15. April 2016

BaZ

Britischer Showdown um die EU-Mitgliedschaft


Der Abstimmungskampf um das Brexit-Referendum
vom 23. Juni hat begonnen


High-Noon in der gediegenen südenglischen Küstenstadt Bourne­mouth, Heimat der britischen Konservativen, wo diese bei den letzten Wahlen vor einem Jahr zusammen mit den Nationalisten von UKIP über 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger überzeugen konnten: «GO!» ist dunkelgrün in riesigen Buchstaben an die Wand hinter der Bühne des grössten Saals des sehr modernen Kongresszentrums projiziert. Und wenn immer sich einer der Redner auf den Weg zum Pult auf der Bühne macht, ertönt überlaut die Titelmelodie von Bo­nan­za, der erfolgreichsten TV-Western-Serie der europäischen Fernseh­geschichte.

Zwar liegt der Erfolg von Bonanza schon Jahrzehnte zurück. Die TV-Serie brachte es in aller Welt auf 431 Folgen zwischen 1959 und 1973. Doch dem Publikum ist dies egal. Es ist alt genug. Grau dominiert die Haartrachten im 700köpfigen Publikum in Bournemouth. Es wippt und schmunzelt jedes Mal, wenn die Banjo-Riffs ertönen. Es weiss, der Ga­lopp gilt nicht irgendwelchen Eindringlingen, sondern der Euro­pä­isch­en Union (EU) – oder soll es glauben, das sei Hans was Heiri? Verteidigt wird keine Goldgrube, sondern Grossbritannien – für die meisten An­we­senden der Glücksfall – eine zweite mögliche deutsche Übersetzung von Bonanza. Oder sind auch hier die Assoziationen egal oder gar gewollt?

Es geht zwar um keine Schlacht, sondern um das Referendum vom 23. Juni. «Go» steht für den Start in die Kampagne, für das grüne Licht: Los! Wie beim Fussgängerstreifen, wenn die Ampel auf Grün schaltet. Go steht auch für «Go out of Europe» (raus aus der EU), jetzt geht’s los, machen wir uns auf den Weg in die Unabhängigkeit. Nicht wie die Cartwrights mit Flinten und Pistolen, aber mit dem Stimmzettel. Und schliesslich: Go out to vote, geh abstimmen, vergiss nicht, auch wirklich abstimmen zu gehen.

«GO» steht aber auch für den Namen der Basisorganisation Grassroots 0ut, der Organisatoren des Bonanza-Meetings in Bournemouth. Sie be­müht sich wie die Konkurrenz von Leave (Wir gehen!) um den Status als offiziell anerkannte zivilgesellschaftliche Organisation zum Austritt Grossbritanniens aus der EU. Der Entscheid von der offiziellen und unabhängigen Wahl-Kommission Grossbritanniens wird dieser Tage erwartet. Der Entscheid ist deshalb sehr bedeutsam, weil die aner­kannte Organisation jene sieben Millionen Pfund (etwa 9,34 Millionen Schwei­zer Franken) bekommt, welche die Regierung der Exit-Kam­pag­ne zur Verfügung stellt – jenen also, die anders als die Mehrheit in Regierung und Parlament einen Austritt Grossbritanniens aus der EU befürworten. Eine öffentliche Investition in die Chancengleichheit von Pro & Contra. Jede Seite sollte ausreichend Mittel zur Verfügung haben, um ihren Standpunkt deutlich und hörbar zu machen.

Massiv verärgert sind viele freilich ob dem Entscheid der Regierung, für das Abstimmungsbüchlein an die etwa 28 Millionen britischen Haus­hal­te zwar 9 Millionen Pfund (12 Millionen Schweizer Franken) auszu­ge­ben, es aber nicht kontradiktorisch zu gestalten. Cameron beschränkt die offizielle vierzehnseitige Broschüre auf den amtlichen Standpunkt der Befürworter einer weiteren EU-Mitgliedschaft. «Staats- Propaganda zu Lasten», aller schimpfen die Einen. Andere meinen, dass das, was die Regierung als Fakten darstellt, nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Cameron entgegnet: «Ich will nicht, das irgendeiner an die Urne geht, ohne zu wissen, was die Regierung denkt. Das ist richtig und nötig!»

Das sogenannte Brexit-Referendum vom 23. Juni ist im schwei­ze­ri­schen Demokratieverständnis eigentlich kein Referendum sondern ein Plebiszit, eine von oben (Präsident/Regierungschef) angesetzte ver­bind­li­che Volksbefragung. Denn es geht nicht um eine Volks­ab­stim­mung zu einem Verfassungstext oder einem Gesetz, die gemäss Ver­fassung obligatorisch oder in Folge der Sammlung von Unter­schrif­ten von Bürgerinnen und Bürgern erfolgt. Die britische Volksabstimmung erfolgt nur, weil sie der konservative Premierminister David Cameron wollte. Auch die Frage, welche die Stimmberechtigten zu beantworten haben, wird von der Regierung formuliert und bezieht sich nicht auf ein neues Gesetz oder ein anderes Dokument (eine schriftliche Verfassung hat das Vereinigte Königreich ohnehin nicht, sie besteht nur in Form der mündlichen Überlieferung). Cameron möchte mit diesem Volks­ent­scheid den bitteren Zwist um die EU beenden, der seit 20 Jahren seine Partei, die britischen Konservativen, beherrscht und fast lahmt legt.

