15. Jan. 2017

Sonntagszeitung

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Immer wieder haben sich Demokraten von Schweizer Erfahrungen inspirieren lassen


Zürich. Einer der sich für mehr direkte Demokratie in Europa ein­setzt, ist der ehemalige SP-Nationalrat Andreas Gross. In seinem Buch «Die unvollendete direkte Demokratie» untersuchte er, ob sich die Schweizer Demokratie in andere Länder exportieren lässt.

Die junge Partei Geenpeil will mit dem Vorbild der Schweiz, die direkte Demokratie in die Niederlande bringen.

Ich unterstütze seit 20 Jahren Personen, die sich für die Einrichtung der direkten Demokratie in der Niederlande einsetzen. Dies ist bisher aber nur halbwegs gelungen. Es gibt dort nun ein Referendum, aber kein Ini­tia­tivrecht.

Was sind die Konsequenzen?

Die Direktdemokraten bekommen eine Neinsager-Schlagseite verpasst. Ohne Initiativrecht haben sie es schwer, konstruktive Alternativen zur Diskussion zu stellen.

Geenpeil will das ändern.

Die Partei ist Ausdruck der Krise der Repräsentanz, wie sie nicht nur in der Niederlande zu beobachten ist. Viele Bürger fühlen sich schlecht ver­treten durch ihre Repräsentanten. Ebenso der Politik ausgeliefert, ohn­mäch­tig, ja unterfordert, denn sie hätten einiges einzubringen.

Parlamentarier von Geenpeil würden abstimmen, was das Volk will.

Das ist letztlich eine Illusion. Die Idee des imperativen Mandats verkennt das Wesen des Parlamentes. Es ist Ausdruck des Problems der parla­men­ta­rischen Demokratie und kein Weg zu dessen Lösung.


[Anmerkung des Setzers: Es wird damit nicht nur das Wesen des Par­la­men­tes verkannt, wie AG richtig feststellt – auch aus der Sicht der Wäh­lerInnen (des «Volks» somit) kommt man mit solchen unausgegorenen Ideen in Teufels Küche. Ein Beispiel: Nehmen wir an, es gibt in Umfragen vor den Wahlen eine deutliche Mehrheit von 61 % gegen eine Maul­korb­pflicht für Hunde. Die Vertreter von Geenpeil würden also im Wahlkampf gegen die Maul­korb­pflicht auftreten und feiern nicht zuletzt deswegen einen grandiosen Wahlsieg. Drei Monate nach den Wahlen gibt es Zwi­schenfälle, bei denen Personen von Hunden gebissen und teilweise schwer verletzt werden; ein Kleinkind stirbt. Eine Boulevard-Zeitung führt eine aggressive Kampagne gegen Hundehalter. Die Stimmung kippt, und bei neuerlichen Umfragen sind nun fast 70 % für eine Maulkorbpflicht. – Was tun nun die Geenpeil-Abgeordneten? Konsequenterweise müssten sie nun mit der Volksmehrheit für die Maulkorbpflicht abstimmen. Gewählt wurden sie aber auch von Maulkorb-Gegnern, weil die Geenpeil-Kan­di­da­ten im Wahlkampf gegen die Maulkorbpflicht aufgetreten sind. Von diesen Wählern bleibt die Mehrheit auch nach den besagten Vorfällen bei ihrer Meinung und ist weiterhin gegen die Maulkorbpflicht. Diese Wählergruppe fühlt sich nun verschaukelt. Und ihre Haltung zur Demokratie nimmt vor­her­sehbaren Schaden ... Die sogenannte Volksmeinung ändert immer wieder. Manchmal sogar sehr kurzfristig, langfristig aber sowieso: Was einmal un­denkbar schien, wird plötzlich akzeptiert, denken wir nur an die Einführung der AHV, ans Frauenstimmrecht, den UNO-Beitritt etc. etc.]

Geenpeil nimmt die Schweiz Demokratie als grosses Vorbild. Lässt sich diese importieren?

Zu 100 Prozent natürlich nicht. Doch die Schweiz ist eine vielfältige In­spi­rationsquelle mit vielen Elementen und Erfahrungen. Da lässt sich einiges herausbrechen und neu einpflanzen. Beispielsweise die De­zent­ra­li­sierung des Staates, die Aufwertung der Gemeinden oder die Ein­füh­rung von Volksinitiativen. Ganz allgemein ein viel grösserer Einbezug der Bürgerinnen und Bürger in die Entscheidungsprozesse.

Gab es das schon?

Sicher. In den vergangenen 125 Jahren sogar schon mehrmals. Denken Sie an die westlichen US-Bundesstaaten vor dem 1. Weltkrieg oder an Australien, Uruguay, das Baltikum in der Zwischenkriegszeit. Und seit dem 2. Weltkrieg in Bayern, Bolivien – immer wieder haben sich Demokraten von Schweizer Erfahrungen inspirieren lassen und mehr oder weniger erfolgreich Reformen in ihren Ländern versucht. Das gilt sogar für die EU, deren Bürgerinitiativrecht, der Volksmotion im Kanton Solothurn vergleichbar, es ohne das Engagement von fünf Schweizern gar nicht gäbe.

Welche Verantwortung hat die Schweiz für die Demokratie in Europa?

Eine riesige. Doch dafür hätten die Schweizer Behörden freilich schon früher merken sollen, wie positiv die Direkte Demokratie ist. Und sie könnten diesen Trumpf verfeinern und anderen besser erklären, statt ihn noch wie bis vor kurzem eher zu beklagen. Zudem müssen wir uns bewusst sein, dass wir die Demokratie nur retten können, wenn es uns gelingt, sie auch transnational – also europaweit – zu verfassen. Und dafür hilft es natürlich, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich national mit der Direkten Demokratie anfreunden und sie schätzen lernen können.


Kontakt mit Andreas Gross



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