15. März 2017

BaZ

Zwei Krisengewinnler finden am meisten Wähler


Von Andreas Gross, Maastricht

So viel europäische Aufmerksamkeit wie heute war den Niederlanden noch selten gewiss. Denn sie sind heute die ersten Westeuropäer, die nach den beiden politischen Erdbeben von kontinentalen Ausmassen - dem britischen Plebiszit für den Austritt aus der EU (Brexit) und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten – ihrerseits ihr 150köpfiges Par­la­ment neu wählen. Und sie haben unter den Spitzenreitern einen Kan­di­daten, Geert Wilders von der Freiheits-Partei (PVV), der nach dem Brexit auch den Nexit (EU-Austritt der Niederlande) will, und der nicht nur twit­tert wie Trump sondern auch alle Immigranten, insbesondere die Mus­li­me, bekämpft und hinauswerfen will wie er. So fragen sich viele Europäer gespannt, ob mit Wilders heute Abend der nächste Nationalist gewinnt; was wiederum Frankeichs Nationalistin, Marine Le Pen, für die im April und Mai anstehenden Präsidentschaftswahlen im zweitwichtigsten Land Europas, weiteren Aufschwung verschaffen würde.

Es spricht einiges dafür, dass Wilders heute Nacht zu den Gewinnern gehören, aber nicht der Sieger sein wird. Denn die Niederländer wählen heute in einer heissen Krise, der Türken-Krise, wie sie sie nennen. Die Menschen sind aufgewühlt und entsetzt darüber, sich vom Chef eines Nato-Partners als Faschisten und Bananenrepublikaner beschimpfen lassen zu müssen. In den Strassen Rotterdams prügeln sich aufge­brach­te Türken mit niederländischen Polizisten. Sie wehren sich gegen das Einreiseverbot für türkische Minister, welches die holländische Regierung letzte Woche beschloss. Man will nicht, dass auf holländischem Boden für das autoritäre Referendum in der Türkei Propaganda gemacht werden kann. Zudem hat sie eine türkische Ministerin daran gehindert, das tür­kische Konsulat in Rotterdam zu betreten – völkerrechtlich ebenso pro­blematisch wie aus grundrechtlicher Sicht die Verweigerung des Rede­rech­tes. Verantwortlich dafür ist Premierminister Mark Rutte, ein smarter und geschmeidiger Manager der Macht, der weiss, dass einem Regie­rungschef vor einem Wahltag nichts nützlicher sein kann als jenseitige Verunglimpfungen eines autoritären türkischen Präsidenten und eine Krise, in der er Tatkraft und Entschlossenheit demonstrieren kann.

So stehen Rutte und Wilders schon vor der Auszählung der Wähler­stim­men wohl als die beiden Krisengewinnler fest. Ausdruck davon war be­reits deren TV-Duell am Montagabend. Während die Spitzen der 14 in den Meinungsumfragen führenden Parteien gestern, zum Vorabend der Wahl, nochmals am Fernsehen streiten durften, bekamen die beiden Türkengegner Rutte und Wilders am Abend zuvor das Privileg des Son­derduells, von dem jeder nur profitieren konnte. Wobei Rutte sich inso­fern entlarvte, dass er Wilders nicht des Populismus beschuldigte, son­dern des «falschen» Populismus; damit gab er nicht nur vor, dass es einen richtigen Populismus gibt, sondern beanspruchte dieses Label wohl zu recht auch noch gleich für sich.

Zwei ausgesprochene Populisten werden heute in den Niederlanden also höchst wahrscheinlich die meisten Stimmen machen. Doch dieser Sieg zweier Populisten wird nicht zu einer populistischen Regierung führen. Denn Mark Rutte versprach am Montagabend noch einmal hoch und heilig, keinesfalls mit Wilders eine Regierung bilden zu wollen. So dürfte Wilders zwar gewinnen und doch von der Regierung ausgeschlossen bleiben, also auch wieder verlieren.

Der alte und mit aller Wahrscheinlichkeit neue Premierminister Mark Rutte wird als Regierungsmehrheit eine neue Mitte-rechts-Koalition zusammenstellen. Weil aber auch Ruttes rechtliberale Partei massive Sitzverluste erleiden wird, auch er also Sieger und Verlierer zugleich sein wird, dürften die drei traditionellen Koalitionspartner nicht ausreichen: sie müssen sich erstmals in der niederländischen Nachkriegsgeschichte einen vierten Regierungsallianzpartner suchen und könnten beim mög­lichen Gewinner des heutigen Tages, den Grünlinken fündig werden.

Massiv abgestraft wird Ruttes bisheriger Regierungspartner, die Sozial­demokraten, in den Niederlanden Partei von der Arbeit (PvdA) genannt. Sie dürften zwei Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler von 2012 verlieren. Damit bezahlen sie die Zeche für die Erhöhung des Rentenalters und den massiven Abbau von sozialen Dienstleistungen im Gesundheits-, Alters- und Pflegebereich sowie der Präkarisierung von einer Million Arbeitenden während der vergangenen fünf Jahre. Ebenso haben es die Sozial­de­mo­kra­ten, die mit dem Finanzminister immerhin den Vorsitzenden der Euro-Länder sowie mit Frans Timmermanns den ersten Vizepräsidenten der EU-Kommission stellen, verpasst, rechtzeitig EU-Reformprojekte zur Diskussion zu stellen.

Damit hätten sie das in Niederlanden weit verbreitete Unbehagen über die Fremdbestimmung aufnehmen können, das der frühere französische Aus­senminister Vedrine kürzlich als «Konfiskation der Demokratie» be­zeichnet hat. Die Niederlande illustrieren, dass Europäer nur verlieren, wenn sie die Kritik an der EU den Nationalisten überlasssen und nicht merken, dass die erodierende Demokratie nur durch deren Einbau in einer konzeptionell renovierten EU gerettet werden kann. Das dürfte eine der europäischen Lehren aus den niederländischen Wahlen sein, welche die Europäer im französischen Wahlkampf sich bereits zu eigen zu ma­chen scheinen.


Kontakt mit Andreas Gross



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