24. Juli 2015

TagesWoche, Basel

XX. Demokratie-Kolumne

Transnationalisierung – der Schlüssel
zur Zukunft der Demokratie



Jetzt haben es die meisten gemerkt: Nicht der Euro ist das Problem, sondern die Demokratie und die demokratische Basis, die ihm fehlen. Diese transnationale Demokratie wäre nicht das Ende der nationalen Demokratien, sondern deren notwendige Erweiterung; das jüngste aber fürs ganze Gesamtkunstwerk absolut notwendige Steinchen.

Einer der berechtigten Einwände gegen das Notbremse-Plebiszit (TaWo vom 3. Juli) des verzweifelten griechischen Ministerpräsidenten Tsipras zum Sommerbeginn über die Form der Bewältigung der Finanz- und Schuldenkrise fundierte auf einem demokratiepolitischen Grund­prin­zip: Alle, die von einer Entscheidung betroffen sind, sollten in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Also nicht nur die mehr­heitlich von der Verelendung bedrohten Griechinnen und Griechen, sondern auch all die anderen Europäerinnen und Europäer, die mit ihren Steuergeldern die Mittel erarbeitet haben, mit denen Griechenland «geholfen» und/oder mit denen für die Kredite zugunsten Griechen­lands gebürgt werden soll. Das griechische Plebiszit vom ersten Juli-Sonntag verschaffte aber nur den Griechen Gehör. Die BewohnerInnen der betroffenen 18 zur Euro-Zone gehörenden Länder blieben unge­hört, beziehungsweise mussten sich mit den sehr empathischen Beurteilungen durch ihre Regierungen zufrieden geben.
[Der Setzer fand diese Beurteilungen allerdings geprägt vor allem durch Ahnungslosigkeit und Zwängerei vor allem Seitens Deutschlands, Frankreichs und Englands, dann, etwas sichtbarer, durch Rücksichtslosigkeit, nationalen Egoismus und Doppelmoral sowie blanke Machtpolitik.]

Die konservativen Kritiker Tsipras verschenkten freilich die demokra­ti­sche Qualität ihres Einwandes, als sie gegen die Volksabstimmung in Griechenland wetterten und lieber gar keine Betroffenen hören wollten. Sie zogen gar keine Demokratie für alle der real existierenden plebis­zi­tä­ren für die Griechen allein vor. Demokratischer wäre gewesen, statt nur die Griechen alle anderen Euro-Europäer zum Bürgerentscheid einzuladen. Wozu es natürlich mehr bräuchte als 18 weitere Plebiszite. Es würde transnationale Institutionen und Verfahren brauchen, welche transnationale Bürgerinnen- und Völkerentscheide ermöglichen würden, seien diese nun EU- oder Eurolandweit. Zum Unterschied nur so viel: Von den 28 EU-Staaten haben sich nur Grossbritannien, Dänemark und Schweden (letztere beide in nationalen Referenden) darauf fest­ge­legt, den Euro nicht zu übernehmen – die sechs anderen dürften, ja müssten ihn gar sich zu eigen machen, sobald sie die entsprechenden volkswirtschaftlichen und fiskalischen Konvergenzkriterien einhalten können (jährliche Verschuldungsrate, Verhältnis der nationalen Verschuldung zum Bruttoinlandprodukt).

Der amerikanische Historiker und Osteuropa-Spezialist Timothy Snyder brachte es in der neuesten Ausgabe der New York Review of Books (NRB) auf den Punkt: «Die politische Seite der europäischen Krise ist der Mangel an Demokratie». Snyders Argument: «Heute können wir sehen, dass es keinen Sinn machte, eine Währungsunion (das Euro­land) zu bauen ohne fiskalische Union, das heisst ohne substanzielles gemeinsames europäische Budget. Eine Fiskalunion würde aber mehr europäische Demokratie nötig machen, um Ausmass und Form des Einnehmens über gemeinsame Steuern und der Ausgaben zu recht­fertigen.»

Der Wirtschaftsweise und Nobelpreisträger Paul Krugman ist noch härter. Unter dem Titel «Europas unmöglicher Traum» schrieb er anfangs Woche in der New York Times: Was heute in Griechenland, Spanien und Portugal passiert, sei die Folge davon, wenn «selbst­ge­nüg­same Politiker in Brüssel, Berlin und Paris das Einmaleins und historische Lektionen vergessen» und 25 Jahre lang glauben, Europa auf der Basis von «fantasy economics» gestalten zu können. Es sei von Anfang an deutlich gewesen, dass eine Währungsunion ohne politische Union ein «sehr zweifelhaftes Projekt» sein würde; und eine politische Union bedarf eben einer Demokratischen Union, einer demokratisch verfassten Union, mit echten Entscheidungsbefugnissen von re­prä­sentativen direkt gewählter europäischer parlamentarischer Institu­ti­onen.

