17. April 2017

BaZ

Wut, Panik, Verzweiflung –
kaum Zuversicht oder Hoffnung



Eine Woche vor der Wahl. Eindrücke aus den drei Landstädtchen Lure, Luxeuil und Vesoul.

Von Andreas Gross, La Haute-Saône

Die Autobahnen und der TGV haben Frankeichs Geographie total ver­ändert. Auto- und Zugfahrende flitzen heute durch Landschaften, welche früher den meisten unbekannt blieben. Dafür kennt heute kaum einer mehr die kleinen Städte, in denen früher Pausen obligatorisch waren. Vesoul war nach Mülhausen der zweite Halt der Basler Züge nach Paris. Lure und Luxeuil waren obligatorische Pausenhalte auf den verschlunge­neren automobilen Wegen in die Weltstadt. Alle drei liegen im Departe­ment Haute-Saône, benannt nach dem Fluss, der in den Vogesen ent­springt und bereichert mit Wasser aus dem Doubs fast 500 Kilometer später in Lyon in die Rhone mündet.

Wer sich in den Cafés der drei Landstädtchen nach der Beurteilung der Wahl des Präsidenten und Nachfolgers des ausnahmslos alle Angespro­che­nen enttäuschenden Francois Hollande vom kommenden Wochen­en­de erkundigt, wird Zeuge eines politischen Umbruchs. Kaum einer bleibt gelassen. Alle sind entsetzt über die politischen Zustände in Frank­reich. Viele zeigen sich verzweifelt, denn sie haben den Glauben in die Macht der Politik, die Dinge zum Besseren zu wenden, verloren. Und sie rümp­fen die Nase über das personale Angebot, aus dem sie auszuwählen ha­ben. Über ein Drittel der Befragten zögert noch, bei wem sie ihr Kreuz machen sollen. Doch wählen will in einer Woche mit einer Ausnahme jeder.

Diese Ausnahme heisst Henry, ist Masseur, 63 Jahre alt und sitzt schon am frühen Morgen im Café des Courses in der etwas vernachlässigten Vorstadtstrasse von Lure. Rund herum sitzen vor allem Männer vor einer Tasse Kaffee, füllen Lottozettel aus oder bereiten sich auf die erste Pfer­dewette des Tages vor. Henry hat seine besonderen Gründe. Vor 25 Jah­ren war er unschuldig verurteilt und seiner politischen Rechte beraubt worden, wie er erzählt. Sein Chef hätte Geld gestohlen. Das Gericht hätte aber ihm die Schuld in die Schuhe geschoben. Ein Leben lang will er nun dagegen protestieren. Seither verweigert er jegliche Teilnahme an allen Wahlen. Doch er schmunzelt, ist einer der wenigen Heiteren an die­sem schönen Vormittag. Eine Meinung hat er schon. Denn den millionen­fachen, öffentlichen und privaten Reflexionen über diese Wahlen kann sich auch Henry nicht entziehen. «Als Grüner wüsste ich schon, was ich tun würde», meint er. Und der frühere Premierminister Francois Fillon habe trotz allen Skandalen noch intaktere Chancen in die Stichwahl zu kommen, als viele meinen. Denn den Sündern würden viele Franzosen trotz aller Wut doch immer wieder vergeben. Und dem Sozialisten Benoît Hamon schade einfach die miese Bilanz des scheidenden Präsidenten. Zudem werde er schlecht beraten. Henry: «Schade für seine guten öko­logischen Reformideen.»

