15. Okt. 2015

PS Zürich

Die Demokratie wird zunehmend entmachtet


Andreas Gross blickt im Gespräch mit Nicole Soland auf 24 Jahre Nationalrat zurück – und verrät, was er als nächstes anpacken will.

Wie schwer fällt Ihnen der Abschied vom Bundeshaus, von der aktiven Teilnahme an der Politik?

Andreas Gross: Mittlerweile hat Erleichterung den Schwermut abgelöst. Doch bis Ende November bin ich offiziell im Amt; ich habe noch eine Sitzung der staatspolitischen Kommission vor mir sowie zwei Sitzungen der aussenpolitischen Kommission. Meine Zeit im Europarat geht erst am letzten Montag des Januar 2016 zu Ende, und als Wahlbeobachter amte ich letztmals am 1. November anlässlich der Wahlen in der Tür­kei. Zur Vorbereitung war ich letzte Woche vier Tage dort; seit 1995 war ich an 90 Wahlbeobachtungen dabei und enorm viel gelernt und erfahren. Die letzte in der Türkei wird allerdings schwierig.

Weshalb?

Die Wahlen vom 1. November finden nur statt, weil das Resultat der Wahlen vom 7. Juni dem Präsidenten Erdogan nicht gefallen hat. Er hat damals das absolute Mehr verloren, seither herrscht schon fast wieder Krieg mit den Kurden, kritische JournalistInnen werden bedroht, beim jüngsten Anschlag auf eine Friedensdemo starben über 100 Menschen. Es gibt besondere Sicherheitszonen in den Kurdengebieten, und dort­hin kann unser Wahlbeobachtungs-Team wahrscheinlich nicht reisen, weil keine Versicherung das Risiko absichern will. Das wiederum stellt die ganze Beobachtungsmission in Frage.

In derselben Türkei, die sich vor nicht allzu langer Zeit als eifrige EU-Beitrittskandidatin verstand, sind Wahlbeobachtungsmissionen nötig: Von aussen gesehen mutet das geradezu absurd an.

Demokratie ist ein ewiger Lernprozess. Und vergessen Sie nicht: 1980 herrschte in der Türkei noch eine Militärdiktatur. Seither hat sie eines der schlimmsten Wahlgesetze: Damit eine Partei ins Parlament ein­ziehen kann, muss sie erst zehn Prozent der Stimmen holen. Damit sollten in erster Linie die Kurden ausgesperrt werden. Doch die HDP, eine pro-kurdische demokratische Volkspartei, hat jüngst gar 14 Pro­zent geschafft und ist mit 80 VertreterInnen ins Parlament eingezogen – ein sensationell gutes Ergebnis. Gemäss den Prognosen wird sie auch am Wahltag vom 1. November auf rund zwölf Prozent kommen und damit im Parlament bleiben. Dies wohlgemerkt, obwohl Erdogans Leute alles gegeben haben, um die Bevölkerung einzuschüchtern und mög­lichst viele Wahlberechtigte davon abzuhalten, an die Urne zu gehen. Trifft die Prognose zu, dann kann das Fazit nur lauten, dass die Türkei ein halbes Jahr verloren, viel Goodwill verspielt und erst noch Tote und Verletzte zu beklagen hat.

Ihre letzte Mission wird demnach keine erfreuliche?

Gewiss nicht. Angst lähmt die Demokratie. Zudem finde ich es ver­heerend, dass der Friedensprozess mit den Kurden abgebrochen wurde. Doch es ist auch klar, dass der Syrien-Konflikt für die Türkei belastend ist. Sie hat zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen, was sie bislang sechs Milliarden Franken gekostet hat. Zwei Millionen ist eine hohe Zahl, selbst bei 74 Millionen EinwohnerInnen: Europa beispiels­wei­se fällt ja schon wegen einer halben Million Flüchtlinge fast aus­ein­ander – und schaut man in den Libanon, dann müssten wir in der Schweiz, wollten wir vergleichbar viele Flüchtlinge aufnehmen, zwei Millionen Menschen bei uns willkommen heissen.

Sie seien eine «Ikone des Europarats», sagen ihre KollegInnen dort: Wie schwierig wird dieser Abschied?

