2. Nov. 2015

Deutschlandradio

Wenn Erdogan zu weit geht, wird es gefährlich


Parlamentswahl in der Türkei: Wahlbeobachter Andreas Gross
im Gespräch mit Korbinian Frenzel


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Ein paar Monate warten hat sich für die islamisch-konservative AKP ge­lohnt: Sie hat überraschend die absolute Mehrheit bei den Wahlen in der Türkei geholt. Ein Wahlbeobachter des Europarates spricht von frei­en Wahlen - und setzt trotzdem ein großes Fragezeichen.

Andreas Gross, Präsident der Ad-hoc-Kommission des Europarates zur Wahlbeobachtung in der Türkei, hat die dortige Parlamentswahl am Wo­chenende sehr kritisch bewertet. Im Deutschlandradio Kultur sagte der Schweizer Sozialdemokrat, zwar sei die Abstimmung frei gewesen in dem Sinne, dass die Menschen die freie Wahl zwischen ver­schie­de­nen Parteien gehabt hätten. Von Fairness könne aber nicht die Rede sein, sagte Gross. Die Qualität des Ergebnisses einer Wahl hänge immer von der Qualität des Prozesses ab, der zu der Wahl geführt habe, sagte er. Und da müsse man hinter die Parlamentswahl in der Türkei ein großes Fragezeichen setzen.

Seit der ersten Wahl im Juni habe es viel Gewalt gegeben, Journalisten seien eingeschüchtert, Zeitungen und TV-Sender dichtgemacht wor­den, kritisierte er. Das habe auch zu Selbstzensur geführt. Die Gewalt habe zudem zur Folge gehabt, dass bestimmte Parteien keine Kund­gebungen mehr unternommen hätten, Parteibüros seien zerstört wor­den. Gross forderte den türkischen Präsidenten Erdogan auf, die Ge­walt zu stoppen und den Friedensprozess mit den Kurden wieder auf­zunehmen. Es komme jetzt darauf an, was Erdogan mit der ab­so­lu­ten Mehrheit mache. Mehrheiten hätten in einer Demokratie immer auch die Verpflichtung, auf Minderheiten zu hören, betonte der Schweizer Nationalrat.

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Korbinian Frenzel: Es geht häufig schief, wenn Politiker hoffen, durch Neu­wahlen angenehmere Ergebnisse zu bekommen. Für Recep Tayyip Erdogan und seine AKP gilt das nicht – sie haben bei den türkischen Par­la­mentswahlen fast 50 Prozent der Stimmen bekommen, drei Mil­li­onen mehr als im Juni, und sie haben damit wieder eine komfortable eigene Mehrheit im Parlament. Ergebnis einer Wahl, die international genauestens beobachtet wird, politisch, publizistisch, aber auch ganz konkret durch Wahlbeobachter. In Ankara ist am Morgen die Ad-hoc-Kommission zur Wahlbeobachtung zusammengekommen, die der Eu­roparat in die Türkei geschickt hat, und ich spreche jetzt mit dem Prä­si­denten dieser Kommission, dem Schweizer Sozialdemokraten und Mit­glied der parlamentarischen Versammlung des Europarates Andreas Gross. Guten Morgen nach Ankara!

Andreas Gross: Guten Morgen, Herr Frenzel!

Frenzel: Bevor wir die Wahlen in ihren Ergebnissen bewerten – war es denn, nach Ihren Beobachtungen, eine freie, war es eine im vollen Wort­sinne eine demokratische Wahl?

Gross: Frei heißt ja, dass die Bürgerinnen und Bürger die ver­schie­de­nen möglichen Optionen zur Verfügung haben und das kann man sa­gen, das hatten sie zwischen der HDP, der kurdischnahen Partei, die heute aber eine linksliberale Partei aller Türken ist, bis zu den AKP, zu den Nationalisten, über die Sozialdemokraten, da hatten sie diese Aus­wahl. Aber wichtig ist noch das zweite Adjektiv, dass sie ordentliche Wahlen haben sollten, nämlich die Fairness des Prozesses, und davon kann meiner Meinung nach nicht die Rede sein, weil seit der ersten Wahl im Juni gab es ganz viel Gewalt, ganz viele Aggressionen, Ein­schüchterung von Journalisten, auch die Zeitungen wurden zugemacht, Fernsehen zugemacht, Leute wurden eingeschüchtert, es gab viel Selbst­zensur und die Attentate. Die Gewalt hatte zur Folge, dass ge­wisse Parteien gar keine Kundgebungen mehr machten, Mitglieder gewisser Parteien wurden eingeschüchtert, deren Parteibüros zerstört, sodass man – von einem fairen Prozess, der zum Sonntag führte, kann nicht die Rede sein. Die Qualität des Ergebnisses hängt immer von der Qualität dieses Prozesses ab, und da muss man Fragezeichen setzen.

