23. Okt. 2015

TagesWoche
Basel

XVI. Demokratie-Kolumne

Der Lohn der Angst und
die Folge fehlender Reflexion



«Mit der Wahrheit gewinnt man keine Stimmen», sagte der Zürcher Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Peter von Matt, zwei Tage nach den Wahlen in den National- und Ständerat vom ver­gangenen Wochenende. in einem Beitrag zur Erklärung des Aus­gangs dieser Wahlen. Lebt die Demokratie also von der Lüge?

Als der Fraktionschef der Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Na­tionalrat, Adrian Amstutz, am Sonntagabend gefragt wurde, wie er sich Zugewinn von 11 SVP-Sitzen in der grossen Kammer erkläre, meinte er, das sei die Folge von drei Entwicklungen, mit denen die Schweizer nicht einverstanden seien und welche die SVP bekämpfe: Erstens wollen die meisten im Bundeshaus schleichend der EU beitreten; zweitens herrsche in der Schweiz ein Asylchaos und drittens fehle es im Bundeshaus an der Bereitschaft, angenommene Volksentscheide auch gesetzlich umzusetzen.

Wie steht es um die Wahrhaftigkeit der drei Entwicklungen, mit denen der Berner Oberländer sich seinen Sieg erklärt? Schlecht. Denn im Bun­deshaus will längst fast keiner mehr der EU beitreten. Und «schlei­chend» geht dies ohnehin nicht. Es bräuchte dazu ein ausgespro­che­nes Ja der Mehrheit aller Schweizer Stimmberechtigten und aller Kan­tone. Zweitens herrscht im Schweizer Asylwesen kein Chaos. Zwar ist auch in der Schweiz die Zahl der Asylsuchenden gestiegen. Doch die Empfangszentren stehen bereit, die Aufnahmeverfahren funktionieren, von einem Chaos ist nichts zu sehen. Drittens haben National- und Ständerat in der vergangenen Legislaturperiode tagelang um die Um­setzung angenommener Volksinitiativen in dem Rahmen gerungen, wie er von der Bundesverfassung vorgegeben wird und zu beachten ist; von einer Bundesverfassung notabene, die auch nur deswegen gilt, weil ihr die Mehrheit der stimmenden Stimmberechtigten und der Kan­tone zugestimmt hatten. Auch von einer Missachtung des Volks­wil­lens kann also keine Rede sein.

Lügt folglich Adrian Amstutz, nach den Wahlen zur Erklärung seines Er­folges wie vor den Wahlen, als er den Bürgerinnen und Bürgern diese seine Sicht der Dinge nahelegen wollte? Lügen setzt den Vorsatz zur Lüge voraus. Das heisst, Adrian Amstutz würde nur lügen, wenn er weiss, dass das, was er behauptet, nicht der Wahrheit entspricht. Doch möglicherweise glaubt er tatsächlich, was er sagt. Und weil gleichzeitig seit Hunderten von Tagen die gleichen Behauptungen an vielen Pla­ka­ten zu sehen und in unzähligen täglichen Inseraten zu lesen sind, hal­ten auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger diese Behauptungen für Tatsachen. So wie jene Frau, die am Montagmorgen auf dem Berner Theaterplatz gegenüber dem Radioreporter sich als SVP-Wählerin zu erkennen gab und dies damit begründete, das seien doch jene, die mit dem «Chaos in der Asylpolitik» aufhören wollten. Von Amstutz darf man – wer eigentlich? – verlangen, dass er herauszufinden vermag, wie es wirklich ist und dann nur sagt, was ist. Von dieser Frau kann man dies nicht behaupten, denn wir wissen nicht, welche Informationsmittel ihr zur Verfügung stehen, aufgrund derer sie beurteilen kann, ob stimmt, was offensichtlich so mannigfaltig behauptet wird.

