29. Juni 2016

WoZ –
Die Wochenzeitung
Zürich

Wir müssen die Umwandlung der EU in eine demokratische föderalistische Republik anstreben


Wie ist die EU von links reformierbar?

So wie die Demokratie überall erkämpft worden ist, wo sie keine Folge von Kriegen war: Durch die Mobilisierung und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Die Europäische Gemeinschaft wird Gegen­stand einer europäischen demokratischen BürgerInnenbewegung für eine demokratische EU und eine europäische Demokratie. Die BürgerInnen machen deutlich, dass sie nur noch solche Parteien und KandidatInnen wählen in die nationalen Parlamente und das EU-Parlament, welche bereit sind, die Einberufung eines europäischen Verfassungskonventes zu unterstützen und auf EU-Ebene die Ablösung der EU-Verträge durch eine föderalistische europäische Bundesverfassung zu beschliessen.

In den europäischen Verfassungskonvent werden die Mitglieder direkt gewählt. Sie arbeiten eine föderalistische Verfassung aus, die von der Mehrheit der EuropäerInnen und der Mitgliedstaaten angenommen wer­den muss. In dieser Verfassung wird vorgesehen, dass die Kommission zur von den beiden Kammern des Europäischen Parlamentes gewählten Regierung wird; aus dem Ministerrat wird der Senat, in den jedes Mit­glieds­parlament je nach der Grösse des Staates zwei bis vier Senatoren wählt; die zweite Kammer besteht aus von den BürgerInnen im Proporz­wahlrecht gewählten Abgeordneten. Mit dieser föderalistischen Ver­fas­sung konstituiert sich die Europäische Gemeinschaft als föderalistische europäische Republik.

Wo sehen Sie die institutionellen Hürden, die einem Reformprozess im Weg stehen?

Die EU könnte sich in Sachen Föderalismus und demokratischer Par­ti­zipation von der Schweiz des 19. Jahrhunderts inspirieren lassen. Die grössten Hürden sehe ich vor allem im Fehlen jeglicher demokratischer Reforminstrumente. Diese waren in der Schweiz entscheidend für deren Transformation in eine Direkte Demokratie: Die meisten Schweizer Bür­ger hatten seit 1848 die Möglichkeit, die Totalrevision der kantonalen Verfassungen zu verlangen. In der EU muss ein solcher Transfor­ma­tions­artikel erst noch in die bestehenden Verträge eingehen. Dazu braucht es vor allem den Willen der Regierungen in den Hauptstädten. Deshalb muss sich die europäische Demokratiebewegung vor allem auch auf nationaler Ebene organisieren und Parlamentsmehrheiten für die Um­wandlung der EU in eine demokratische föderalistische Republik an­stre­ben.

Welchen Sozialfragen muss sich die EU dringend stellen, damit das Projekt Europa tatsächlich Sinn macht?

Es müssen direkt einklagbare Sozialrechte in der neuen europäischen Verfassung verankert werden, ohne dass die einzelnen Mitgliedstaaten aber daran gehindert werden, weitergehende soziale Rechte zu schaffen. Beispielsweise brauchen wir eine europäische Arbeitslosenversicherung, die auch von Unternehmerseite mitfinanziert wird. Und wer Banken retten will und kann, sollte auch im Stande sein die Jugendarbeitslosigkeit zu überwinden. Ebenso gehört ein europäisches Grundeinkommen zur Um- und Weiterbildung für alle ohne Lohnarbeit dazu – finanziert durch eine Promillebelastung aller Finanztransaktionen. Und es wird ein euro­pä­ischer Gemeinschaftsdienst geschaffen, der allen offen steht, die in irgendeiner Form der Gemeinschaft und der nachhaltigen Entwicklung der Natur dienen wollen. Ebenso wird ein grosser europäischer Inves­ti­tions­fonds geschaffen zur Finanzierung ökologisch nachhaltiger Mobilität – neue Eisenbahnen und Fluss- und ufernahe Schiffswege.

Aus Schweizer Perspektive: Was bedeutet der Brexit für die Schweiz ungeachtet der MEI-Verhandlungen?

Die EU wird noch prinzipientreuer die Respektierung ihrer Grundfreiheiten ein­fordern. Irgendwelche Diskriminierungen von Europäern in der Schweiz wird sie nicht dulden.

Haben Sie persönlich mit dem Abstimmungsereignis gerechnet?

Ich war Ende April beim Beginn der Leave and Go-Bewegung in Süd­eng­land als Beobachter dabei, verfolgte die Debatte sehr intensiv und war mir ­immer bewusst, dass eine Brexit-Mehrheit möglich ist. Zu viele wur­den vergessen und zu viel wurde vernachlässigt durch die Herrschaften in London und Brüssel – das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Ausser­dem befasste ich mich mit den Unzulänglichkeiten der EU schon zu lange, als dass mich der Brexit wirklich überrascht hätte. Vielmehr hat er mich in den Reform- und Renovationsbemühungen bestärkt, die wir seit 1991 mit der EUROTOPIA, der Bürger­In­nen­be­we­gung für eine euro­päische demokratische Verfassung verfolgen.

Soll die Schweiz noch immer (oder gerade jetzt) der EU beitreten?

Wer gemerkt hat, dass die Demokratie nationalstaatlich nicht mehr er­hal­ten werden kann, muss der EU beitreten wollen. Dies bedingt allerdings auch die radikal demokratische Renovation der EU. Je eher dies pas­siert, umso schneller werden wir auch in der Schweiz für die neue EU Mehrheiten finden bei Volk und Ständen.




Kontakt mit Andreas Gross



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