16. Juni 2004

Die Demokratie als unvollendete Aufgabe

Manchmal ist das uns selbstverständlich Gewordene am meisten gefährdet. Weil es uns aber so selbstverständlich erscheint, ist dies vielen von uns gar nicht bewusst. Und so merkt niemand, wenn das scheinbar Selbstverständliche eigentlich hoch gefährdet ist und unserer engagierten Zuwendung bedürfte, wenn es weiterhin gelten soll.

So scheint es derzeit der Demokratie zu ergehen. Sie ist ein vergleichsweise junges, erst etwa 200 Jahre altes politisches Konzept. Weltweit als Anspruch durchgesetzt hat sie sich erst vor 15 Jahren. Heute gibt es kaum mehr ein ernstzunehmendes politisches System, das seine Legitimität nicht aus der in einer demokratischen Wahl gefundenen Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern bezieht. Selbst autoritäre Regimes versuchen, sich heute demokratisch zu rechtfertigen; vor 30 oder 40 Jahren hätten sie den Anspruch der Demokratie, die alleinige Quelle legitimer politischer Macht zu sein, in Frage gestellt. Heute geht das nicht mehr. Die Demokratie als Grundlage legitimer Herrschaft ist selbstverständlich geworden.

Doch paradoxerweise ist die Demokratie in genau dem Moment, da sie sich als Anspruch und Referenz fast weltweit durchgesetzt hat, viel gefährdeter als den meisten bewusst zu sein scheint. Und zwar in mancherlei Hinsicht und auf ganz verschiedenen Ebenen.

Beispielsweise auf der persönlichen Ebene. Wie viele von uns haben sich aufgeregt über die deutliche Stärkung der SVP anlässlich der letzten Parlamentswahlen im vergangenen Herbst und waren zwei Monate später entsetzt über den Rechtsrutsch im Bundesrat, den das neue Parlament verantwortet? Und doch mussten sie eingestehen, dass sie im vergangenen Oktober von ihrem eigenen Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht hatten! Ob sie sich 2007 noch daran erinnern werden, dass man nicht einfach von den Anderen das Richtige erwarten darf, ohne selber das dazu beigetragen zu haben, was möglich ist?

Dass anlässlich der beiden auf diese Wahlen folgenden Volksabstimmungen die Mehrheit der Stimmenden das Ruder wieder herumgeworfen und dafür gesorgt hat, dass die Bäume der rechtsbürgerlichen Mehrheiten nicht in den Himmel wachsen, spricht für die politische Urteilsfähigkeit der Stimmenden und illustriert die Bedeutung der Direkten Demokratie. Wie dann aber einige Wirtschaftsverbände und Professoren genau diese Direkte Demokratie in Frage stellten, weil die Ergebnisse der Volksabstimmungen ihnen nicht passten, deutet darauf hin, dass auch vermeintlich Selbstverständliches nicht unbedingt so selbstverständlich mehr ist.

Ausgerechnet bei den Wahlen zum Europaparlament zeigte sich dies wieder: Wer die Demokratie heute stärken will, der muss sie auf der transnationalen Ebene stärken, wo es gilt, die wirtschaftlichen Märkte umwelt- und sozialverträglich einzubetten. Genau dies vermögen wir heute auf nationaler Ebene nicht mehr. Kann aber ein Europaparlament gestärkt werden, wenn es wie in der Slowakei von nur einem Sechstel der Wahlberechtigten oder in Polen von nur einem Fünftel, in Grossbritannien oder den Niederlanden von nur zwei Fünftel gewählt wird?

Die Demokratie bedarf heute mehr Europa so wie Europa mehr Demokratie bedarf, wenn sie beide eine Zukunft haben wollen. Ohne unser eigenes Engagement wird dies aber nicht gelingen. Beide scheinen heute so vielen als Errungenschaft selbstverständlich, sie sind aber viel fragiler und gefährdeter als uns bewusst ist. Dies sollten wir viel intensiver diskutieren und auch öffentlich erörtern. Nur so können es all die merken, deren konkretes Engagement wir nötig haben.

Andreas Gross



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