Persönlich bin ich überzeugt davon, dass Adrian Amstutz genau weiss, dass seine Behauptungen so nicht den Tatsachen entsprechen. Einige im Bundeshaus, mehr Diplomaten als Politiker, mehr Linke als Rechte, aber auch Freisinnige oder Christdemokraten, wollen zwar in die EU, aber das ist keineswegs die Mehrheit. Amstutz aber fürchtet, es könnte mal eine Mehrheit werden. Zweitens weiss er, dass in der Schweiz bezüglich Asyl kein Chaos herrscht. Aber niemand garantiert, dass es nie zum Chaos kommen könnte. Zumal wenn plötzlich alle, die sich derzeit aus Griechenland gegen Norden auf den Weg machen, plötzlich in die Schweiz kommen wollten, statt nach Deutschland oder Schwe­den. Drittens weiss Amstutz um das parlamentarische Ringen zur kor­rekten Umsetzung des in Abstimmungen über ambivalente Volks­ini­tia­ti­ven zum Ausdruck gekommenen, zeitweiligen Willens einer Mehrheit der Abstimmenden, der simplerweise grad mit dem ganzen Volk gleich­gesetzt wird. Doch weil er weiss, dass es so nicht geht, wie er will, unterstellt er allen, sie wollten es gar nicht richtig machen. Und weil dies alles eh sehr kompliziert ist und wenige um die menschenrechtlich und überstaatlich gesetzten Grenzen der Einschränkung der Grund­rech­te auch zweifelhafter Teile der Gattung Mensch wirklich Bescheid wissen, geht Amstutz davon aus, dass wohl nur wenige wissen, wie weit er sich von der Wahrheit entfernt und diese Wenigen kaum potentielle SVP-Wähler sind und deshalb eh ignoriert werden können.

Amstutz lügt also nicht einfach, weiss aber durchaus, dass er nicht ganz die Wahrheit sagt. Entsprechend der alten Kritik an der Propa­ganda, wonach die Halbwahrheit schlimmer ist als die Lüge. So lautet meiner Ansicht die für die Qualität der Demokratie und die Qualität der Wahlentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger entscheidende Frage vielmehr: Weshalb glaubt Amstutz, dass sich diese Falschmünzerei lohnt und er sie sich leisten kann? Antwort: Amstutz hat erfahren, dass ihm öffentlich kaum einer mehr widerspricht, wenn er Halbwahrheiten oder ganze Lügen verbreitet. Beziehungsweise, dass der Widerspruch, der ab und zu doch noch zu hören ist, nicht wirkt, sich nicht durch­set­zen kann. Jene, die widersprechen, die kann Amstutz als Parteigegner, Träumer oder Uneinsichtige oder alles zusammen einfach abtun. Jene, die er nicht ignorieren könnte, widersprechen nicht. Die meisten Me­di­en, vor allem in der Deutschschweiz, beschränken sich auf die Weiter­gabe dessen, was Amstutz behauptet. Sie entlarven es nicht als Halb­wahrheit oder Lüge. Sie organisieren nicht den Widerspruch und neh­men sich die Zeit und den Raum und die Diskurspartner, die es braucht, um sich wirklich der Wahrheit und der Wirklichkeit anzunähern, so dass auch jene, die nicht so viel Kraft und Zeit investieren können in die Beurteilung der Wirklichkeit, dem Trugbild Amstutz nicht auf den Leim gehen, selbst wenn es mit viel Geld bis zum Überdruss als Irrweg feil gehalten wird.

Ein anderer Kommentator meinte nach den Wahlen: «Wir haben Angst mit Hoffnung geschlagen, Zynismus mit harter Arbeit und Negativität mit einer positiven Vision, die alle Kanadier zusammenbringt.» Er mein­te Wahlen, die am vergangenen Montag, nicht am letzten Sonntag statt­fanden; nicht in der Schweiz, sondern in Kanada; er war ein links­liberaler, kein nationalkonservativer Sieger, er heisst Justin Trudeau und nicht Adrian Amstutz, er kommt aus Montreal und nicht aus Sig­ris­wil, er war Minister für Multikulturelles und nicht Baumeister. In Kanada fand Trudeau die Öffentlichkeit und die Medien, die es braucht, um die Angst zu widerlegen und die Hoffnung zu rechtfertigen, den Zynismus zu entlarven, die Negativität zu widerlegen und positive Utopien zu entwickeln. In der deutschen Schweiz ist uns diese kritische Öffent­lichkeit abhandengekommen. Sie muss erst wieder aufgebaut werden, wenn wir die Lüge von der Halbwahrheit und diese von der Angst und der Angstmacherei unterscheiden lernen möchten.


Kontakt mit Andreas Gross



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