Statt wie von einigen vielleicht erhofft, in ihrem Sog die politische Ver­einigung und damit die Demokratie nach sich zu ziehen, wurde der Euro zum Motor der Desunion der Europäischen Union. Snyder: «Die Krise Griechenlandes führte zu einem Zusammenstoss der ver­schie­de­nen Demokratien Europas, in welcher die Schwachen sich den Starken unterordnen müssen. Die Griechen bekommen die Politik nicht, für die sie sich (zweimal) aussprachen; die Deutschen und Finnen und Slowaken – hätten sie denn können – hätten sich ebenso wenig für diese Politik ausgesprochen. Ohne Europäisches Budget sind solche Krisen unausweichlich; ohne Demokratie fehlt allen Lösungen die politische Legitimation.»

Von Anfang an wollten in den 1940er Jahren die radikalsten der euro­pä­ischen Pioniere die europäische Integration auf demokratischer Grund­lage verfassen. Doch Philosophen wie der Neuenburger Denis de Rougement wurden nicht ausreichend gehört oder überhaupt nicht ver­stan­den, als er mit Blick auf die Fähigkeit, Frieden zu schaffen meinte, man solle keine «Souveränität verteidigen, die man längst nicht mehr habe». Statt einer politischen Verfassung bekam Europa 1957 bloss Wirtschaftsverträge; statt Europa auf die Bürger abzustützen, machte man Regierungen zu deren Hauptakteure.

Das ging gemäss dem spanischen Philosophen Cesar Rendueles so lange gut, als der europäische Wohlfahrtstaat als «Bollwerk gegen die sowjetische Bedrohung» (Süddeutsche Zeitung vom 21. Juli) ebenso schnell wuchs wie die Integration der europäischen Märkte. Bis in den 1990er Jahre nach dem Einsturz der UdSSR marktliberale Positionen zu dominieren begannen, überall nur noch dereguliert und privatisiert wurde. 1992 bei der Schaffung des Euro war die Benelux-Staaten und Kommissionspräsident Delors zu schwach, um den Euro in eine Poli­ti­sche Union zu verpacken; Mitterand und andere waren an einer europäischen Demokratie nicht interessiert.

Heute haben nun auch die europäischen Regierenden gemerkt, was dem Euro fehlt. Doch die einen (Merkel und die Osteuropäer) wollen die notwendigen europäischen fiskalischen Kompetenzen in den Händen der nationalen Minister und Ministerpräsidenten behalten; andere wie der Kommissionspräsident Junker möchten sie in der Hand der Kom­mis­sion. Frankreichs Präsident Hollande wiederum will «eine euro­pä­ische Wirtschaftsregierung, ein europäisches Budget und ein Euro-Parlament» und möchte die Sommerpause für entsprechende Sondierungen nutzen. Dritte wiederum wie der genannte spanische linke Philosoph Rendueles glaubt immer noch «die einzige Hoffnung» liege darin, dass die EU-Länder ihre Souveränität zurückerlangen, die der Markt an sich gerissen hat. Wiederum soll also die nationale Demo­kratie retten, was nur die europäische Demokratie leisten kann. Als ob der transnationale Markt die nationalen Demokratie nicht aus­rei­chend gegeneinander ausgespielt hätte.

Weshalb merken die US-Historiker und Ökonomen aus der Distanz besser, dass es Europa die Transnationalisierung der Demokratie be­darf um auszugleichen und zu integrieren sowie dem längst trans­na­tio­na­len Markt den Respekt für die Würde des Menschen (und der Natur) aufzuzwingen und entsprechende Grenzen und Regeln setzen zu können? Denn nicht die Demokratie droht zum «Auslaufmodell» zu werden, wie Tages-Anzeiger/Bund im Titel über der Abschieds­vor­le­sung des Zürcher Historikers Jakob Tanner fälschlicherweise sugge­rierten (19.7.2015), sondern nur die nationale Demokratie. Vermag sich die Demokratie zu transnationalen, beispielsweise indem sie Europa föderalistisch verfasst, und so die regionalen und nationalen Demo­kra­tien erweitert statt wie die Vertrags-EU heute behindert, dann hat sie mehr Zukunft als Geschichte. Denn nicht nur die EU und der Euro benötigt Demokratie, um im Interesse der Menschen zu wirken; die Demokratie braucht auch die europäische Ebene, um die Macht der Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck bringen zu können.


Kontakt mit Andreas Gross



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