Die Quelle dieses Streits ist unklar und wohl auch vielfältig. Viele be­haup­ten, die Anhänger von Margaret Thatcher, der Lichtgestalt der britischen Konservativen der vergangenen 40 Jahre, hätten es nie über­winden können, dass diese von der konservativen Euro-Fraktion im No­vember 1990 aus dem Amt gedrängt worden sei. Andere meinen, viele Konservative hätten sich nie mit dem Transfer eines Teils der britischen Souveränität nach Brüssel abgefunden. Dieser Teil ist über die Jahre in der Partei im­mer grösser und dominanter geworden, zumal die EU im­mer mehr wurde als ein gemeinsamer Markt, den die Briten 1975 bei ihrem ersten Plebiszit nach dem EU-Beitritt von 1973 befürwortet hat­ten. EU-Kritik ist innerhalb der konservativen Partei zum primären Be­urteilungskriterium von Kandidaten und Amtsinhabern geworden. Ein Druck, dem Cameron glaubte nur standhalten zu können, indem er vor einem Jahr im Wahlkampf versprach, im Fall eines Wahlsieges in der neuen Amtszeit auch ein Plebiszit anzusetzen zur weiteren Mitglied­schaft Grossbritanniens in der EU.

Von den derzeit 330 konservativen Parlamentariern im britischen Par­la­ment, dem House of Commons, befürworten derzeit mindestens 140 den Austritt aus der EU; sogar sechs Mitglieder von Camerons Re­gie­rung gehören dazu. Einer von ihnen ist Connor Burns, der Abgeordnete von Bournemouth. Er holte sich am Bonanza-Meeting den grössten Applaus, als er ausrief: «Das Parlament hat das Recht, die Briten zu regieren, an Leute in Brüssel abgegeben, die wir weder wählen noch abwählen können!» 1975 hatte der damalige konservative Premier­mi­nister Edward Heath vor dem ersten Referendum ausdrücklich ver­sprochen, nationale Souveränität gehe mit dem EG-Beitritt, damals hiess die EU noch Europäische Gemeinschaft (EG), keine verloren. Connor Burns: «Das hat sich als falsch erwiesen. Deshalb wollen wir wieder raus! Wir wollen uns wieder selber regieren!» Burns machte auch deutlich, dass er keinen Widerspruch erkenne zwischen einem offenen Handel, den er auch ohne EU stärken möchte, und ge­schlos­senen Landesgrenzen, an denen die EU ihn hindere.

Der jüngste Abgeordnete der Konservativen, Thomas Pursglove (27) aus Northampton, dürfte auch einer der jüngsten Teilnehmer des Bo­nanza-Meetings sein. Auch er will Macht zurück, die Grossbritannien mit dem EU-Beitritt an Europa verloren habe. Die Macht beispielsweise, die Stahlindustrie zu retten, die in Pursgloves Heimat Tausenden von Menschen Arbeit gebe und die wegen der aufgrund von EU-Regu­lie­run­gen hohen Energiepreise drohe auszuwandern. Er verteidigt die Stahl­industrie auch als Kern der eigenen Rüstungsindustrie und schreckt sogar vor der temporären Übernahme durch den Staat nicht zurück – um sie anschliessend geordnet und intakt an einen verlässlichen pri­vaten Industriellen wieder verkaufen zu können. Sein Appell: «Rettet die Industrie, raus aus der EU!»

Die einzige Frau auf dem Bonanza-Podium von Bournemouth ist auch die einzige Linke. Kate Hoey, ursprünglich aus Nord-Irland und seit 27 Jahren aus Vauxhall für die sozialdemokratische Labour-Partei im Par­la­ment. Dort gehört sie zu den sieben Labour-Abgeordneten, welche Brexit unterstützen, während 207 in der EU bleiben wollen. Hoey, unter Tony Blair Sportministerin, meint, die EU hätte die Demokratie ent­haup­tet. Von einem sozialen Europa könne heute keine Rede sein; die Rech­te der Gewerkschaften seien geschmälert worden. Sie will auch von den Vereinigten Staaten von Europa nichts wissen, dem heimlichen Ziel der EU – alleine, so rief Hoey in den Saal, würde es Gross­bri­tan­nien besser gehen.

Der zweite lokale Parlamentarier, Chris Chope aus Christchurch, der an Bournemouth angrenzenden Hafenstadt, sowie der Chef der Unab­hän­gigkeitspartei (UKIP), der Europaparlamentarier Nigel Farage, brachten dann auf den Punkt, was offenbar der grösste Teil des Bonanza-Pub­li­kums umtreibt und vom EU-Austritt erwartet: Die Reduktion der Zahl der Immigranten, das Ende des freien Personenverkehrs zwischen der EU und der Insel. Ähnlich wie Trump fragte Farage das Publikum rhe­torisch «Do you want your country back?» Und Chope meinte: «Wir haben zu viel Immigration. Mehr als 100'000 pro Jahr dürfen es nicht sein. Deshalb müssen wir raus aus der EU!»

Die Veranstaltung in Bournemouth zeigte, dass Grossbritannien ein heisser, schwieriger politischer Frühling bevorsteht. Neun Wochen vol­ler Thesen, Widerspruch und neuen Behauptungen. In einem Land, in dem die Menschen nicht gewohnt sind, öffentlich zu streiten um eine höchst komplexe Sachfrage und Andersdenkende zu überzeugen. Der frühere konservative (pro-europäische) Parteichef Lord Patten sagte dazu: «Das ist eine Eiterbeule, die sich seit 20 Jahren füllt, und von der wir uns nicht wundern sollten, dass sie nun derart aufbricht.» Während der frühere Aussenminister David Milliband (Labour) meinte: «Die Welt ist heute zunehmend geteilt zwischen Brandstiftern und Feuerwehr­leu­ten. Grossbritannien gehörte jahrzehntelang zu den Feuerwehrleuten. Jetzt sollten wir nicht plötzlich Brandstifter werden und die inter­na­tio­na­le Ordnung in Brand setzen.»


Kontakt mit Andreas Gross



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