Abdel, bereits 85 Jahre alt, aber rank und schlank wie mancher Vierzig­jäh­ri­ger, lacht über die «allgemeine Panik, die sich rund um die Wahlen» breitmache. Kein Wunder, meint er, denn von den vier Favoriten für den zweiten Wahlgang würden drei sogenannte Bewegungen anführen und seien keine Vertreter klassischer Parteien. So gehe es jetzt um die Aus­wahl von Personen und diese seien eben noch viel unberechenbarer als Parteien. Dies habe man doch schon bei Sarkozy gesehen, der eine noch grössere Enttäuschung gewesen sein als Hollande. Abdel sucht den «dynamischsten, intelligentesten und humanistischsten» und glaubt ihn in Emmanuel Macron gefunden zu haben, dem jüngsten aller Kandi­da­ten. Macron, ehemaliger Wirtschaftsminister und eine Art sozial­li­be­ra­ler Modernist, wusste innert eines Jahres eine Bewegung von 200'000 en­gagierten Menschen auf die Beine zu bringen, die, wie er letzte Woche stolz verkündete, 45 Millionen Flugblätter verteilt und gleichzeitig an einem Tag in ganz Frankreich 1000 Veranstaltungen organisieren könne. Abdel, der sein Leben lang in der Armee war, will vor allem die Rassisten bremsen, den Unglücklichen helfen und hofft, dass Frankreich endlich aufhöre, sich in Kriege zu verstricken.

Fernand (51) Mechaniker bei Peugeot, ist unsicher. Er wird am kommen­den Wochenende wohl leer einlegen. Und im zweiten Wahlgang zwei Wo­chen später republikanisch wählen, das heisst die rechtsextreme Marine Le Pen verhindern. «So ein Durcheinander habe ich noch nie gesehen», meint Fernand. Erstmals hätten vier Personen gute Chancen, in den zweiten Wahlgang zu kommen. Die seit 60 Jahren bipolar geprägte poli­tische Landschaft sei vielfältiger und somit unübersichtlicher geworden. Die beiden grossen Lager, links und rechts, hätten sich voneinander entfernt, das Zentrum an Eigenständigkeit gewonnen. Personen stünden im Vordergrund, nicht mehr die grossen Parteien. Deren eine, die SP, hätte alle enttäuscht. Sie sei daran, auseinanderzubrechen. Die andere, die lR, werde durch einen «Banditen» vertreten. Fernand: «Es ist zum Heulen, die Leute haben einfach genug, und politisch sind sie am Ver­zweifeln.» Ob es da ein Trost sei, dass die Politik ja immer macht­lo­ser sei und die grossen Unternehmungen doch unser Leben bestimmten, fragt sich der ruhige Mann nachdenklich: «Nicht wirklich, denn wir wollen doch selber sagen, wo’s lang geht, oder nicht?»

In Luxeuils schmucker Altstadt liegt das gediegene Café Français. Die alte Bäderstadt macht einen durch und durch bürgerlichen Eindruck. Der Bretone Roger, den es des Berufes wegen in den Osten verschlagen hat, hat denn auch in den letzten beiden Wahlen immer für Nicolas Sarkozy gestimmt: «Doch jetzt habe ich genug. Es muss etwas geschehen. Ich werde Marine Le Pen vom Front National wählen. Es kann nicht schlim­mer werden. Schon wieder haben Einwanderer in Grenoble eine alte Frau überfallen. Genug ist genug.» Und über den Austritt aus der EU will sie ja dann ein Referendum organisieren und da könne er immer noch Nein sa­gen, sagt Roger, meint aber: «Ein Austritt aus der EU würde mich auch nicht stören.» Am Ende des Gesprächs fügt er jedoch, fast besänftigend, hinzu: «Meine Frau wird freilich Jean-Luc Mélenchon wählen; sie will etwas für die Arbeiter tun, die Le Pen ist ihr viel zu radikal.» Und dann scheint er selber auch nicht mehr ganz sicher zu sein, denn zum Adieu sagt mir Roger: &lauo;Wenn Le Pen und Macron sich in der Stichwahl gegenüberstehen sollten, werde ich wohl leer einlegen ... denn für einen ehemaligen Bankier kann ich auch nicht sein.»

