5. Juli 2015

Schweiz am Sonntag

Ohne echte Demokratie kann eine Währung nicht integrieren, sondern nur spalten - sie macht aus der Union eine Desunion


Welche Folgen hat die stellenweise doch recht grelle Kritik an den EU-Institutionen, die Teile der Schweizer Linken in diesen Tagen ausge­hend von der Austeritätspolitik äussern, für das pro-europäische Lager hierzulande?

Die Antwort liegt in der genaueren Umschreibung dessen, was sie «proeuropäisch» nennen und der Nachfrage, ob denn ein Projekt, das man als absolut notwendig erachtet, nicht gleichzeitig auch kritisiert werden kann. Für mich heisst «pro-europäisch», dass man überzeugt ist von der Notwendigkeit der europäischen Integration und der europäischen Gemeinschaft. Nur in und mit ihr lassen sich die wesentlichsten Probleme unserer Zeit lösen. Und nur und mit ihr können wir verhindern, dass die Demokratie weiter entmachtet und die Politik auf den Versuch reduziert wird, dem Markt zu hofieren und optimalste Bedingungen für die Verwertung des Kapitals herzustellen. Pro-europäisch heisst aber nicht, dass man mit der herrschenden Form und Gestalt der EU einverstanden ist und noch weniger, dass man ihre politischen Inhalte und Schwerpunkte alle begrüsst.

So ist die Basis der EU, die berühmten Verträge, völlig ungenügend und müsste längst durch eine föderalistische Verfassung abgelöst werden, welche von der Mehrheit der Europäer und der Mitgliedstaaten getragen wird. So ist auch nicht der Euro an sich das Problem, sondern die wegen der fehlenden Verfassung und der damit fehlenden echten europäischen Demokratie unzureichende Europäisierung der mit der Wirkung einer Währung verbundenen Steuer-, Fiskal-, und Sozial­po­li­ti­ken. Aber ohne diese Europäisierung kann eine Währung, die so ungleiche Volkswirtschaften wie die griechische und die deutsche umfasst, nicht integrieren, sondern sie spaltet nur noch und macht aus der Union wie heute eine Desunion. Fehlt dazu noch der Wille, in einer Finanzkrise nicht nur die Banken sondern auch die Menschen zu retten, dann haben wir das gegenwärtige Desaster. Die kritischen Pro-Europäer sind aber überzeugt, dass nur ein Mehr an Europa Europa aus diesem Desaster führen kann, dass dieses Mehr aber nur möglich ist, wenn Europa gleichzeitig umgebaut wird und die Demokratie, die Macht der Bürgerinnen und Bürger, dabei vermehrt und ausgebaut und nicht weiter abgebaut wird.

Hilft es, die EU als neoliberale Organisation anzuprangern und in die Nähe eines Kolonialregimes zu stellen - wenn man doch vor der Situation steht, dass das Ansehen der EU schon heute reduziert ist?

Man fördert das Ansehen der EU nicht, wenn man ihr einfach schmei­chelt und die Augen verschliesst vor den enormen Fehlkonstruk­tionen, die sie sich leistet; beispielsweise eben mit ihrer Vertragsbasis, ihrer exekutiven Hegemonie oder der unzureichenden Währungsunion ohne politische Union. Doch Sie haben Recht, wir müssen diese Kritik immer verbinden mit der Einsicht, dass die EU unverzichtbar ist und wir ohne sie noch viel schwierigere und grössere Probleme hätten. Wir müssen zeigen, dass wir kritisieren, weil wir lieben und weil wir wollen, dass das, was nötig ist, endlich besser gemacht wird und dazu Verände­run­gen in der EU und mehr Europa nötig sind, dass dies aber nicht länger zu Lasten der Demokratie geschehen kann.

Läuft man da nicht unweigerlich in Widersprüche hinein, die spätestens dann sichtbar werden, wenn die Schweizer Linke nächstes Mal begrün­den muss, weshalb eine Vertiefung und Annäherung an die EU sinnvoll sei?

Ich bin mir dieser doppelten Aufgabe seit 20 Jahren bewusst und ver­su­che diese Doppelstrategie seit 1992. Denn wir können die Unzuläng­lich­kei­ten nicht verstecken, die SchweizerInnen kennen diese viel zu gut. Doch sie wissen nicht, welcher Segen die EU für sie darstellt, wie sehr wir sie nötig haben und weshalb sie eben reformiert und demo­kra­tisiert werden muss. Deshalb ist immer der zweite Teil auch nötig im öffentlichen Gespräch. – Auch das unterscheidet uns schliess­lich von Putin, dessen Kritik die gleiche Schärfe hat wie jene von Wermuth oder die gleiche Tonlage, ja sogar die gleiche Wortwahl wie jene von Lang, ohne dass er aber sagt, wie nötig die EU ist und wie nötig deren Umbau wäre. Denn würde er dies auch sagen, dann würden ihn die Leute an sein eigenes Reich verweisen, dass noch viel fundamentalere Um­bau­ten nötig hat, damit die Demokratie wieder gefunden werden kann, die Putin verdrängt und verloren hat.


Kontakt mit Andreas Gross



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