Frenzel: Wenn wir uns jetzt dieses Ergebnis anschauen, eines bringt es immerhin: Klare Verhältnisse. Ist das allein für die Türkei vielleicht in die­ser schwierigen Lage das Beste, was ihr passieren konnte?

Gross: Das ist eine ganz politische Frage. Persönlich würde ich nicht sagen, das ist das Beste, weil das Land ist heute gespalten, und die AKP hat lange Zeit – sie ist ja 2002 an die Macht gekommen –, hat ja integriert und hat auch einen kurdischen Friedensprozess versucht auszulösen und zu gestalten, und der war integrierend. Heute ist das Land gespalten, und es ist so, dass jetzt die absolute Mehrheit im Par­lament bei der AKP liegt, aber es kommt jetzt drauf an, was Erdogan, der Präsident, mit dieser absoluten Mehrheit macht. Wenn er zu weit geht, dann ist es gefährlich, und dann nicht komfortabel für die Türkei, wie Sie gesagt haben.

Frenzel: Was raten Sie, was sollte er machen, was sollte er nicht ma­chen?

Gross: Er sollte sich bemühen, jene, die er heute verloren hat, wieder zu integrieren. Das heißt, er sollte die Gewalt stoppen, den Friedens­prozess wieder aufnehmen, und er sollte vor allem auch auf jene hören, die nicht gewählt haben und sie nicht ausschließen und nicht einfach die De­mokratie auf die Zahl, die Mehrheit, reduzieren, sondern die De­mokratie ist immer eine Teilung der Macht, und die Mehrheit hat die Mehrheit, aber sie hat die Verpflichtung, auch die Minderheit zu hören, und das muss er ganz anders machen als er das in den letzten zwei, drei Jahren gemacht hat. Das hat er ein bisschen verlernt, und es könn­te die Hoffnung sein, dass ihm diese beiden Wahlen dieses Jahres, mit diesen nicht einfachen Ergebnissen, ein Hinweis sein sollten, hier da­zu­zu­lernen. Wobei, Politiker, Parteien ist immer schwierig – sie lernen sel­ten, wenn sie gewinnen. Sie lernen eigentlich nur, wenn sie ver­lie­ren, und demgemäß ist das vielleicht ein bisschen zu idealistisch, was ich gesagt habe.

Frenzel: Das heißt, Ihre Hoffnung ist gering. Die Frage ist natürlich, wel­che Rolle kann da ein Europarat spielen? Ich merke, Sie sind zurück­hal­tend, Sie haben ganz klar eine eigene Meinung, aber der Europarat muss ja zunächst erst mal neutral auf dieses Ergebnis schauen und sagen, Erdogan, machen Sie etwas daraus.

Gross: Der Europarat ist das eine, das ist die Organisation der 47, wo die Türkei seit Langem dabei ist – drei Monate nach der Gründung 1949 sind sie schon beigetreten –, und man muss auch sagen, für die Menschenrechte und die Demokratie hat Erdogans Partei vor allem in der ersten Halbzeit ihrer Regierungszeit sehr viel gemacht, viel mehr als die anderen. In der letzten Zeit gibt es wieder Regressionen in Be­zug, wie gesagt, auf die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, auch die Versammlungsfreiheit. Da muss er kritisch bleiben und er muss das anmahnen und er muss die Türkei daran erinnern, was unsere Stand­ards sind. Und auf der anderen Seite geht es vor allem auch um die Eu­ropäische Union, weil in der ganzen Flüchtlingspolitik sind wir auf die Türkei angewiesen. Wir müssen und sollen auch mit ihr zusammen­ar­bei­ten, aber wir dürfen vor diesem Angewiesensein nicht kapitulieren, vor unserer Aufgabe, Erdogan vor allem, die Mehrheit der Macht, an die Grundsätze, an die Menschenrechte zu erinnern, die gerade auch dann notwendig sind, wenn es schwierig ist, auch wenn man selber die Macht und die Tendenz hat, diese Minderheitenrechte zu übersehen.

Frenzel: Der Präsident der Wahlbeobachtungskommission des Euro­parates live aus Ankara, Andreas Gross. Ich danke Ihnen für das Ge­spräch!

Gross: Gern geschehen! Auf Wiedersehen, Herr Frenzel!


Kontakt mit Andreas Gross



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