Am Tischchen neben ihm sitzt Claude (54), ein Möbelschreiner, und liest den Canard Enchainé, das auflagenstarke satirische Wochenblatt, das in den letzten Monaten so einige Skandale der politischen Klasse aufge­deckt hatte, vom steuerschwindelnden Budgetminister bis zum Ex-Pre­mier Fillon, der Gattin und Kinder aus der Staatskasse entlohnt haben soll, ohne dass diese wirklich für ihn gearbeitet haben. «Ganz ehrlich, wir stehen vor einer ganz schwierigen Wahl», meint Claude, «keiner über­zeugt mich wirklich. Le Pen kommt nicht in Frage, Fillon ist ein Schurke. Die Sozialisten kann ich auch nicht wählen, denn Hollande hat links kandidiert und dann im Amt rechte Politik gemacht. Mélenchon kann zwar gut reden, doch sein Programm macht mir Angst. So bleibt mir nur noch Macron ... und die Hoffnung, dass er wirklich hält, was er an sozia­len Erleichterungen für die Benachteiligtsten verspricht.» Bei den an die beiden Wahlgänge für die Präsidentschaftswahlen anschliessenden Par­lamentswahlen im Juni will Claude dann konsequenterweise auch die Kandidaten Macrons Bewegung En Marche wählen: «Denn der Präsident muss ja eine Mehrheit im Parlament haben, wenn er umsetzen wolle, was er sich vornehme!»

In Vesoul, der alten Hauptstadt des Departements Haute-Saône, treffe ich im Café Christiane an der Place de la République endlich Bürger, die einen der sechs sogenannt kleinen Kandidaten wählen wollen. Zumindest im ersten Wahlgang, denn weiter kommen diese Kandidaten sowieso nicht. Es sind jene Kandidaten, die fast keiner kennt, die sich vor den Wahlen noch keinen Namen gemacht hatten, keine grössere Partei hinter sich wissen, doch die notwendigen 500 Empfehlungen von Parlamen­ta­ri­ern und Bürgermeistern aus dem ganzen Land gesammelt haben, um sich für die Präsidentschaftswahl als Kandidaten zu qualifizieren. «Auch wenn er keine Chancen hat, gewählt zu werden, werde ich meine Stimme François Asselineau geben. Denn er vertritt wie ich die Überzeugung, dass Frankreich sofort aus der EU austreten muss», sagt der 50jährige Ingenieur und Therapeut Gilles. «Wir wollen endlich wieder die Regeln und Gesetze selber bestimmen, nach denen wir leben sollen. Heute werden die in Brüssel geprägt. Frankreich geht verloren. Das will ich nicht.» Und sollte sein souveränistischer Kandidat nicht weiterkommen, will er im zweiten Wahlgang leer einlegen: «Von mir bekommt keiner eine Stimme, der ein System vertritt, das uns erstickt.»

Am Nebentisch sitzt der junge Medi, Grenzgänger aus Pontarlier und in Yverdon bei den SBB als Mechaniker arbeitend. Er ist der einzige, der strahlt, als er von seinen politischen Absichten erzählen kann. Auch er wird einen kleinen Kandidaten wählen, den Autoarbeiter Philippe Poutou (50) von der Neuen Antikapitalistischen Partei: «Er ist der einzige Ar­bei­ter unter allen Kandidaten. Einer, der frühmorgens aufsteht wie ich und zur Arbeit fährt. So einer kennt unsere wirklichen Sorgen, weiss, wie er uns helfen kann. Der lebt noch nicht in einer eigenen Welt und ist wirklich verbunden mit dem Volk, dem er dienen sollte.» Hamon und Macron hätten noch nie in der wirklichen Welt gelebt, meint Medi weiter, die seien ihm viel zu abgehoben. Und die Sozialisten hätten alles gemacht, nur keine gute soziale Politik. Und im zweiten Wahlgang? Medi: «Dann hoffe ich Mélenchon die Stimme geben zu können, dem anderen Linken, der die Verbindungen zum Volk noch nicht verloren hat.»

Doch Medis leicht unsicherer Gesichtsausdruck ist berechtigt bei dieser Perspektive. Denn die Chancen, dass Macron und Le Pen in den zweiten Wahlgang kommen, scheinen grösser. Obwohl noch ein Drittel der fast 80 %, die wählen gehen wollen, noch nicht sicher sind, wem sie dann am kommenden Sonntag wirklich ihre Stimme geben wollen.


Andreas Gross, Politikwissenschaftler, hat selber 18 Wahlen bestritten, war Gemeinde-, Verfassungs-, National- und Europarat. Für die BaZ hat er in der Provinz nach den US-Primär- und den niederländischen Parlaments- nun auch die französischen Präsident­schaftswahlen beobachtet.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht