5. Sept. 2015
Journal B
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Für eine neue Zimmerwald-Konferenz
Der SP-Nationalrat und Historiker Andreas Gross hat am 4. und 5. September 2015 im Volkshaus Bern die Zimmerwald-Tagung am Laptop sitzend mitverfolgt, um sie zum Abschluss unter dem Titel «Wohin des Weges? Rückblick und Ausblick» zusammenfassend spiegeln zu können. Er begann seine Ausführungen mit dem Hinweis, er wolle aus den 26 Seiten Notizen, die er sich während der beiden Tage gemacht habe, einige Inspirationen aus dem geschichtlichen Teil der Tagung vertiefen und danach in die Zukunft blicken. Ziel heute muss aus seiner Sicht der Aufbau transnationaler Demokratie-Strukturen sein:
«Eine Lehre, die sich aus den Informationen und Diskussionen dieser Tagung für mich ergeben – auch im Wissen um die Kalamitäten der jetzigen Zeit –: ich meine, wir sollten wieder eine Zimmerwald-Konferenz organisieren.
Aus Markus Bürgis Referat über die Zweite Internationale vor dem Ersten Weltkrieg nehme ich vor allem die geschilderte Diskrepanz zwischen Programm und Wirklichkeit, zwischen revolutionärer Rhetorik und reformistischer Praxis, wie Adrian Zimmermann in seinem Referat gesagt hat, mit. Dieser Widerspruch, das Nicht-Sehen, die Nicht-Reflexion dieses Widerspruchs ist einer der Gründe des Scheiterns der Zweiten Internationalen zu Beginn des Weltkriegs – und wiederum eines unserer heutigen Probleme auch.
Zweiter Punkt: Es fand damals keine Vertiefung der Debatte statt. Ständig machte man Resolutions-Formel-Kompromisse, um eine Einheit vorzugaukeln, die letztlich aber so gar nicht bestand. Die echten Fragen wurden offen gelassen, deren Klärung spätere Niederlagen verhindert hätte. Das gilt auch heute. Wir haben viel zu schnell eine Meinung, bevor wir diskutiert haben, wie man es auch sehen könnte; bevor wir geklärt haben, ob das, was wir glauben zu wissen, tatsächlich so ist. Es gibt bis heute viel zu wenige Orte, wo solche klärenden Diskussionen geführt werden können.
Dritter Punkt: Internationalismus ist nicht angeboren, ein schönes Zitat von Markus Bürgi. Internationalismus gehörte damals zur Rhetorik, darum meinte man, der Sinn für das Internationale sei Teil der DNA der Arbeiterbewegung. Aber als es im August 1914 dann darauf ankam, handelte man national, identifizierte man sich mit der Nation, zog man fürs Vaterland in den Krieg. Das darf uns nicht mehr passieren. Aber es deutet einiges darauf hin, dass uns das wieder passieren würde - weniger in Bezug auf einen bevorstehenden Krieg, aber in Bezug auf Konflikte, die wir heute bewältigen müssen.
Bernhard Degen hat daran erinnert, dass die Konferenz von Zimmerwald einerseits der Versuch war, den Nationalismus zu überwinden. Auch heute gibt es nichts, was so deutlich sichtbar ist wie die Rückkehr und die erneute Erstarkung des Nationalismus, nationale Interessen dominieren und überschatten alles. Andererseits war die Konferenz auch der Versuch der Vermittlung zwischen Kriegführenden. Das war eine ungeheure Leistung, die unsere Anerkennung und unseren Respekt verdient. Heute ist diese Vermittlung trotz der neuen Kommunikationsmöglichkeiten nicht einfacher geworden, wie hier auch aus den Workshops ersichtlich war.
Zentral im damaligen Manifest ist die Formulierung vom Frieden ohne Annexion. Hier wurde als Forderung vorweggenommen, was man dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg und als Reaktion auf den Fehler des Friedensvertrags von Versailles von 1919 umgesetzt hat: dass man denjenigen, der verloren hat, nicht auch noch erniedrigen soll. Trotzdem hat der sogenannte Westen 1991 aber wieder wie 1918 reagiert und nach der Auflösung des Warschauer Pakts die NATO nicht ebenso abgeschafft. Damit hat er die Spaltung zwischen West und Ost perpetuiert. Das ist einer der Gründe, warum heute in Europa wieder Krieg geführt wird. Auch wenn Russland das Völkerrecht missachtet hat, müssen wir uns fragen, weshalb das passiert ist, was uns heute umtreibt.
Adrian Zimmermann hat in seinem Referat in Anlehnung an Robert Grimm noch einmal die Leistungen von Zimmerwald zusammengefasst: Wir wollen keinen Burgfrieden mit dem Kapital und mit den Patrioten. Wir wollen eine Solidarität mit jenen, die leiden, die benachteiligt sind, die zu wenig haben. Wir wollen den Aufbau eines Internationalismus, der diesen Namen verdient – wobei in der Diskussion zu Recht darauf hingewiesen worden ist, dass der Begriff Internationalismus genauer definiert werden muss, weil er von der Rechten mittlerweile auch kolonialisiert wurde. Sicher würde es heute um eine nicht-kriegerische Internationalität gehen.
Jakob Tanner hat in seinem fulminanten Referat zur Schweiz im Ersten Weltkrieg drei Punkte hervorgehoben: Erstens gibt es auch in der Schweiz Leute, die ständig am Krieg verdienen, und gegen die wir bis heute zu schwach sind, um ihnen das Handwerk zu legen. Zweitens - und das ist für mich ein Schlüsselpunkt: Demokratie gibt es bisher immer nur in nationalen Settings. Deshalb auch die Identifikation mit der Nation: Die Alternative fehlt. Und drittens ist nach dem Studium des Ersten Weltkriegs die Rolle der Medien zu hinterfragen, die in ihrer Bedeutung, in ihren Möglichkeiten zur Manipulation und Irreführung seither noch ungleich stärker und bedeutsamer geworden sind.
Als Übergang zur Frage nach zukünftigen Wegen zitiere ich einen Satz aus dem historischen Zimmerwald-Manifest, der aktueller und anregender nicht sein könnte. Die Konferenz-Teilnehmenden hätten sich zusammengefunden, steht da, «um die zerrissenen Fäden internationaler Beziehungen neu zu knüpfen und die Arbeiterklasse zur Selbstbesinnung und zum Kampfe für den Frieden aufzurufen». Die zerrissenen Fäden der internationalen Beziehungen neu knüpfen – das ist vielleicht das A und O dessen, was wir in nächster Zukunft tun müssen.
Wenn Gregor Gysi hier vom Verlorenen Primat der Politik gesprochen hat, dann hat er völlig recht. Aber weshalb ist das so? Weil die Globalisierung der Märkte die Autonomie und die Selbstbestimmung jedes Nationalstaates zur Fiktion gemacht hat. Die nationalen Demokratien werden heute immer mehr entmachtet. Und wenn wir das sagen, dann müssen wir im Sinn von Rosa Luxemburg – eine der wenigen Demokratie-Theoretikerinnen der Linken im 20. Jahrhundert – erkennen, dass erst die demokratische Verfassung den Menschen zum Bürger macht und dem Menschen zu jener Macht verhilft, die ein Bürger hat in einem demokratisch verfassten Staat. Wenn der verfasste Staat an Macht verliert, dann wird letztlich auch jeder einzelne Bürger entmachtet.
Diese Entmachtung müssen wir aber nicht einfach akzeptieren und hinnehmen. Es hat ja niemand gesagt, dass die Nationalstaaten die letzte Etappe der Demokratieentwicklung sind. Wir müssen lernen, dass die Globalisierung der Märkte auch die Globalisierung der Demokratie zur Folge haben muss. Nötig ist die Transnationalisierung der Demokratie heute bereits mindestens bis zu einer echten europäischen Verfassung. Die bisher existierenden Verträge konnte man ohne die Menschen machen, aber eine Verfassung kann man nur mit ihnen machen.
Denn die Gewalt im Sinne der Schmälerung von Lebenschancen ist die Konsequenz fehlender Demokratie, die Konsequenz ungleicher ökonomischer Verhältnisse. Diese machen andere Menschen kaputt, tun ihnen Gewalt an, weil sie deren Lebenschancen mindern, ja zerstören. Wenn wir das verhindern wollen, dann müssen wir mehr tun auf transnationaler Ebene. Wir müssen dort die demokratischen Grundrechte einrichten. Das erst verschafft uns die Macht, uns der Diktatur der Märkte entgegenzusetzen und ihnen sozial- und umweltverträgliche Grenzen zu setzen. Etwas, was kein Staat heute mehr allein kann.
Gleichzeitig stimmt es tatsächlich, was wir hier mehrfach gehört haben: Es gibt eine Krise der europäischen Linken. Wir müssen uns also auch auf dieser Ebene neu engagieren. Darum mein Vorschlag: Wir müssen uns wieder treffen, eine zweite heutige Zimmerwald-Konferenz ins Auge fassen, gesamteuropäisch repräsentativer zusammengesetzt, um diese Arbeit zu leisten. Sonst gehen Freiheit und Demokratie als Kern, als Grundlage des Friedens immer mehr verloren.
Zur Tagungseröffnung hat Fritz Brönnimann, der Gemeindepräsident von Zimmerwald gesagt, das Manifest von Zimmerwald sei eine Utopie. Das stimmt. Aber eine Utopie ist etwas, das möglich, nötig und dringend ist. Es existiert zwar noch nicht, aber es wartet darauf, dass wir etwas tun, damit wir unserer Vorstellung vom besseren Anderen näher kommen. Durch unser Handeln müssen wir die Diskrepanz zwischen dem, was sein sollte und dem, was ist, verkleinern.
Doch Ihr könnt diese Arbeit nicht einfach einer Partei, einer Gruppe oder irgendwelchen Chefs überlassen. Was nötig ist, gelingt nur, wenn sich jeder und jede von Euch auf den entsprechenden Weg macht. Und vergesst nicht: Auch lange Wege beginnen mit ersten kleinen Schritten. Diese könnt auch Ihr tun. Tut es. So kann uns gelingen, was heute mehr als dringend ist. Versuchen wir es, so wie es die Zimmerwalder versucht haben. Vielen Dank.»
Das Statement wurde leicht gekürzt. Transkription und Redaktion: fl.
Berichterstattung zur Zimmerwald-Tagung im Journal B:
1.
Gegen Entstaatlichung und Krieg
2.
Kann die Linke aus ihrer Geschichte lernen?
Kontakt mit Andreas Gross
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