Wie gesagt, mittlerweile bin ich froh, dass ich es bald hinter mir habe. Meine zwei letzten Reden sind gelungen, in denen ich aus den drei Katastrophen der letzten Monate die notwendigen Reformen in der EU und Europas entwickeln konnte: Die humanitäre Katastrophe, die den Griechinnen und Griechen nach der Finanz- und Schuldenkrise ange­tan wurde; jene der vielen Flüchtlinge, die übers Mittelmeer der auch von uns wirtschaftlich mitverantworteten Not nach Europa entkommen wollen und schliesslich die Flüchtlinge aus Syrien, die einem völlig überflüssigen Krieg entfliehen, gemäss den Kriterien der Genfer Kon­vention ganz klar Flüchtlinge sind – und die trotzdem vor den Toren Europas strandeten, und vorerst mit Tränengas, Stacheldraht und Po­lizei abgewiesen werden sollten. Diese Ursachen und die Lehren, die wir daraus ziehen müssen, werden nicht nur den Europarat weiter be­schäftigen, sondern auch mich.

In welcher Form?

Nächstes Frühjahr erscheint ein neues Buch von mir in einem Berner Verlag, mit 60 Texten aus 30 Jahren zur direkten Demokratie in der Schweiz und weit darüber hinaus. Zudem werde ich Artikel und Repor­tagen verfassen. Von den 200 Mosaiksteinchen zur «Demokratie als Gesamtkunstwerk», die ich noch bis Ende Jahr in meiner Kolumne in der Tageswoche weiterführen darf, habe ich schon einige entwickelt. Sie werden als Buch, auf Deutsch und auf Französisch, im Jura er­scheinen. Weiter werde ich mich vermehrt um Lehraufträge bemühen, vor allem anständig bezahlte, da ich nach all den Jahren im Nationalrat nur auf eine unterdurchschnittliche Pension komme und wohl bis 90 arbeiten werde. Schliesslich bemühe ich mich auch in den USA um Stipendien zur Erarbeitung von Studien zur Reform der Europäischen Union und wie sie sich von der Geschichte anderer Integrationsprozesse inspirieren lassen kann.

Was bleibt sonst von 24 Jahren Nationalrat?

Unendlich viel. Als Lehre: Man muss von zwei, drei Themen so viel verstehen, dass man sich in ihnen wirklich zuhause fühlt. Natürlich braucht man die Fraktion, aber man muss seine Themen haben, um etwas verbessern – und man muss damit leben können, wenn sie in der veröffentlichten Darstellung kaum mehr vorkommen.

Mit welchem Thema ist es Ihnen so ergangen?

Mit meinem Hauptthema, der direkten Demokratie. Es ist bekannt, dass die abtretenden Ständerätinnen Christine Egerszegi von der FDP und Verena Diener von der GLP zum Abschluss ihrer Zeit im Parlament noch ein paar Scoops in Form von wegweisenden Kompromissen landen wollten. Den AHV-Scoop in der sozialpolitischen Kommission haben sie verwirklicht, doch mit jenem in der staatspolitischen Kom­mission zur dringenden Reform der direkten Demokratie sind sie gescheitert.

Und Sie kennen die Gründe dafür?

Es gibt nur einen: Bei der AHV kannten sie sich sehr gut aus, beim Thema direkte Demokratie nicht. Dort mussten sie sich auf Experten verlassen, und von denen sagte jeder etwas anderes. Damit war der Misserfolg programmiert. Dabei wird das Thema immer wichtiger, auch in Europa: Zwar gibt es dort keine Volksinitiativen, aber immerhin kann man mit einer Million Unterschriften aus sieben Ländern eine Art Postu­lat starten, also ein Thema lancieren, zu dem die Regierung dann Stel­lung nehmen muss. So kamen etwa Vorstösse gegen die Privati­sie­rung von Wasser zustande und jüngst jener gegen TISA und CETA. Daran zeigt sich, dass man auch als Schweizer in der EU durchaus demo­kra­ti­sierend wirken kann. Man kann die EU auch reformieren, wenn wir als Land noch nicht drin sind. Das ist auch dringend, denn wir werden die SchweizerInnen erst vom Beitritt überzeugen können, wenn die EU demokratischer und föderalistischer geworden ist. Doch die EU braucht nicht nur mehr Demokratie, die Demokratie braucht auch Europa, wenn sie nicht entmachtet werden will.

