5. Nov. 2015

Zaman Isvicre/Schweiz

Ich hoffe, Erdogan findet zur Weisheit zurück


Die Fragen stellte Borhan Bas.

Können Sie bitte die Wahlen in der Türkei aus demokratischer Sicht beurteilen?

Die letzten fünf Wochen waren so sehr von der Gewalt, der Aggression, der Einschüchterung und der Angst geprägt, dass von fairen Bedin­gun­gen für den Wettbewerb und der Meinungsbildung keine Rede sein kann. Es fand eine demokratische Regression statt. Die Wahlen waren vielleicht frei im Sinne eines umfassenden Angebotes zwischen ver­schie­densten politischen Optionen; doch der Prozess, der zur Wahl führte, war unfair. Und es ist immer die Qualität dieses Prozesses, der über die demokratische Qualität von Wahlen entscheidet.

Kann man noch von einer demokratischen Wahl sprechen; wenn regie­rungskritische Medien übernommen und kurz vor der Wahl, grosse Sicherheitslecks im ganzen Land entstanden sind?

Nein, nur noch sehr beschränkt. Wie gesagt, die Demokratie erodierte. Nicht gegen Null, doch die Erosion war zu gross. Deshalb kam der Wahl die Fairness abhanden, die sie braucht, um fair zu sein. – Übri­gens, damit wir uns nicht falsch verstehen, auch die schweizerischen Wahlen vom 18. Oktober halte ich für unfair; freilich aus anderen Gründen und auf einem anderen Niveau.

Die grosse Anzahl an Parteien und die vielen politischen Akteure wei­sen auf eine demokratische Wahl hin. Jedoch waren die Oppositions­par­teien in der öffentlichen Wahrnehmung kaum erkennbar. Die Staatssender TRT und die regierungsnahen Medien berichteten stets über die AKP und Erdogan. Darauf wurden kurz vor den Wahlen die regierungskritischen Medien eingenommen bzw. eingeschüchtert. Inwiefern hat der Mangel an Pressefreiheit die Wahlen beeinträchtigt?

Der Verlust der Pluralität der Öffentlichkeit war eine wichtige Kompo­nen­te dieser Erosion der demokratischen Substanz; von einem öf­fent­lichen Medium wie TRT eines sein sollte, kann keine Rede sein; er ist nicht mal ein Staatssender, sondern ein Regierungssender, ein Mehr­heitssender, auch das ist etwas anderes. Dazu kam die Einschüch­te­rung Andersdenkender. Aus Wettbewerbern wurden Feinde, aus Rivalen Feinde; dabei braucht man die Andersdenkenden, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Demokratie ist eben viel mehr als nur ein Zählrahmen; das ist das, was gewisse US-Wissenschaftler als illiberale Wahldemokratie bezeichnen, wobei die Wahlen auf das Wählen und das Zählen der Wähler reduziert werden.

Kann man unter diesen Umständen von einer diktatorischen Atmo­sphä­re sprechen?

Das geht mir zu weit. Ich würde von autoritären Tendenzen reden mit der Gefahr, in eine Autokratie zu verfallen. Dies gilt es zu verhindern. Jetzt muss Erdogan wieder zum Staatsmann werden; vielleicht erlaubt ihm der Sieg, ausnahmsweise klüger zu werden, wieder zu hören, zu lernen und zu integrieren, was er seit zwei Jahren auseinander­ge­trie­ben hat. Dann wäre er zwar eine Ausnahme von der Regel, doch ich habe die entsprechende Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Sie waren schon an vielen Wahlen als Beobachter beteiligt. Können Sie die Atmosphäre der Wahl vom vergangenen Wochenende mit einem anderem Land vergleichen?

Im Detail ergäbe dies ein ganzes Buch. In vielen Regionen des Süd­ostens regierte gleichsam das Militär, Sicherheitszonen wurden ein­gerichtet, die freie Bewegung war eingeschränkt, es konnten keine Ver­samm­lungen abgehalten werden. Die Attentate waren erneute Quellen grosser Verunsicherung und Angst. Dazu kam die aggressive Kam­pag­ne gegen kritische Medien und Journalisten, einige TV-Kanäle wurden geschlossen, Zeitungen enteignet und umgedreht, es war mehr ein Krampf statt ein demokratischer Kampf, der Präsident und die AKP dominierten, die HDP wurden schwer beeinträchtigt und einge­schüch­tert, die CHP verzichtete fast auf eine Kampagne. Von fairen Wett­be­werbsverhältnissen keine Spur.

Wie beurteilen Sie die nächsten Monate für die Türkei?

Das kann keiner vorhersagen. Ich hoffe, Erdogan findet zur Weisheit zurück und damit zur Einsicht, dass der Friedensprozess wieder auf­genommen und neu eingerichtet werden kann. Nur so findet die Türkei zum inneren Frieden und damit zur inneren Stärke. Das ist wohl die grösste Herausforderung.

Wie werden die Beziehungen der europäischen Partner - wie die EU - zu einer Regierung, die Pressefreiheit ersticken lässt?

Die EU muss deutlich sagen, was den Prinzipien der EMRK wider­spricht und was sie nicht akzeptieren kann. Gleichzeitig muss sie der Türkei und Erdogan aber auch die gebührende Wertschätzung ent­gegenbringen und sie in vielen Prozessen und Schwierigkeiten in vie­lerlei Hinsicht unterstützen. Diese konstruktiv kritische Aufgabe ist auch für die EU eine Herausforderung, die viel Feingefühl und Empathie erfordert.


Kontakt mit Andreas Gross



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