30. Sept. 2015
Dok. 13872
Addendum I,
13872 Addendum II,
Dok. 13883
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Europa darf die Menschen nicht noch mehr entmachten
Andreas GROSS, Schweiz, SOC
Herr Präsident,
meine Damen und Herren!
Die Bezeichnung «Progress Report» oder «Rapport d’activité» ist eigentlich ein Euphemismus. Was wir in den letzten drei Monaten erlebt haben und was uns in allen Gremien (dem Büro, den Kommissionen) beschäftigt hat, sind drei Katastrophen. Besser wäre die Bezeichnung «Desaster-Bericht»!
Wir müssen uns damit auseinandersetzen, weshalb es dazu gekommen ist, warum wir diese Krisen nicht ohne humanitäre Katastrophen bewältigen konnten und was wir daraus lernen können. Das möchte ich in meiner Einführung tun. Für alle Details verweise ich Sie auf die schriftlich vorliegenden, sehr ausführlichen Berichte, in denen ausgeführt wird, wie wir versucht haben, dies zu bewältigen.
Am Ende der Juni-Sitzung befanden wir uns mitten in der humanitären Katastrophe, welche Griechenland in der Folge der Finanz- und Schuldenkrise erfasst hatte. Uns lagen Bilder und Berichte aus Griechenland vor, die eine in Europa bisher unvorstellbare Situation zeigten. 30-40% der Griechen sind verelendet, und das in Folge einer Art der Krisenbewältigung, zu der sie nichts zu sagen hatten.
Dagegen wehrten sich die Griechen: Bereits im Januar wählten sie eine Oppositionsregierung, die erst in einem Volksentscheid und nun im September erneut bestätigt wurde. Doch letztlich konnten sie an der Art, wie sie behandelt wurden, nichts ändern, weil die Demokratie nicht bis dorthin reicht, wo darüber entschieden wird, wie mit den Menschen umgegangen wird. Das ist einer der Punkte, die ich aufnehmen möchte.
Frei sein heisst ja, dass man über sein eigenes Leben mitentscheiden kann, und die Demokratie sollte die Institutionen und Verfahren dafür zur Verfügung stellen. In der Griechenlandkrise hat das nicht funktioniert.
Zweitens waren wir im Juni immer noch bei der Bewältigung der Flüchtlingswelle, die vor allem über das Mittelmeer nach Europa kam; bereits im ersten Halbjahr 2015 waren es etwa 300‘000 Menschen. Das Mittelmeer wurde zu einem Massengrab: Etwa 1% der Flüchtlinge ertrank - eine absolute Katastrophe und Europas unwürdig.
Man darf nicht sagen, alle diese Menschen seien Wirtschaftsflüchtlinge gewesen. Zudem haben wir auch gegenüber Wirtschaftsflüchtlingen eine Verantwortung. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass der Kapitalabfluss aus Afrika nach Europa jährlich 50 Milliarden Dollar beträgt – viel mehr, als alle Zahlungen für Entwicklungshilfe, die wir nach Afrika schicken.
Oft verkaufen wir hoch subventionierte Landwirtschaftsgüter nach Afrika, sodass die Menschen dort nicht in der Lage sind, ihre eigenen Produkte im Inland so zu verkaufen, dass sie davon leben können.
Das heisst also, auch diese katastrophalen Zustände, die wir nicht in einer menschenwürdigen Art bewältigen können, haben auch mit unserem eigenen Verhalten zu tun, und wir fühlen uns ohnmächtig, die Ursachen, welche diese Flüchtlingsströme auslösen, zu beeinflussen.
Zu diesen beiden Krisen kam eine dritte: Plötzlich waren es nicht mehr nur einige Tausend Menschen, die bis an die Tore Europas vorgestossen waren, sondern gegenwärtig etwa eine halbe Million. Es handelt sich um eindeutige Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die in Folge von rein politischen Aktivitäten fliehen mussten und absolut die Kriterien der Genfer Konventionen erfüllen.
Dennoch wurden sie nicht aufgenommen, sondern mit Tränengas, Stacheldraht und Polizei von Europa abgewiesen. Zunächst stritten die Regierungen darüber, wie vorzugehen sei, und liessen unterdessen die Flüchtlinge im Elend. Das änderte sich erst, als, vor allem in Deutschland, die Zivilgesellschaft zu reagieren begann. Erst dann schwenkte die Regierung um und entwickelte eine «Aufnahmekultur».
Nachdem viele Menschen aufgenommen wurden, ist jetzt schon wieder die Rede davon, dass die Aufnahme beschränkt ist. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Türkei mit ihren 74 Millionen Einwohnern bereits zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, und dass der Libanon, gemessen an seiner Einwohnerzahl, 25% Flüchtlinge hat, Jordanien etwa 10%. Europa dagegen ist nicht einmal fähig, mit einer halben Million umzugehen!
Das zeigt m.E., dass wir in Europa nicht über die Institutionen verfügen, die wir brauchen, um dem Willen der Menschen gerecht zu werden und jene in der Menschenrechtskonvention festgelegten Werte zu garantieren, die wir am Sonntag predigen und auf die wir stolz sind, nämlich, dass jeder Mensch, wenn er europäischen Boden betritt, geschützt ist und würdig behandelt werden muss, so, wie wir das für uns selbst beanspruchen.
Auch fehlen uns die Institutionen, die uns erlauben, mit Konflikten unter uns so umzugehen, dass sie nicht riskieren, Europa auseinander zu sprengen.
Wir brauchen also eine neue Ordnung in und ausserhalb der EU, um diese Ansprüche zu realisieren. Jetzt sage niemand, das gehe den Europarat nichts an! Der Europarat war ursprünglich als verfassungsgebende Versammlung für die europäische Integration gedacht. Nach der Erfahrung des Krieges wollten von Anfang Einige hier die Demokratie auch auf transnationaler Ebene einrichten. Diese Notwendigkeit wurde durch die Globalisierung, und erst recht den Euro, unterstrichen.
Das Problem des Euro ist es eben, dass das fehlt, was es braucht, um unsere Gemeinschaftswährung nicht zu einem Spalter zu machen, sondern zu einem nutzbringenden Instrument für alle: z.B. die gemeinsame Wirtschafts- und Steuerpolitik. Diese Einrichtung der Demokratie auch auf europäischer Ebene ist notwendig, damit wir diese Institutionen bilden können, die die entsprechende Legitimität haben.
Denn das überzeugt die Menschen: Wenn sie mit demokratischen Mitteln auch auf europäischer Ebene Einfluss nehmen können, sind sie nicht gegen mehr Europa. Wenn jedoch mehr Europa bedeutet, dass die Menschen noch mehr entmachtet werden, dass noch mehr über ihre Köpfe hinweg und nicht in ihrem Interesse entschieden wird, dann sind sie dagegen.
Dieses Dilemma hat sich innerhalb der letzten drei Monate dreimal gezeigt. Deshalb sollten wir endlich den Mut haben, dieses Problem zu erkennen und anzupacken.
Es gilt, nicht nur Václav Havel nach seinem Tod dafür zu loben, dass er sagte, wir kommen nur weiter, wenn wir uns auch getrauen, die Sterne am Himmel zu sehen – wir müssen den Mut aufbringen, dies auch in unsere Arbeit einfliessen lassen.
Das ist die Lehre, die wir aus den drei humanitären Katastrophen der letzten drei Monate ziehen können.
Vielen Dank.
Kontakt mit Andreas Gross
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