Was war früher im Nationalrat anders, besser – oder auch schlechter?

Als ich in den Nationalrat kam, war Roger Blum Inlandchef beim Tagi, und er berichtete so kompetent über die Hintergründe der parlamen­ta­ri­schen Arbeit, dass der Schweiz-Bund fast so gut war wie die damalige Fussball-Berichterstattung. Das hatte Folgen: Die BürgerInnen wuss­ten, was in ihrem Namen passiert, sie konnten das Tun und Lassen ihrer VertreterInnen beurteilen. Heute lässt sich nicht mehr viel über das nationale Parlament lesen, die BürgerInnen können ihre Vertreter nicht mehr beurteilen, der Demokratie entbehrt der Grundlage; dafür kann dann die Kluft zwischen Bürger und Bundeshaus demagogisch bewirtschaftet und manipulativ genutzt werden.

Und die Ratsarbeit selbst, wie hat sie sich verändert?

Im Plenum lässt sich praktisch nie mehr an den Mehrheitsverhältnissen rütteln, wie sie sich in den Kommissionen herauskristallisiert haben. Viele machen sich deshalb auch nicht mehr die Mühe, frei zu reden. Sie lesen ihre Beiträge ab, und wer überhaupt noch im Saal sitzt, hört nicht zu, sondern bedient den Computer, liest Zeitung oder redet mit dem Nachbarn. Die Debatte wird durch die geltenden strengen Regeln zusätzlich zerstückelt, denn anders als etwa im Zürcher Gemeinderat kann man sich nicht einfach per Knopfdruck auf die Rednerliste setzen lassen. Vor allem aber lesen viele ihre Voten nur noch ab, aus dem Parlament wurde ein Legement. Voten, die sie nicht einmal selbst geschrieben haben: Rund 50 Prozent der Manuskripte tragen offenbar, so sagte mir kürzlich ein ehemaliger Nationalratspräsident, Briefköpfe von Organisationen, von Economie Suisse bis zum Bauernverband.

Früher hatten die ParlamentarierInnen das Sagen, heute die LobbyistInnen?

Von Lobbying zu reden ist noch nett: Heutzutage kauft man sich Par­la­mentarierInnen, indem man ihnen 50‘000 oder auch 100‘000 Franken Jahreslohn anbietet, wenn sie PräsidentIn, Vize oder Geschäftsführer der eigenen Organisation werden. Und so sitzen Leute im Ratssaal, die sich nicht mehr primär um das Allgemeininteresse bemühen, sondern primär auf die Interessen der Versicherungsindustrie, der Kranken­kas­sen, der Weissmehlvereinigung oder der Futtermittelproduzenten fixiert sind. Das ist nicht nur schlecht, weil die Demokratie darunter leidet, sondern es kommt uns letztlich auch teurer zu stehen, als wenn wir unseren ParlamentarierInnen einen anständigen Lohn zahlen würden.

Was wäre das in Franken?

Ich denke an den Lohn eines Gymnasiallehrers im Kanton Zürich, also etwa 150‘000 Franken. Dann könnten sich die ParlamentarierInnen auf das konzentrieren, wofür sie gewählt wurden; bezahlte Organisations­ar­beit wäre verboten, und sie hätten sogar noch Zeit, alle Unterlagen zu lesen … Denn das ist ja das grösste Problem am vermeintlichen Mi­liz­parlament: Es fehlt die Zeit, sich einzulesen. Wer von etwas keine Ahnung hat, ist normalerweise dagegen, dass sich etwas verändert, und so müssen wir uns nicht wundern, wenn gewisse Reformen erst gar nicht mehr thematisiert werden können.

Zum Beispiel Ihre Hauptthemen Demokratie, Europa und Aussenpolitik?

Die Demokratie wurde in den letzten 30, 40 Jahren tatsächlich zuneh­mend entmachtet. Wir brauchen dringend eine transnationale demo­kratische Verfassung und einen föderalistischen europäischen Bun­des­staat, um diese Erosion aufzufangen.

