04. März 2017

BaZ

Ein Land aus dem Lot –
die Niederlande auf der Suche nach sich selber



Eine schwierige Stippvisite in Maastricht auf der Suche nach Wahl­kämpfern, aktiven Bürgerinnen, heissen Diskussionen.

Von Andi Gross

Maastricht, die alte Kulturstadt am Fluss, liegt ziemlich genau zwischen Brüssel und Köln, in Fahrrad-Distanz zu Aachen und Lüttich, seine Re­gion Limburg bildet den Südostzipfel der Niederlande, nur dank eines kleinen Uferstreifens der Maas mit dem Mutterland verbunden; sonst umgeben von Deutschland und Belgiens beiden grossen Regionen, Wal­lo­nien und Flandern. Die feine Oberschicht sprach wie in Bern bis vor kurzem lieber französisch als holländisch, das Fussballvolk beschäftigt sich mehr mit der deutschen Bundesliga als mit Ajax oder Rotterdam.

Mehr Europa als Holland, könnte man also meinen. Deshalb aus hollän­di­scher Sicht auch der Spitzname für Limburg, beziehungsweise dessen Hauptstadt Maastricht: Unsere Euro-Loge oder der holländische Balkon auf Europa. Und dies nicht erst seit 1992, dem Jahr des nach dieser Stadt benannten berühmt-berüchtigten EU-Vertrags, der zwar den Euro aber keine europäische Demokratie gebar und den Fahrplan für die Inte­gration der zentral- und osteuropäischen Länder in die EU beschloss. Für viele Holländer bedeutet dieser Vertrag den Anfang des Endes der (klei­nen, alten, westeuropäischen) Gemeinschaft, wie sie sie schätzten und stützten.

Doch wer im holländischen Wahlkampf – am 15. März werden die 150 Mitglieder des Parlaments in Den Haag neu gewählt – das heisse Eisen Europa, beziehungsweise die EU, sucht, wird selbst in Maastricht nicht fündig. Zwar beschäftigt die EU fast jeden hierzulande. Die meisten schimpfen über sie. Einige fühlen sich in der grösseren Union verloren, andere ihr ausgeliefert. Noch mehr sind von ihr schlicht enttäuscht. Und obwohl sich das Parlament eben erlaubt hat, ein Anti-EU-Plebiszit im Gewande des unverbindlichen Referendums gegen den EU-Asso­zia­tions­vertrag mit der Ukraine einfach zu ignorieren, ist kein verbaler Aufstand zu sehen, nicht einmal ein zwei Wochen vor Neuwahlen naheliegendes revanchistisches Aufmucken.

Dabei müsste in den Mitgliedstaaten beginnen, was zu einer anderen, besseren, demokratischeren, den Bürgerinnen und Bürgern genehmeren Europäischen Union führen muss. Denn die nationalen Regierungen prä­gen die Entwicklung. Viel mehr als die Kommission, die eben wieder fünf Wegweiser, aber keine neue Richtung zur Diskussion stellte. Und wer mit der herrschenden EU nicht zufrieden ist, sollte im nationalen Wahlkampf die nationalen Minister, die diese im wesentlichen verantworten, kriti­sie­ren, zur Rechenschaft ziehen, von einer besseren Alternative über­zeu­gen - oder im Fall, dass dies nicht möglich ist, abwählen und durch neue Minister mit einem neuen, im Wahlkampf aufzuzeigenden und in den Wahlen zu legitimierenden Auftrag ersetzen.

Doch davon ist nichts zu sehen und noch weniger zu finden. Zwar scheint die zweite grosse Regierungspartei, die hier Partei der Arbeit (PvdA) genannten Sozialdemokraten, einzubrechen; gemäss konstant bleibenden Wahlumfragen haben sich zwei Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler von ihnen abgewendet. Doch die EU-Politik der Regierung dient nicht als Begründung für diese Entfremdung von der zweiten grossen historischen niederländischen Partei – die erste, die Christdemokraten, hatte es schon vor fünf Jahren erwischt; sie war damals von nicht ganz 30 % Wähleranteilen auf acht abgestürzt (jetzt liegt die CDA wieder bei elf Prozent Wähleranteil). Der PvdA wird die Koalition mit dem histo­ri­schen «Feind», den Rechtsliberalen (VDD), zum Vorwurf gemacht. Sowie sozialpolitische Rückschritte wie die Erhöhung des Rentenalters auf 67, welche die beiden durchgesetzt haben. Zwar werden auch die Rechts­li­be­ra­len dafür gestraft, doch nur halb so fest wie die PvdA, so dass vieles dafür spricht, dass sie wiederum die stärkste aller 14 (!) Parteien werden dürfte, die im neuen Parlament vertreten sein werden.

