als manche zu Beginn des Wahlkampfes gedacht hatten.»

So mögen die politischen Uhren in Schottland tatsächlich anders gehen als bei ihren britischen Landsleuten weiter südlich. Die politische Debatte ist viel ruhiger und tiefschürfender, die Überzeugungen sind sozialer und progressiver. Und auch einige mögliche Sitzgewinne der Konservativen können an der Dominanz linker schottischer Abgeordneter in West­min­ster nichts ändern. Doch auch die wiederum wird wohl nicht verhindern können, dass landesweit die Konservativen ihre Mehrheit im neuen Par­lament ausbauen werden – wenn auch nicht in dem Ausmass, wie sich dies die Premierministerin vor sieben Wochen ausgerechnet hatte, als sie alle Briten zu vorzeitigen Wahlen einlud, welche viele Bür­ge­rinnen, Schotten wie Engländer, als unnötig und eher unangebracht empfanden.


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