Revolutionäre Ideen waren aber auch früher kaum mehrheitsfähig …

Das hat überhaupt nichts mit revolutionär zu tun, sondern dies war die ursprüngliche Idee hinter dem Europarat. Er sollte anno 1950 die euro­päische Verfassung entwerfen. Das hat nicht geklappt, worauf man sich einigte, die Verfassung durch Verträge sowie die Politik durch die Wirt­schaft zu ersetzen und statt die Bürger die Regierungen voraus­zu­schicken. Was als Umweg zum Ziel der gemeinsamen Verfassung gedacht war, hat sich dann aber als so erfolgreich herausgestellt, dass man die ursprüngliche Methode aus den Augen verloren hat. Mit dem Resultat, dass Europa heute zwar wirtschaftlich gut integriert ist, politisch aber eher uneins ist und als Elitenprodukt verstanden wird, dem es an der Demokratie mangelt. Sowohl bei der Finanzkrise als auch aktuell in der Flüchtlingskrise setzen sich nun Angela Merkel und François Hollande ins Zentrum, nationalisieren die Regierung und marginalisieren die zu schwach fundierten europäischen Institutionen. Das wäre etwa so, wie wenn die Schweiz keinen Bundesrat hätte und dafür von den Regierungspräsidenten der Kantone Zürich und Bern regiert würde.

Was war bis Dato Ihr grösster politischer Erfolg?

Optimal gelungen ist die Uno-Abstimmung anno 2002. Mein Basler Ratskollege Remo Gysi wollte ursprünglich nur einen parlamen­ta­ri­schen Vorstoss machen. Ich entwarf dann die Uno-Initiative, aber ich nahm mich auch wieder zurück, als mein Name nicht im Vordergrund stehen durfte, denn sonst wäre die Initiative sicher abgelehnt worden. Die Kunst der Politik besteht eben auch darin, sich selber nicht zu wichtig zu nehmen.

Warum musste unbedingt eine Initiative her?

Über den Beitritt zur Uno musste erneut das Volk abstimmen können, denn nur das Volk sollte das Volk von 1986 korrigieren, als nur knapp 25 Prozent Ja gesagt hatten zur UNO. Wobei die Prozentzahl allein noch nichts heissen muss: Bei der GSoA-Initiative für eine Schweiz ohne Armee, über die 1989 abgestimmt wurde, waren es 35,6 Prozent, aber es war die erfolgreichste Niederlage aller Zeiten.

Was ist Ihnen weniger gut gelungen?

Ich bin immer noch der Meinung, dass auch die Qualitätspresse als Service Public aus dem Topf für Radio- und Fernsehgebühren un­ter­stützt werden müsste, beziehungsweise das, was sie für die politische Meinungsbildung und Debatte tut. Das braucht auch noch manche Anstrengung wie die Transparenz und die öffentliche Finan­zie­rung von Parteien und Komitees. Transparenz ist vor allem Mittel zum Zweck, aber sie ist die Bedingung dafür, dass öffentliche Gelder investiert werden können und so mehr Fairness in den politischen Wettbewerb kommt. Das alles gehört wie die politische Bildung zur Infrastruktur der Demokratie, die dringend der Erneuerung und Erweiterung bedarf.

Damit bekäme auch die SVP öffentliche Gelder.

Natürlich, da sehe ich kein Problem, im Gegenteil: Seit die SVP auf den Mann oder die Frau spielt, haben wir die Situation, dass der einzelne Mensch nicht mehr vor der Mehrheit geschützt ist – denn die Mehrheit darf nicht über Grundrechte von Minderheiten abstimmen. Um dem zu kontern, was die SVP mit Geld aus intransparenten Quellen anrichtet, müssen wir in der Verfassung die Gültigkeitsvoraussetzungen für Volksinitiativen verfeinern. Dann wäre es möglich, dass der Teil einer Initiative, der Grundrechte von Minderheiten in Frage stellt, für ungültig erklärt würde; abgestimmt würde dann nur noch über den Rest der Initiative, der sich dann bei einem Ja auch verwirklichen lässt und nicht vor der EMRK oder vor den Gerichten scheitert.


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