Trotz dieser ausserordentlichen Breite an Parteien mit Chancen auf einen Sitz – das niederländische Wahlrecht mit einem konsequenten Proporz­wahl­recht begünstigt diesen Pluralismus, weil das ganze Land nur einen Wahlkreis bildet, keine Sperrklausel gilt, und so 0,66 % aller Wählenden ausreichen, um einen Parlamentssitz zu ergattern - sagte mir der 55jäh­ri­ge Möbelhändler Jan im kleinen Café des Maastrichter Bahnhofes: «Bis jetzt habe ich immer PvdA gewählt, doch jetzt werde ich nicht mehr wäh­len gehen. Sie sagen doch alle etwa das Gleiche und halten alle fast nichts von dem, was sie versprechen. Mich frustriert dies total!»

Die Kioskfrau von gleich nebenan, widerspricht: «Ich bleibe trotz allem bei den Linken und gehe ganz bestimmt wählen. Ich weiss diesmal nur noch nicht, welche linke Partei es diesmal sein wird.» Denn auch davon gibt es in den Niederlanden viele und die wichtigsten von ihnen sind der­zeit in den Wahlumfragen fast alle gleich auf: Nebst der PvdA, die hier SP genannten (eher antieuropäischen) Sozialisten, die proeuro­päischen Grün-Linken, die ebenfalls linke Tier- und Senioren-Partei («50 plus»), sowie die derzeit etwas stärkere linksliberale, wirtschaftlich aber konservativ gewordene Alt-68er-Partei, die Demokratie 66.

Der kühle Blonde Geert Wilders, ist die unbekannte Grösse, die über die­ser Wahl schwebt. Er ist zwar in aller Munde und ebenso in aller Hinter­kopf. Doch wird er kaum richtig thematisiert, diskutiert und auch von kaum jemandem richtig verstanden. Wilders ist Chef einer Freiheits-Par­tei PVV genannten Bewegung. Die PVV hat nur ein einziges Mitglied, ihren Chef. Alle anderen sind bloss seine Wähler, Anhänger oder Ab­ge­ordneten; weil er die absolute Kontrolle nicht gefährden will, lässt er keine Mitglieder zu und bekommt deshalb auch nicht die juristische Anerkennung und damit finanzielle staatliche Subvention als Partei. Sein Programm reduzierte Wilders auf eine A4-Seite: Verbot des aus seiner Sicht «faschistischen» Korans, Schliessung der Moscheen, Stopp für die Zuwanderung von Muslimen, EU-Austritt und Abkehr vom Euro einer­seits. Steuersenkungen, Rentenaltersenkung, Erhöhung der Sozial­leis­tungen andererseits. Aggressiver, religiöser sozialer Nationalismus so­zu­sagen, verfassungsrechtlich unmöglich, wirtschaftlich nicht durch­ge­rech­net; nationalistisch, unmenschlich.

Wilders sitzt, ursprünglich für die rechtsliberale VVD, seit über 20 Jahren im Parlament, gründete seine islamfeindliche Bewegung vor 14 Jahren, veranlasste wegen seiner Unberechenbarkeit den von ihm geduldeten Regierungspartner VVD und dessen damaligen wie jetzigen Premier­mi­nis­ter Mark Rutte nach der Jahrhundertwende schon einmal zu vor­zei­ti­gen Neuwahlen – und dennoch vermag sich Wilders als «rettender Aus­senseiter» zu halten, als Sammler aller Enttäuschten, Verbitterten, Frus­trierten aus allen sozialen Schichten und jeglicher Provenienz – all jener, so sagt man, die sich «im eigenen Land nicht mehr zu Hause fühlen». Kontradiktorischen Diskussionen, auch am Fernsehen, entzieht sich Wilders. Er möchte nichts begründen, verweigert die Diskussion, weiss alles alleine am besten. Wenn, dann gibt es höchstens Einweg-Kom­mu­ni­ka­tion. Doch auch dies nur ganz selten.

Doch dies schmälert Wilders Zulauf kaum. Im Gegenteil: Lange hielt er sich in den Umfragen als Nummer 1. Erst letzte Woche musste er im Zehntelprozentbereich der VVD den Vortritt lassen. Für die Regierungs­bil­dung und die reale Macht ist dies freilich irrelevant. Denn niemand möchte mit ihm koalieren. «Ein ganz grosses Problem» in den Augen der jungen Sozialarbeiterin Hannah, einer überzeugten SP-Wählerin. «Denn so werden die Enttäuschten weiterhin enttäuscht bleiben und sich be­stätigt fühlen. Eine Alternative, die keine ist und auch keine werden kann.»


Kontakt mit Andreas Gross



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